Das Bett, Frankfurt, 7.09.2015
Mein Blick wanderte durch die wartende Schar vor dem Eingang des Frankfurter Clubs „Das Bett“. Ich sah ungewöhnlich viele Menschen für diese Uhrzeit (19.45, eine Viertelstunde, bevor der Club öffnete.) Klamottentechnisch dominierte die Nichtfarbe Schwarz, fast jeder hatte eine Zigarette im Mund oder drehte gerade eine. Viele Bandshirts. Typisches Metalpublikum eben. Ein paar wenige Anzugträger, die auch kürzlich bei AGALLOCH waren, vielleicht die Neofolkfraktion. Ladies im Wollmantel und dezentem Hippie-Chic. Alles ähnlich wie bei AGALLOCH. Und doch haben beide Bands des gestrigen Abends, ALCEST aus Avignon sowie deren Label- und Sonstwiebuddies von LANTLôS aus NRW, den Metal schon länger zugunsten von eskapistischem Postrock und esoterischem Hippiegeschwurbel hinter sich gelassen.
Das klingt auf dem Papier vielleicht schlecht (und laut vielen meiner Metal-Kumpels nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Echt), offenbart in meinen Augen jedoch eine stilvolle Transformation zu einem Bewusstseinszustand, den andere in der Kirche oder auf dem Fußballplatz finden mögen. Nur in friedlich. Om Shanti Om, sozusagen. Kein Metal mehr, aber durchaus Metal-affin. Oder, wie solch Sound in der Fachpresse oft genannt wird: Blackgaze, ein Konglomerat aus Black Metal und Shoegaze.
Multiinstrumentalist Neige (eigentlich Stéphane Paut), die Eminenz hinter seinem ehemaligen Solo-Projekt ALCEST, steht als Synonym für diesen Sound und als Innovator dieses Genres, weswegen er 2013 die Ehre hatte, als „Artist in Residence“ auf dem Grenzen-ignorierenden Roadburn-Festival zu spielen – und zwar mit gleich drei Formationen. Eine davon, LANTLôS, bestritt gestern das Vorprogramm.
Ähnlich wie ALCEST ist LANTLôS in erster Linie das Baby eines Mannes – in diesem Fall von Markus „Herbst“ Siegenhort. Auch er spielt diverse Instrumente, auch er schart diverse Live-Musikanten um sich, auch bei ihm dauerte es ein Weilchen, bis er die Musik von LANTLôS auf die Bühne bringen konnte. Neige hatte daran wohl maßgeblichen Anteil, wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, und sang, bzw. krisch 2011 das Album „Agape“ ein. Auf diesem geht es zum Teil weit heftiger zur Sache als auf dem Nachfolger „Melting Sun“ von 2014, von dem während der gestrigen Show hauptsächlich „gegeben“ wurde. Sphärische Gitarrenwände, gleichermaßen einlullend wie befreiend, hochgradig dramatisch und rasiermesserscharf. Aber niemals verstörend, was den Sound beider Bands heute von Combos wie z. B. AMENRA aus Belgien unterscheidet, die sich ansonsten aus ähnlichen Töpfen bedienen. Oder von dem von CELESTE aus Frankreich.
LANTLôS, den meisten ALCEST-Fans also längst bekannt weil dem gleichen Beuteschema entsprechend, hatten vor den Anwesenden leichtes Spiel und überzeugten auf ganzer Linie. Ich hätte mich zwar mehr über die in den USA im Vorprogramm spielende Emma Ruth Rundle von den MARRIAGES als Support gefreut, fühlte mich aber angesprochen genug, nach dem Gig den kompletten LANTLôS-Backkatalog zu erstehen. Schön und gut hörbar. Relevanz, falls man die beim Musikgenuss unbedingt immer braucht, findet jedoch woanders statt.
