Das Bett, Frankfurt, 16.10.2019
„Ich war im Wald und habe Pilze gesammelt, die bringe ich heute Abend den Jungs mit!“, tönte es aus meinem Telefonhörer. Ich musste kurz überlegen, wusste zwar, wer mich da anrief, hatte aber nicht auf dem Schirm, von welchen „Jungs“ er sprach, wieso er ihnen Pilze mitbringen wollte und was am Abend anstehen würde. Mein Telefonpartner bemerkte meine Verwirrung und polterte los: „ACID MOTHERS TEMPLE! Die durchgeknallten japanischen Heavy-Psych-Spacerock-Junkies spielen heute!“ Okay, nun wurde mir einiges klar – vor allem, um welche Art von Pilzen es sich handeln würde. Doch dazu später mehr. ACID MOTHERS TEMPLE hatte ich fast exakt vor einem Jahr im Frankfurter Dreikönigskeller gesehen, damals waren etwa 40 Besucher vor Ort. Dass die Band nun im Club „Das Bett“ antrat, der Platz für 500 Gäste bietet, machte nur wenig Sinn. Vielleicht vertraute der Veranstalter auf den Hype, den die Japaner bereits seit Jahren in einschlägigen Musik- und Prog-Rock-Magazinen erfahren.
Wenn man eines der illustren, in Regenbogenfarben, Nebel und Sternenstaub getauchten Bandfotos von ACID MOTHERS TEMPLE betrachtetet, so möchte man meinen, dies seien Veteranen der Kraut-Rock-Ära, die in den frühen 1970er Jahren von deutschen Acts wie AMON DÜÜL, FAUST, TANGERINE DREAM und GURU GURU begründet wurde. Doch dem ist nicht so, denn einige Mitglieder von ACID MOTHERS TEMPLE & THE MELTING PARAISO U.F.O. dürften zu dieser Zeit noch nicht einmal auf der Welt gewesen sein.
Aus der Taufe gehoben wurde das Projekt, das zunächst lediglich unter dem Namen ACID MOTHERS TEMPLE firmierte, erst im Jahr 1995 in Nagoya. Multitalent Makoto Kawabata (Foto oben), der Kopf und Gründer, ist indes seit den späten Siebzigern mit diversen japanischen Lineups wie BAROQUE BORDELLO, EROCHIKA, MAINLINER und MUSICA TRANSONIC aktiv, war mal Mitglied der legendären britischen Prog-Rock-Formation GONG und musizierte auch schon mit GURU GURU-Frontmann Mani Neumeier.
Bereits in frühester Jugend mit den elektronischen Klangexperimenten von Karlheinz Stockhausen konfrontiert, reifte in Kawabata die Vision, jene intuitive Musik mit den Rocksounds von LED ZEPPELIN und DEEP PURPLE zu kombinieren. Diese Vision lebt er nun seit 1978 in den genannten und vielen weiteren Projekten aus. ACID MOTHERS TEMPLE & THE MELTING PARAISO U.F.O. ist dabei, so betont Kawabata stets in Interviews, keine Band, sondern vielmehr eine Familie oder ein Kollektiv wie es einst AMON DÜÜL waren, das aus gut 20 Musikern besteht. Und wie es in jeder Familie der Fall ist, haben ihre Mitglieder auch mal das Bedürfnis, eigene Wege zu gehen und sich selbst zu verwirklichen.
So sind denn ACID MOTHERS TEMPLE bereits je nach Besetzung unter diversen namentlichen Zusätzen in Erscheinung getreten, darunter ACID MOTHERS TEMPLE & THE COSMIC INFERNO, ACID MOTHERS TEMPLE & THE PINK LADIES BLUES und ACID MOTHERS TEMPLE & THE INCREDIBLE STRANGE BAND. Jede der Inkarnationen unterscheidet sich musikalisch voneinander, mal ist das Ganze ein bisschen heavier und hardrockiger, mal begibt man sich in Jazz- und Percussion-Gefilde und mal – wie im Falle des gestern gastierenden Lineups, wird‘s psychedelisch und spacig.
Insgesamt war Kawabata bereits an mehr als 100 Veröffentlichungen beteiligt, bei denen er einer bestimmten Philosophie folgt: Ihm geht es nicht darum, sich in der Musik selbst zu verwirklichen, er sieht sich vielmehr als Musiker, der vorhandene Sounds und Klänge aufgreift und wie ein „Sender“ ans Publikum weiterleitet. Als größte Einflüsse nennt der Gitarrist dabei Frank Zappa, Captain Beefheart und Ritchie Blackmore, wobei er von Letzterem weniger dessen Spiel als vielmehr seine Ausstrahlung und seinen Kleidungsstil bewundert. Aus diesem Grund steht Kawabata auf dem Podest stets rechts und trägt immer Schwarz.
