Frankfurt, Februar 2019
Erst Albumtipps und jetzt auch noch eine Filmreview? Nun, beides soll in diesem Blog eine Ausnahme bleiben, aber im vorliegenden Falle bot es sich schlichtweg an, das Thema aufzugreifen, da es a) eng mit Musik zu tun hat und b) der Film derzeit viel diskutiert wird. „Lords of Chaos“ ist eine schwedisch-englische Koproduktion aus dem Jahr 2018, die sich dem Aufstieg und Fall der berüchtigten norwegischen Black Metal-Band MAYHEM widmet und deren Historie von 1987 bis 1993 beleuchtet. Black Metal ist sicher nicht jedermanns musikalischer Fall, doch „Lords of Chaos“ ist weitaus mehr als ein gewöhnlicher Musikfilm und dürfte daher auch für Film- und Musikfans interessant sein, die ein Faible für extreme Charaktere und deren exzessive Lebenswege hegen, die in den meisten Fällen zum Untergang, sprich Tod, führten.
Wer sich also für Geschichten von Künstlern wie Sid Vicious, Stiv Bators, Johnny Thunders, Lemmy und Wendy O. Williams interessiert, dem sei „Lords of Chaos“ wärmstens ans Herz gelegt. Zugleich gilt es vorauszuschicken, dass es recht derbe zur Sache geht und manche Szenen den einen oder anderen Zuschauer sanften Gemütes durchaus verstören könnten: Es geht um Themen wie Tierquälerei, Mord, Kirchenverbrennungen, Rassismus und Homophobie – um nur einige zu nennen.
„Lords of Chaos“ basiert auf dem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2008, das die damaligen Geschehnisse in sachlicher Form und anhand von Interviews mit den Beteiligten dokumentiert. Beim vorliegenden Werk handelt es sich um einen Spielfilm, der größtenteils mit amerikanischen Darstellern besetzt wurde. Erzählt wird die Geschichte des jungen norwegischen Gitarristen Øystein Aarseth, der, beeinflusst von Black-Metal-Pionieren wie VENOM, HELLHAMMER/CELTIC FROST und BATHORY, Mitte der 1980er Jahre die Combo MAYHEM ins Leben ruft, die, so der Plan, die ohnehin schon extremen Vorbilder in allen Belangen in den Schatten stellen soll. Zu diesem Zweck tragen die damals 18-19-jährigen Kids schwarz-weiße Schminke – sogenanntes Corpse Paint – und geben sich Namen wie Maniac, Necrobutcher und Hellhammer.
Øystein selbst firmiert fortan unter dem Pseudonym Euronymus, das vom gleichnamigen HELLHAMMER-Song inspiriert wurde. Als der damalige Sänger Maniac die Gruppe verlässt, findet sie im Schweden Dead (eigentlich Per Yngve Ohlin) einen neuen Frontmann. Der ist chronisch depressiv, verstümmelt sich gerne selbst, trinkt das Blut toter Tiere und hegt eine Aversion gegen Katzen, die er jagt und tötet. Euronymus entwickelt schnell eine enge Bindung zu Dead und sieht in ihm den idealen Sänger für MAYHEM, da er all das verkörpert, was andere Acts lediglich textlich behandeln.
Dead wird in einem abgelegenen Häuschen einquartiert, das gleichzeitig als Proberaum für die Band fungiert. Eines Tages findet Euronymus seinen Frontmann dort tot auf, er hat sich Pulsadern und Kehle durchgeschnitten und sich im Anschluss mit einer Schrotflinte den Schädel weggeblasen. Bevor Euronymus die Polizei verständigt, schießt er Fotos vom Toten, um diese für spätere Plattencover zu verwenden und sammelt zudem etwas Gehirnmasse und Knochensplitter auf.
Die Nachricht vom spektakulären Selbstmord des Frontmanns verbreitet sich wie ein Lauffeuer und macht MAYHEM über Nacht zur Szene-Sensation – nicht nur in Norwegen. Dies ermöglicht Euronymus die Gründung eines eigenen Labels und die Eröffnung eines Plattenladens namens Helvete (dt. Hölle) in Oslo. Im Keller des Ladens trifft sich nun regelmäßig der „Black Circle“, der sich aus den Mitgliedern von MAYHEM sowie diversen anderen Musikern rekrutiert, darunter Varg Vikernes von BURZUM, Faust von EMPEROR, Blackthorn von THORN und Fenriz von DARKTHRONE.
Gemeinsam will man den norwegischen Black Metal auf ein neues Level heben. Während Euronymus als geistiger Ideengeber fungiert, setzen andere seine Worte in die Tat um: Varg beginnt Kirchen niederzubrennen und Faust begeht gar einen Mord an einem Homosexuellen. Diese Gewaltspirale dreht sich fortan immer weiter, bis Euronymus ihr eines Tages selbst zum Opfer fällt und von Varg mit 23 Messerstichen – zwei davon in den Kopf – getötet wird.