Das Gleiche lässt sich auch auf ALCEST übertragen, um dem Resumee des Abends hier kurz vorzugreifen. Neige scharte neben seinem Schlagzeuger und dem einzigen anderen, offiziellen ALCEST-Mitglied Winterhalter mal wieder eine Live-Band um sich, die aus verdienten Kumpels besteht, mit denen er in der Vergangenheit bei Formationen spielte wie LES DISCRETS oder (hüstel) PESTE NOIR, die einen mehr als zweifelhaften Ruf in der Black Metal-Szene haben. Wieso sich Neige’s Wege mit dieser Nazicombo so oft und kontinuierlich kreuzten vermag ich nicht zu sagen, ich habe auch nirgendwo irgendwelche Stellungnahmen dazu gelesen. Tatsache ist aber, dass drei Viertel der Besetzung auf der Bühne des Clubs „Das Bett“ selbiges mit dieser geteilt haben – Drummer Winterhalter ebenso wie Bassist Indria.
Wie passt das zum Hippie Neige, zu den Illustrationen des wunderbaren „Shelter“-Albums, bei dem Neige barfuß am Strand herumstolziert, sich an den Fischen erfreut und mit dem Licht der Sonne spielt? Sollte man ihn mal fragen. Ist vielleicht auch schon passiert, bevor ich die Band auf dem Schirm hatte. Wie passt das zu dem kulturell vielseitig Interessierten, der gleichermaßen als Gastsänger bei DEAFHEAVEN fungiert und sich die Shoegaze-Legende Neil Halstead von SLOWDIVE als solchen auf seinen Tonträger holt? Vielleicht habe ich da mal wieder etwas nicht verstanden, was von Provokation und Spiegelung und so, was weiß ich. Ich verstehe nach wie vor auch niemandem, der ernsthaft behauptet, DEATH IN JUNE wären keine Naziband, nur weil die tolle Musik machen und deren einziges Mitglied schwul ist (als wäre das per se ein Widerspruch). PESTE NOIR sind sonst auch kein Thema bei ALCEST, teilen sich aber eben ein paar Musikanten. Dass das in ALCEST-Interviews meines Wissens nach kein Thema ist, kann an meiner Blödheit liegen. Oder an der der Interviewer.
Rein musikalisch gesehen war der Abend jedenfalls großartig und nazifrei. Zu meiner Freude und Verwunderung spielte Neige die dynamischeren und mehr Black Metal-inspirierten Stücke solcher Alben wie „Écailles de Lune“ und „Souvenirs d ún autre monde“ immer noch und bot damit eine ziemlich schöne Mischung aus Raserei und Verträumtheit. Die Leute waren nach knapp 1,5 Stunden bedient und glücklich, Meister Neige war es scheinbar auch. Alles super, eigentlich. Mit einem ganz kleinen, merkwürdigen Beigeschmack.
Links: https://www.facebook.com/lantlos, https://myspace.com/lantlos, https://lantlos.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/Lantlos, http://www.alcest-music.com/, https://www.facebook.com/alcest.official, https://myspace.com/alcestmusic, https://www.reverbnation.com/alcestemusik, http://www.lastfm.de/music/Alcest
Text, Fotos & Clips: Micha
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Ich kenne persönlich alle Mitglieder von Alcest.
Ich kann nur sagen, dass sie überhaupt nichts mehr mit „peste noire „zu tun haben. Nie haben sie die „ideen“ von peste noire geteilt. Man macht eben Fehler wenn man 20 jährig ist. Seit jahren haben sie keine kontakte mehr…
Ich finde es persönlich extrem unfair , dass in dieser review fast die Hälfte des Artikels sich damit beschäftigt. rede mal mit ihnen im klar text! Man reduziert nicht die Qualität eines Konzertes auf vorgefasste Meinungen…
Hallo Deflandre,
danke für deinen Kommentar.
Folgendes möcht ich noch mal hiermit klar stellen.
1: Vorgefasste Meinungen? Vor der Recherche zum Bericht wusste ich überhaupt nichts von Pest Noire bzw. der pesonellen Überschneidung dreier Musiker von Alcest und denen. Ich mag Alcest seit knapp 4 Jahren, habe mir alle Platten gekauft und wäre nie im Traum auf eine Verbindung zu einer Band gekommen, die die arische Weltherrschaft propagiert. Auch in den Berichten in der deutschen und britischen Presse, die ich las, kam das Thema nicht vor.
2: Dass Neige und Co. keinen Kontakt und keine Verbindung mit Pest Noire haben mag ja sein, ich behaupte ja gar nicht das Gegenteil. Durch das Fehlen einer Distanzierung, gerade im Verbund mit einer eskapistischen Musik wie der von Alcest, kann man aber auch nicht automatisch davon ausgehen, dass die Musiker heute anders drauf sind. Du kennst die Musiker? Prima, dann weißt Du mehr als ich.
3: Klartext reden? Das ist ja genau das, was ich mir von den Presseleuten gewünscht hätte. Ich habe kein Interview gemacht, ist auch außerhalb meiner Möglichkeiten. Vielleicht ergibt sich ja noch was.
4: Man macht Fehler mit 20? Klar. Ist aber ein Unterschied, ob man sich mit denen offensiv auseinandersetzt oder ein Mäntelchen des Schweigens drüberwirft.
Ich glaube persönlich ja auch nicht, dass Neige ein Nazi ist – dann hätte der Bericht ganz anders ausgesehen oder es hätte erst keinen gegeben. Ich rufe hier ja nicht zu einem Boykott oder sowas auf. Ich mag aber nicht solch verschleiernden Umgang. Und ich mag auch nicht die blauäugigen Bewunder, die jeden Kratzer am Lack ihrer Idole ignorieren.
Letztendlich beschrieb ich subjektiv, was das alles in mir ausgelöst hat. Und dass wir darüber ins Diskutuieren kommen, ist ja erstmal gar nicht schlecht.
Grüße, micha
Lieber micha ,
zuerst teile ich und bewundere deine politischen Überzeugungen. Es ist mir klar , dass du ein komisches Gefühl beim Konzert hattest.
Aber es ist ein weniger komplizierter als du denkst.
etwas habe ich nicht geschrieben : ich bin der Vater vom schlagzeugspieler “ Winterhalter “ Jean Deflandre. so bin ich bestimmt kein blauäugiger Bewunderer, sondern ein echter Fan von Alcest und ein, wenn es möglich ist, objektiver Vater.
das mit „peste noire “ tragen wir als Schande in unserer Familie. Und das aus gutem Grund:beide Großväter von Jean haben als Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg gegen die nazis gekämpft, daraus kannst du schließen wie es bei uns politisch steht.
Sie haben sich als Jugendliche kennen gelernt und zusammen gespielt.
Die gemeinsame karriere war kurz : 3 konzerte in frankreich ( bei denen Neonazis Indria fertig gemacht haben) eine Cd , und eine tour in kanada. Sobald sich der Sänger ( seinen Namen habe ich vergessen…)
als nazischwein entpumpt hat , war es , unter heftigem Streit ,Schluss. Wie du weißt, vergisst das Netz nie etwas . klar , wenn du googelst findest du „peste noire“ aber seit jahren tragen sie diese Schande und haben bestimmt keine lust immer wieder daran erinnert oder darauf reduziert zu werden. in verschiedenen Interviews haben sie sich ganz klar distanziert. Aber das liegt nun hinter ihnen. Es tut mir , und ihnen weh dauernd daran erinnert zu werden.
ich zweifele nicht daran, dass du meine Gefühle und die der Band verstanden hast. ich wünsche dir ihre Musik und ihre Konzerte ohne blödes Gefühle weiter zu geniessen.
mach weiter so
Grüße
Deflandre
PS : es war für mich nicht leicht, auf Deutsch,Gefühle richtig zu beschreiben, hoffentlich hast den Sinn dieser mail verstanden.
Hallo Deflandre,
Danke für Deine ausführlichen und sehr überzeugenden Ausführungen. Ich weiß jetzt Bescheid, unsere Leser auch und ich werde nie wieder auf diesem Thema herumreiten (und das nächste Alcest-Konzert ohne blöde Gefühle genießen). Dein Deutsch ist sehr gut und millionenmal besser als mein Französisch. Liebe Grüße auch von mir, micha