EMBRYO

Das Bett, Frankfurt, 17.09.2015

Embryo„Wo bleiben die denn?“ Es ist kurz vor 21 Uhr, der Boss des Frankfurter Clubs „Das Bett“, Frank Diedrich, wirkt nervös. „Die sollten schon vor einer halben Stunde auf der Bühne stehen“ meint er, als er den Eingang neben der Bühne betritt. Beim Rausgehen schüttelt er nur den Kopf, lächelt aber dabei. „Der Christian stimmt immer noch“ gibt er zu Protokoll. Kurz darauf schlurft besagter Christian Burchard auf das Podest, mit Lederjacke und ein paar Decken im Arm. Im „Bett“ ist es ziemlich kühl, kaum einer der etwa 50-70 Anwesenden hat die Jacke ausgezogen, noch nicht. Kuschelig warm ist das auf und vor der Bühne nicht.

Um 21 Uhr wird begonnen – anders, als man es von sonstigen Konzerten gewohnt ist, nicht mit einem fulminanten musikalischen Auftakt, sondern mit familiärem Geschwätz. Burchard stellt seine Mitmusikanten vor, bringt dabei ein paar Witzeleien unter die Leute (zum Beispiel bei der Vorstellung des EmbryoGitarristen/Oud-Spielers Valentin Altenberger, der als Österreicher als „unser Ausländer“ und mit einem Grinsen sogar als „Flüchtling“ benannt wird), erwähnt dabei ein paar anstehende Auftritte in Dänemark und lobt das dortige freie Klima der Kulturschaffenden. Freiheit. Ein zentrales Thema bei EMBRYO, wie es scheint.

Zeit, kurz einzuschieben, was ich überhaupt im „Bett“ verloren hatte. Richtig bekannt waren mir EMBRYO vor diesem Auftritt nämlich nicht (im Unterschied zu allen anderen Anwesenden, die die Combo scheinbar schon einige Jahre begleiten oder sie mit den Augen glühender, juveniler Verehrung betrachten). Als jemand, der sich seit knapp 35 Jahren als Fan mit Rock- und teilweise auch mit Jazz beschäftigt, habe ich es bisher mit fast uneingeschränkter Ignoranz geschafft mich von allen Bands fernzuhalten, die Embryoman unter „Krautrock“ subsumieren könnte. Trotz des exzellenten Rufs vieler solcher Formationen im Ausland, trotz des Einflusses, den viele auf Vertreter im Psychedelic-, Progrock, New Wave oder Postpunk hatten. Eine der wenigen Ausnahmen waren TON STEINE SCHERBEN, die sich mit EMBRYO die selbstverwaltete Plattenfirma teilten und das unabhängige Vertriebssystem (weswegen viele Alben in Pappe oder Papier eingeschlagen sind/waren). Wir reden hier von einer Zeit Anfang der Siebziger Jahre, als das weit wagemutiger war als heute und wohl auch viel komplizierter.

EmbryoSeitdem sich meine Ignoranz in letzter Zeit leicht auflockerte, nehme ich Veranstaltungskalender ganz anders wahr im Bestreben, mich mal wieder musikalisch überraschen zu lassen (etwas, dass mich in den Achtzigern dazu brachte, mich mehr auf den Jazz- als auf den Rockfestivals herumzutreiben, was in Frankfurt durch das Deutsche Jazz-Festival ja prima funktioniert). Und das mit der Überraschung klappte für mich gestern außergewöhnlich gut.

Über die Band und ihre Hintergründe zu recherchieren, ist in diesem Fall trotz Internet gar nicht so einfach. Die Formation besteht mit der personellen Konstante Christian Burchard seit 1969. Mehr als 400 Leute gehörten bereits zu diesem Kollektiv, dazu einige Größen des Jazz wie Pianist Mal Waldron, EmbryoSaxophonist Charlie Mariano und Perkussionist Trilok Gurtu. Gemein ist all diesen Herren ein Suchen nach fremden Skalen und Tönen, auch unter widrigsten Umständen auf der ganzen Welt. Je nachdem, aus wem EMBRYO gerade besteht verändert sich der Sound, weswegen EMBRYO gleichermaßen als Rock- wie als Jazzband zu sehen ist (und am passendsten wohl als Jam- oder Worldmusicband) – kurioserweise aber kaum in der Fachliteratur auftaucht, weder in der einen noch in der anderen.