Soviel zur Story, die vom schwedischen Regisseur Jonas Åkerlund (unten links) adaptiert wurde. Der ist ein bekannter Musikvideo-Regisseur, hat bereits Clips für Pop-Sternchen wie Madonna und Lady Gaga, aber auch für Rock-Acts wie METALLICA, die ROLLING STONES und RAMMSTEIN (das berüchtigte „Pussy“-Video) gedreht und hat einen besonderen Bezug zum Thema, da er 1983/84 Gründungsmitglied und Drummer der schwedischen Black-Metal-Pioniere BATHORY war. Darüber hinaus zeichnet er für den durchgeknallten Drogenfilm „Spun“ (2002) verantwortlich, in dem unter anderem Rob Halford von JUDAS PRIEST, Debbie Harry von BLONDIE und Porno-Schnauzer Ron Jeremy mitspielen. Sein aktuelles Werk „Polar“ mit Mads Mikkelsen ist derzeit auf Netflix zu sehen. Åkerlund ist somit nicht irgendein Regisseur, sondern einer, der an den damaligen Ereignissen recht nah dran war. Bei Spielfilmen über real existierende Personen stellt sich natürlich stets die Frage, wie nahe sich diese an den tatsächlichen Geschehnissen bewegen. Und hier scheiden sich ein wenig die Geister, denn „Lords of Chaos“ basiert überwiegend auf den Recherchen von Åkerlund und auf Gesprächen, die dieser mit Zeitzeugen führte. Was dabei fehlt, sind die Aussagen der drei wichtigsten Protagonisten: Euronymus und Dead sind tot und mit Varg Vikernes, der seit 2009 nach 15-jähriger Haftstrafe wieder auf freiem Fuße ist und seither auf einem YouTube-Kanal wirre rassistische Ideologien verbreitet, wollte Åkerlund aus verständlichen Gründen nicht sprechen. Als Zeitzeugen dienten aber einige damalige Mitglieder von MAYHEM und des „Black Circles“ sowie Eltern und Freunde der Verstorbenen. Auch lagen dem Regisseur unzählige Fotos und Polizeiberichte vor, anhand derer er einzelne Szenen detailgenau rekonstruierte. Kurzum, „Lords of Chaos“ mischt Fakten mit fiktiven Handlungselementen und Åkerlund macht daraus auch keinen Hehl: Bereits im Trailer ist die Aussage „based on truth and lies“ zu lesen. Letztlich, so sagt der Schwede in einem Interview, ist sein Werk eine Schilderung der Ereignisse, so wie Åkerlund sie wahrgenommen hat und die natürlich theatralisch aufbereitet wurden, um einen gewissen Unterhaltungswert zu liefern.
„Lords of Chaos“ ist ein True-Crime-Drama, das sich kurzweilig und rasant präsentiert und gar einige komödiantische Elemente enthält. Wer einen groben Überblick über die damaligen Ereignisse gewinnen möchte, dem bietet „Lords of Chaos“ einen solchen. Die-Hard-Fans dürften indes die authentische Musik der betreffenden Künstler vermissen, denn sowohl MAYHEM als auch EMPEROR und DARKTHRONE verweigerten die Zustimmung zur Nutzung ihrer Songs.
Was genau zwischen den genannten Acts und Åkerlund vorfiel, ist unklar, offensichtlich wurde den Beteiligten ein frühes Script vorgelegt, das nicht in ihrem Sinne war, worauf diese die weitere Mitarbeit am Projekt aufkündigten. Mit von der Partie sind indes Songs von unter anderem VENOM, ACCEPT und DIO, die in diversen Party-Szenen zu hören sind und den Zeitgeist der ausgehenden Achtziger Jahre wunderschön widerspiegeln.
Jüngern des norwegischen Black Metal dürfte zudem übel aufstoßen, dass „Lords of Chaos“ fast komplett in Ungarn – lediglich einige Außenaufnahmen wurden in Norwegen getätigt – entstand, dass keine norwegischen Darsteller dabei sind und einige bekannte Details wie beispielsweise Vargs Begeisterung für Rollenspiele und die Tatsache, dass Euronymus der norwegischen Roten Jugend angehörte und es somit regelmäßig zu politischen Auseinandersetzungen mit dem rechtsgerichteten Varg kam, keine Erwähnung finden.
Begrüßenswert wäre zudem eine deutlichere Zeitstruktur der Ereignisse gewesen, denn alles wirkt, als ob sich die Story binnen weniger Tage abspielt, tatsächlich erstreckt sich diese über etwa sechs Jahre. Und wer sich am Ende fragt, was aus den beiden Mördern (Varg und Faust) geworden ist, muss deren Schicksale googeln, ein paar Texttafeln vor dem Abspann hätten nicht geschadet.
Unterm Strich ist „Lords of Chaos“ dennoch ein sehenswerter Film, der für Zuschauer, die bereits mit der Materie vertrauten sind, die Geschehnisse in unterhaltsamer Form aufbereitet und Neulingen einen Einblick ins finstere Universum des Black Metal gewährt. Euronymus wird von Rory Culkin, dem jüngeren Bruder von Macaulay Culkin („Kevin – allein zu Haus“) verkörpert, Varg von dem jüdischen Darsteller – ein kleiner Seitenhieb auf den echten Varg – Emory Cohen. Zudem ist Wilson Gonzales Ochsenknecht als Blackthorn zu sehen. Alle Darsteller machen ihren Job erstaunlich gut und bringen den Blödsinn, den sie reden, recht authentisch rüber. Als Metalhead, der die 1980er Jahre miterlebt hat, fühlte ich mich bei den exzessiven Party-Szenen zu Beginn des Films sofort an meine Jugend erinnert. Insofern ist „Lords of Chaos“ für Metal-Fans in jedem Falle einen Blick wert. Fun-Fact am Rande: Im allerersten Musikvideo von Jonas Åkerlund von 1988 (CANDLEMASS – „Bewitched“) ist MAYHEM-Frontmann Dead als Statist zu sehen – so schließt sich der Kreis. „Lords of Chaos“ läuft ab dem 20. Februar in ausgewählten Programmkinos und ist ab 29. März auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Text: Marcus