Mousonturm, Frankfurt, 15.-19.10.2019
Gab es so etwas schon mal? Eine vertiefende Veranstaltungsreihe zum Gastland der Frankfurter Buchmesse, in der neben der Literatur vor allem die Musik der Region präsentiert wird, mit kreativen Ausreißern in weitere Arten der darstellenden Kunst? Falls ja, habe ich das bisher verschlafen. Falls nein, dann könnte diese Art der fünftägigen „Aftershow-Party“ (O-Ton Brit Aksnes, die von Mittwoch an durch die diversen Programmpunkte im Lokal führte) vielleicht am speziellen Interesse von Markus Gardian liegen. Dieser hat als musikalischer Kurator des Künstlerhauses Mousonturm und der Reihe „Jazz im Museum“ schon in der Vergangenheit hochklassige Acts aus Norwegen in die Mainmetropole geholt und bereist, laut Präsentator Journal Frankfurt, „mit schöner Regelmäßigkeit“ das Land im Norden Europas.
Doch nicht nur dem Jazz wurde in diesen Tagen in verschiedenen Räumen des Hauses gefrönt – Bücher wurden vorgestellt, Poetry Slams dargeboten, Künstler, Musiker sowie Autoren befragt (oft in Personalunion) – und außerdem wurde gerockt. Nicht in Form des originären, norwegischen Black Metal zwar, der einem ganzen Genre vielfältige (und inhaltlich zum Teil auch der Diskussion bedürfende), innovative Schübe verpasste – allerdings mit der „wichtigste(n), kompromissloseste(n) Band in der norwegischen Rockgeschichte“ (Oliver Polak im Rolling Stone), die in diesem Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum feiert: MOTORPSYCHO aus Trondheim.
Wobei das Trio, das oft mit einem Gastmusiker als Quartett auftritt, den Mousonturm nicht zum ersten Mal beehrte: 2008 waren sie schon da und brachten die Location damit auf die Landkarte zumindest eines meiner Bekannten, der sich zu dem einprägsamen Statement hinreißen ließ: „Das ist der Beweis: Der Mousonturm kann auch gerockt werden!“. In der Tat. Ein weiterer war diese Eröffnung des NORSK Festivals, das noch ohne Begleitveranstaltungen im Lokal des Künstlerhauses stattfand.
Wie (fast) immer vorgruppenlos betrat die Band pünktlich (auch das ist bei MOTORPSYCHO die Regel) um 21 Uhr die Bühne des unbestuhlten Theatersaals – anwesend die obligatorischen Stoner-Fans aus Rhein/Main, einige Menschen in Black Metal-Shirts sowie viele sogenannte „Psychonauten“, die (vergleichbar mit den legendären „Deadheads“, welche ihren Idolen GRATEFUL DEAD hinterher reisten) so viele Konzerte von MOTORPSYCHO mitnehmen wie möglich; schließlich variiert die Setlist von Abend zu Abend.
Als MOTORPSYCHO im Mai 2019 im Wiesbadener Schlachthof gastierten gab es gerade mal vier Überschneidungen mit dem in Frankfurt Gebotenen, bei einem Verhältnis von 17 (WI) zu 14 Stücken (FFM). Dass die in beiden Fällen gespielten Tracks an anderer Stelle des Vortrages erschienen, abweichend klangen sowie Zitate weiterer Songs boten unterstreicht noch die Einzigartigkeit dieser „Dauerrocksensation“ (Eclipsed), genauso wie die Tatsache, dass die Band sich gerne vor ihren Einflüssen verbeugt – in Frankfurt in Form eines WISHBONE ASH-Covers, in Wiesbaden mit Liedern von Terry Cailler, THE PRETTY THINGS sowie einer fulminanten Version von Hendrix‘ „Voodoo Child“.
Der vierte Mann am Start war diesmal wieder Nils Reine Fiske, ein schwedischer Gitarrist und Keyboarder, der unter anderem bei den Prog-Combos DUNGEN und PAATOS seine Spuren hinterließ. „The Crucible“, ein zwölfminütiger Song-Gigant aus dem gleichnamigen, aktuellen Album, war diesmal der Eröffner des Abends – das einzige Stück, bei dem die Presse fotografieren durfte und bei dem die Akteure um Songschreiber, Bassist und Sänger Bent Sæther, Gitarrist und Sänger Hans Magnus Ryan (beide Gründungsmitglieder) sowie dem 2017 hinzugestoßenen Schlagzeuger Tomas Järmyr neben Fiske anfingen, sich warm zu spielen.
Nach diesem Stück und dem Abzug der Teleobjektive kam die Gruppe so langsam in ihren Flow, die Projektionen hinter ihr wurden vermehrt eingesetzt und wechselten zwischen Video-Einspielern sowie psychedelischer Farbpracht. Immer ausgelassener geriet das Spiel auf der Bühne, was ein enthusiastisches „Lasst uns rocken!“ von Sæther evozierte und damit einmal mehr das oben erwähnte Statement meines Bekannten manifestierte. So schön, so ausufernd wie auch so mitreißend eigen, dass nach einem weiteren Longtrack („The Tower“) aus dem Publikum ein befreites „Thank you“ zu hören war.
Sæther, der sich und seine Kollegen im Eclipsed bescheiden als „Facharbeiter“ bezeichnete, brachte dort auf den Punkt was die Truppe seit drei Dekaden ausmacht, ihren ikonischen Status untermauert sowie zum Festival und zum Veranstaltungsort passend macht: „Wir sind keine Jazzrock-Band, aber wir spielen Rock im Geiste des Jazz“. Amen dazu. Ihr 23. Studio-Album innerhalb von 30 Jahren soll noch 2019 erscheinen.
Absolutes Fotografierverbot herrschte bei der Performance von Jenny Hval einen Tag später an gleicher Stelle (wir illustrieren diesen Bericht daher durchgängig mit Fotos von MOTORPSYCHO). Was sehr schade war; denn der einstündige Auftritt des Sextetts, der kongenial Musik, Theater sowie Videokunst verband, gab optisch eine ganze Menge her. Musikalisch sowieso. Und inhaltlich? Wahrscheinlich ebenfalls, jedoch bin ich mir da nicht so sicher. Vielleicht war das auch so ein Kerkelingscher „Hurz“- Moment.
Etwas Basiswissen über Hval oder Details zum Auftritt? Bitte sehr: Jenny Hval kommt aus Oslo und veröffentlichte bereits Platten unter dem Alias Rockettothesky. Außerdem sang sie unter anderem bei der Goth-Metal-Band SHELLYZ RAVEN. Mit Susanna Wallumrød von SUSANNA & THE MAGICAL ORCHESTRA veröffentlichte sie einen Liedzyklus; unter eigenem Namen produziert sie seit 2011 avantgardistische Pop-Alben, die meist einem Konzept folgen. „Blood Bitch“ von 2016 sticht da besonders hervor, ein Album über Vampirismus sowie vor allem über Menstruation. Kein allzu durchgekautes Thema in der Popmusik bisher, denke ich.
Ihr aktuelles Werk „The Practice of Love“ klingt leicht verdaulicher – stark 80er-Jahre geprägt, die Hval nur als Kind erlebt hat. Trotzdem eigen wie modern. Worum es da geht? Bei aller Kreativität und Ästhetik in der Präsentation bleibe ich ratlos zurück. Warum wurde mir zu Beginn der Performance ein Schokotaler kredenzt, der sich während der Veranstaltung schmelzend in meiner Hemdtasche verflüssigte? Wieso spielte eine der darstellenden Personen (vier Frauen, zwei Männer) ständig mit einem Sandhaufen? Was bedeutet der Text des Album-Openers „Lions“, der live mit einem Stofflöwen illustriert wurde? Warum gestikulierten die Akteure stumm, soundlos und mit Kopfhörern fast drei Minuten herum? Wieso leuchtete mir Hval mit ihrem psychedelischen Lichtmikro ins Gesicht?
Ich habe keine Ahnung – es sah aber alles faszinierend aus und klang höchst wunderbar. Stefan Müller alias DJ Eastenders ist da im DLF bereits weiter (mehr dazu hier). Er hat als einer von Wenigen zum Beispiel verstanden, dass die an Album sowie Performance beteiligte Vivian Wang nicht die Journalistin der New York Times ist, sondern eine Musikerin der Art Rock-Band THE OBSERVATORY aus Singapur. Props dafür. Hval selber sprach am Folgetag vielleicht noch ein paar erklärende Worte dazu – allerdings leider ohne mich. Weitere Highlights vom Mittwoch und Freitag der NORSK Festival-Woche folgen jedoch schon bald in diesem Blog.
Links: http://motorpsycho.no/, https://de-de.facebook.com/motorpsycho.official/, https://www.instagram.com/motorpsychoband/, https://www.last.fm/de/music/Motorpsycho, http://jennyhval.com/, https://www.facebook.com/jennyhval, https://soundcloud.com/jennyhval, https://www.last.fm/de/music/Jenny+Hval
Text & Fotos (12): Micha / Fotos (12): Kai
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