Trotzdem kratzte die Combo immer mal wieder an der allgemeinen Wahrnehmung – zum Beispiel dadurch, dass Miles Davis sie lobend erwähnte (hier) oder dadurch, dass sie 1970 auf Fehmarn hinter Jimi Hendrix spielte, nach dessen letzten Auftritt vor seinem Tod. Durch ihre Reisen um den Globus Embryozu Zeiten des Eisernen Vorhangs sowie vor und während der Islamischen Revolution 1979 im Iran erwarben sich die Musiker kreative Bekanntschaften und Respekt auf der ganzen Welt, niemals aber so etwas wie einen kommerziellen Durchbruch. Das scheint Burchard aber nicht viel auszumachen – wo andere in seinem Alter die Füße gen Kamin strecken oder zahnersatzknirschend launig alte „Hits“ zum Besten geben, tritt er auf und spielt und spielt und spielt… Schlagzeug und andere percussive Instrumente, von denen ich gar nicht weiß wie sie alle heißen. Und hat augenscheinlich eine Menge Spaß daran.

EmbryoVermisst wurde in Frankfurt seine Tochter Marja, die gerade lukrativer mit dem Antagon-Theater unterwegs ist. Dafür kam der in Jazzkreisen bekanntere Posaunist Carlo Mascolo vom „untersten Teil des italienischen Stiefels angereist – dort, wo man schon griechische Zeitungen liest“ (Burchard), bearbeitete zuerst dezent die Handtrommel und spielte später… einen Schlauch (?), bzw. Posaune am Schlauch. Schlagwerker Lothar Stahl, selbst ziemlich legendär durch seine Mitwirkung in der Anarcho-Rocktruppe CHECKPOINT CHARLIE, beackerte abwechselnd die Drums und ein Xylophon-artiges Teil namens Viertelton-Marimba („Das können nicht viele Leute spielen“ – Burchard). EmbryoJungspund Altenberger sorgte für erlesenes Gezupfe an der Oud sowie an der E-Gitarre – ein bisschen rockiges Saitengewichse vom Feinsten gab es auch von Burchard selber, als er sowas wie eine Lapsteel aus Holz auf das Glockenspiel (?) legte und dort den Hendrix gab. Ihr merkt, die meisten Instrumente habe ich vorher noch nie gesehen oder gehört. Den Namen des Bassisten habe ich leider nirgendwo gefunden – der meist mit EMBRYO auftretende Jens Pollheide war das wohl nicht.

Wenn es um die ersehnte musikalische Überraschung geht, erwischte mich der Vokalist Mik Quantius aus Köln extrem. Der hat vor gar nicht allzu langer Zeit ein paar LPs veröffentlicht, die ich seit gestern Abend suche und nirgendwo finde, u. a. mit WAY OF HE CROSS. Gemütlich im Schneidersitz auf der Bühne Embryositzend und mitwippend oder klatschend, habe ich seine Funktion nicht gleich durchschaut – doch nach und nach fielen mir die Laute aus seinem Hals auf, die manchmal klangen wie ein siedender Bluessänger aus dem Schlund der Hölle und manchmal wie ein Vokalschlagzeug, das er mit dem Finger oder Feuerzeug und seinen Zähnen bearbeitete. Ganz heißer Scheiß in meiner Welt, ein kleines Solo ist auf diesem Clip zu sehen:

Ansonsten drehte Quantius entspannt seine Zigaretten, die er in den Pausen vor dem Club zu sich nahm. Die erste Pause nach knapp einer Stunde Spielzeit war mit 45 Minuten recht lang (in denen Burchard und Altenberger Platten und CDs Embryoverkauften und dabei tiefenentspannt mit den Gästen parlierten). Nach einer Dreiviertelstunde gab es dann aber Druck von der Clubleitung, die Musiker hätten wohl noch eine Weile weiter verkaufen können.

Die nächste Zigarettenpause kam dann 75 Minuten später gegen Mitternacht. Die Reihen hatten sich schon ziemlich geleert – nicht wegen mangelnder Begeisterung, sondern eher wegen des öffentlichen Nahverkehrs und dem anschließend folgenden Arbeitstag. Auch für mich waren das Gründe zu gehen, leider. Die Band hatte vor, nochmal auf die Bühne zu kommen.

Einen Tag später hörte ich meine erstandenen CDs und noch mehr im Netz und stellte fest, dass nichts davon so klang wie das von mir besuchte Konzert. Cool. EmbryoDas mit der Überraschung hat also ausgezeichnet funktioniert, neue Universen taten sich auf. Das nächste Mal gerne wieder, dann wohl mit einer anderen Besetzung. Ausdrückliche Empfehlung ist hiermit ausgesprochen. Und wen es interessiert: Jazzthetik-Autor Christoph Wagner über 40 Jahre EMBRYO, mehr Leben geht kaum: Klicke hier.

Links: http://www.embryo.de/, http://www.last.fm/de/music/Embryo

Text, Fotos & Clips: Micha

Alle Bilder:

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