Als ich gestern den Saal betrat, sah ich meine Befürchtungen bewahrheitet, denn es hatten sich gerade mal zwischen 50 und 60 Besucher versammelt. Das lag aber nicht an der Qualität des Quintetts, sondern war eher der Tatsache geschuldet, dass das Gros der Liebhaber von psychedelisch-spacigem Krautrock inzwischen bereits 60 oder gar 70 Jahre alt ist und sich an einem Mittwochabend nicht unbedingt auf die Reise in einen abgelegenen Club begibt.
Die Band selbst schien kein Problem mit den nur wenigen Gästen zu haben, einige Musiker saßen entspannt am üppig bestückten Merchandise-Tisch und unterhielten sich angeregt mit den Fans. Als mein eingangs erwähnter Kumpel seine Tüte mit den Pilzen auspackte, begannen die Jungs zu strahlen. Es folgte eine Fachdiskussion über Pilze, an der ich mich nicht beteiligen konnte, denn meine diesbezüglichen Kenntnisse beschränken sich auf Dosenchampignons vom Discounter. Ich freute mich vielmehr auf den Gig, der wenig später begann.
Live stehen bei ACID MOTHERS TEMPLE & THE MELTING PARAISO U.F.O. (das Kürzel steht für Underground Freak Out) neben Kawabata Keyboarder Hiroshi Higashi und – seit 2017 mit von der Partie – der Sänger und zweite Gitarrist Tsu Jyonson im Mittelpunkt. Gemeinsam bildeten sie auf der Bühne eine optische Achse, bei der jeder Musiker einen Blickfang für sich darstellte: Kawabata ließ sich von seinem eigenen Spiel mitreißen und erging sich in allerlei schrägen Posen, Hiroshi versetzte sich mit seinen schrägen Synthie-Klängen in andere Sphären und Tsu wirkte mit seiner Perücke und seinem Kleid, als wäre er einem Raumschiff entstiegen, das vor der Halle geparkt hätte.
Ergänzt wurde das Quintett am gestrigen Abend durch den Bassisten Wolf und den Schlagzeuger Nani, die erst vor einigen Jahren zur Gruppe stießen und beide deutlich jünger sind als ihre Mitstreiter. Musikalisch ging‘s nicht weniger schräg zu: Die Show begann mit einem brachialen Instrumental-Gewitter, das auch von den SWANS hätte stammen können, aber nur wenige Minuten andauerte. Die Sound-Attacke war so etwas wie der einleitende Gong, der den folgenden Spacetrip eröffnete und alle Anwesenden von einem Moment auf den nächsten in surreale Klanglandschaften entführte.
Die Setlist umfasste nicht einmal ein halbes Dutzend Songs, von denen sich aber einige über bis zu 25 Minuten erstreckten, da sie nicht in ihrer regulären Studioversion dargeboten, sondern frei interpretiert und improvisiert wurden. Ein Gig von ACID MOTHERS TEMPLE & THE MELTING PARAISO U.F.O. ist somit kein Hit-Potpourri, sondern ein 90-minütiges Klangerlebnis, auf das man sich einlassen muss, um es würdigen zu können. Die dargebotenen Sounds variieren dabei von sanften, getragenen Klängen, bei denen man sich wie ein Schmetterling fühlte, der eine blühende Sommerwiese überquert, über manische Passagen, die sich anfühlten, als ob man von einem unsichtbaren Wirbel erfasst und durchgerüttelt wurde, bis hin zu kakofonisch verstörendem Klangterror, der anmutete, als würde der Club gerade von UFOs angegriffen.
Bewusstseinserweiternde Substanzen können beim Genuss der Darbietung durchaus unterstützend wirken, sind aber nicht zwingend vonnöten, da der Sound auch ohne Hilfsmittel eine ganz eigene Magie entfacht. Einem Auftritt von ACID MOTHERS TEMPLE & THE MELTING PARAISO U.F.O. anno 2019 beizuwohnen ist eine Erfahrung abseits heute gängiger Konzertkonventionen, die jedem empfohlen sei, der mal ein etwas anderes Musikevent erleben möchte.
.
Links: http://acidmothers.com/,
https://de-de.facebook.com/acidmotherstempleofficial/,
https://www.instagram.com/acidmotherstempleofficial/,
https://acidmotherstemples.bandcamp.com/,
https://www.last.fm/de/music/Acid+Mothers+Temple
Text: Marcus
Fotos: Eric, https://www.flickr.com/photos/vanreem
Alle Bilder: