Festhalle, Frankfurt, 23.05.2017
Ein merkwürdiges Gefühl war es schon, so kurz nach dem Terroranschlag auf ein Popkonzert in Manchester die Frankfurter Festhalle zu betreten, um mit den Altmeistern KISS eine Party zu feiern. Für mich jedenfalls. Für den Veranstalter wohl auch – die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang waren auf Flughafenniveau, inklusive Metallscanner. „Alles Metallische bitte auspacken“ wiederholten gestresste Kontrolleure immer gereizter, verbunden mit Fragen wie „Und aus was besteht ein Schlüssel, Ihrer Meinung nach?“ Man hätte fast lachen können, wäre die Lage nicht so ernst. Rucksäcke kamen dieses Mal erst gar nicht aufs Gelände, man musste (korrekterweise unentgeltlich) diese schon vor der Leibesvisitation abgeben. Zum Vergleich: Bei IRON MAIDEN (2017) und VOLBEAT (2016) geschah das erst danach – bei Bob Dylan (2017) gar nicht.
Innerhalb der „Gud Stubb“ sah es kurz nach Sieben noch relativ leer aus. Support Nummer Eins, RAVENEYE, die man vergangenen Dezember noch im Nachtleben als Special Guest von ZODIAC erleben konnte (Bericht hier), starteten Punkt halb Acht und waren um Acht schon wieder fertig. Dass in dieser halben Stunde auch einige Zeit mit Animations- Versuchen verschwendet wurde liegt wohl in der Natur dieser Musik – das Besteigen des Schlagzeuges war im Club ja ziemlich reizvoll, verlor sich in der Riesenhalle aber ziemlich und wurde größtenteils nur mit einem Schulterzucken quittiert. Tat aber auch nicht weiter weh.
Bei Support Zwei IN EXTREMO war ich mir da nicht so sicher. Die Berliner Band, die seit Ende der Neunziger Jahre erst Mittelaltermärkte und dann zunehmend Clubs beschallte (gefolgt von Hallen, gefolgt von Stadien) hat ihren Mitbewerbern CORVUS CORAX und SUBWAY TO SALLY, die alle etwa zur gleichen Zeit starteten, kommerziell längst den Schneid abgekauft und findet Freunde in allen möglichen musikalischen Lagern, zwischen KREATOR, HEAVEN SHALL BURN oder den ONKELZ. Die historischen Tröten sind zwar noch da, das originäre, altertümliche Liedgut ist jedoch nicht mehr so präsent wie früher. Schon gar nicht auf einer KISS-Tour. Ich hatte mich im Vorfeld schon gefragt, welcher Depp ausgerechnet die vor KISS gebucht hat, aber laut der Facebook- Seite von IN EXTREMO waren das wohl KISS selbst. Ups. Mir gefallen IN EXTREMO nicht sonderlich und subjektiv; ich habe aber auch keine Probleme mit der Combo und deren Musik. Höre sie nur nicht gerne. Weswegen ich nach „Zigeunerskat“ zu den Rauchern nach draußen ging, ein paar nette Gespräche führte und die Ankunft des ONKELZ Gonzo mitverfolgen durfte. Hatte eher auf einen pompösen Glittereinmarsch von KISS gehofft. Nächstes Mal.
Falls es ein nächstes Mal geben wird. Die KISS-Bosse Gene Simmons und Paul Stanley sind nun auch schon 68, bzw. 65 Jahre alt, haben sich ziemlich gut gehalten, waren aber zuletzt während der „Psycho Circus“-Tour in Frankfurt. Das war 1999. Noch mal eine so lange Wartezeit traue ich den Herren beim besten Willen nicht mehr zu. Allerdings hat Simmons mal vor Jahren erwähnt, dass er sich KISS auch gut ganz ohne Original- Mitglieder vorstellen kann. Gitarrist Tommy Thayer hat den Spaceman-Charakter auch „erst“ seit 2002 inne – Schlagzeuger Eric Singer, mit Pausen, den des Catman seit 1991. Klar könnte man auch andere als Starchild (Stanley) oder Demon (Simmons) einsetzen. Aber das wäre dann nur noch von Leuten zu goutieren, die kein Problem haben mit QUEEN mit Adam Lambert oder dem Ratpack ohne Sinatra, Martin & Davis jr. Nicht so meins.
Um halb Zehn war es dann endlich soweit und die Hütte war voll – ein paar Leute hatten scheinbar doch keine Lust auf das Vorprogramm. Dass „Rock’n’Roll“ von LED ZEPPELIN das Halleninnere bedröhnte, war schon ein deutliches Zeichen dafür, dass der Vorhang bald fallen würde. Er fiel, und mit „Deuce“ ging es gleich formidabel zur Sache, so wie auf dem ersten Live-Album von 1975. Yeah Baby. „Shout It Out Loud“ als nächstes, hat auch schon 41 Jahre auf dem Buckel. Aber was bedeuten schon Zahlen, während der Show waren wir alle alterslos. Die viel bemühte Redewendung von 8 bis 88, sie traf fast zu: Kids waren da sowie alle Altersklassen bis zum Renteneintritt. Angefühlt hat sich das aber alles wie eine Oberstufenparty.
Übrigens ohne die Toiletten-Versauungs-Eskapaden, die man kürzlich erst wieder bei IRON MAIDEN erleben durfte. Erwähne das nur, weil ich durch den Gang dorthin fast den ergreifenden Moment verpasst hätte, als das zweite Mal an dem Abend, nach den verschärften Einlass- Kontrollen, an Manchester einen Tag zuvor gedacht wurde und an die 22 Toten, von denen man zum Zeitpunkt dieses Schreibens weiß. KISS inszenierten eine Schweigeminute – und der überwiegende Teil der Fans, die eben genau wie ich von den ersten beiden Songs aufgeputscht wurden, schwieg mit. Eine Geste, aber eine gute. Ebenso wie die schlichte Tatsache, dass sich alle eingefunden hatten und sich nicht aus Angst vor totalitären, pseudoreligiösen Spinnern zu Hause einigelten.
Mit „Lick It Up“ wurde es danach etwas „moderner“ (1983). Man musste aufpassen, dass man nicht zu lange am Bierstand verweilte oder sich gleich mehrere mitnehmen, um nicht zu verpassen, wie Gene Simmons zum Beispiel Feuer spuckte oder auf einmal, beim göttlichen „God of Thunder“, ganz klein unter der Decke stand. Überhaupt wurde viel Platz in der Festhalle genutzt und darauf geachtet, dass man die Akteure gut sehen konnte. Durch Aufzüge auf der Bühne, durch verschieden hohe Bühnenbauten, durch die Übertragung auf Bildschirme sowie durch eine Seilbahn, mit der Paul Stanley ratzfatz im hinteren Teil des Saales stand (Videoclip dazu ganz unten). Manchmal, so sagt der bisweilen weise Volksmund, ist weniger mehr. Nicht so bei KISS. Da ist eindeutig mehr mehr.
Der reguläre Set endete mit „Rock’n’Roll All Nite“ nach 90 Minuten – „I Was Made For Loving You“ und „Detroit Rock City“ beschlossen diesen, bevor die „KISS-Army“ unter den Konservenklängen von „God Gave Rock’n’Roll To You II“ in die Nacht entlassen wurde. Was für eine fantastische Party. Habt Ihr in Zukunft nochmal die Gelegenheit KISS zu sehen, dann macht das. Trotz mitunter blöden Geschwafels von Herrn Simmons, trotz absurder Merchideen. Wer die Festhalle an diesem Abend verließ, dem leuchteten die Augen. Trotz allem, was sonst noch passiert. Damit beschäftigen wir uns dann wieder am nächsten Tag.
Setlist: Deuce – Shout It Out Loud – Lick It Up – I Love It Loud – Firehouse – Shock Me – Flaming Youth – God Of Thunder – Crazy Crazy Nights – War Machine – Say Yeah – Psycho Circus – Black Diamond – Rock And Roll All Night / I Was Made For Loving You – Detroit Rock City
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Text, Fotos & Clips (2): Micha
Clips (Kiss): am Konzertabend aufgenommen von Y-G Bruce
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