Schlachthof, Wiesbaden, 13.08.2014
Wer sich für die Historie des Punk begeistern kann, der dürfte auch schon über REAGAN YOUTH gestolpert sein. Wie der Bandname bereits vermuten lässt, wurde die Formation in der Ära des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, Anfang der Achtziger Jahre, gegründet. Kern der Gruppe waren damals Sänger Dave Insurgent (eigentlich Dave Rubinstein) und Gitarrist Paul Cripple (eigentlich Paul Bakija), die damals die gleiche Schule besuchten wie schon einige Jahre zuvor die RAMONES, die Forest Hills High School im New Yorker Stadtteil Queens. Im Gegensatz zum großen Vorbild gab man sich textlich jedoch politischer, zynischer und musikalisch härter.
REAGAN YOUTH’s frühe Veröffentlichungen legten gemeinsam mit Outputs von AGNOSTIC FRONT, KRAUT und HEART ATTACK den Grundstein des New York Hardcore, auch wenn sich die Jungs zum damaligen Zeitpunkt dessen vermutlich nicht bewusst waren. Die erste und wichtigste Scheibe „Youth Anthems for the New Order“ erschien 1984 und bot mit „Reagan Youth“, „New Aryans“ und „Degenerated“ Songs, die heute Klassiker sind. Inhaltlich wandte man sich gegen die Reagan-Regierung, die konservativen Kräfte in den USA und gegen christliche Hardliner. 1989, als die Amtszeit von Reagan endete, lösten sich REAGAN YOUTH auf.
Seither sind 25 Jahre ins Land gezogen und im Zuge der allgemeinen Reformationen alter Kultbands (NEGATIVE APPROACH, IRON CROSS, FANG, etc.) gibt es nun auch REAGAN YOUTH wieder, obgleich Ronald Reagan nicht wieder politisch aktiv ist, sondern gar seit zehn Jahren unter der Erde liegt. Da stellt sich natürlich die Frage, welche Mission REAGAN YOUTH anno 2014 verfolgen. Ist es ein echter Relaunch der Gruppe oder lediglich eine letzte Tour, mit der die Jungs noch einmal alte Zeiten aufleben lassen wollen?
Um dies herauszufinden, begab ich mich am gestrigen Abend in den Schlachthof zu Wiesbaden und musste zunächst feststellen, dass sich nicht allzu viele Besucher für das Comeback der New Yorker interessierten. Gerade mal 40 Leutchen, darunter größtenteils Kids jenseits der 20, hatten sich in der Räucherkammer versammelt, wobei sich unter diesen vermutlich noch Mitglieder der beiden Vorgruppen DV HVND und ANTIKÖRPA befanden. Letztere machen unsäglichen deutschen Betroffenheitsrock der Marke SPORTFREUNDE STILLER; DV HVND sind ob der dreckigen Stimme des Sängers etwas erträglicher, wenn auch nicht unbedingt besser.
Nach viel zu langer Zeit, etwa gegen 22:30 Uhr, war es dann soweit: REAGAN YOUTH betraten die Bühne und machten zunächst einmal optisch einen recht bunten Eindruck. Vom 1980er-Lineup ist lediglich Gitarrist Paul Bakija (links) übrig, der sich im Piraten-Outfit präsentierte. Sein langjähriger Mitstreiter, Texter und Songwriter Dave Insurgent, der Zeit seines Lebens allerlei Schicksalsschläge ertragen musste, schied 1993 durch Selbstmord aus dem Leben und einige ehemalige Mitglieder (u. a. Basser Al Pike und Schlagzeuger Johnny Aztec), mit denen Bakija die Reunion der Band im Jahr 2006 vollzogen hatte, sind inzwischen wieder abgesprungen.
Dafür stand eine alte Bekannte als Bassistin auf dem Podest: Tibbie X (rechts) von den New Yorker X-POSSIBLES, die sich in Frankfurt schon sowohl in der Au als auch im Exzess (gemeinsam mit POISON IDEA) die Ehre gegeben haben. Die X-POSSIBLES sind übrigens inzwischen Geschichte, dafür frontet Tibbie nun den SM-Punk- Act GASH. Komplettiert wird das Lineup seit einigen Jahren durch Drummer Stig Whisper und den früheren Drum-Techniker Trey Oswald (unten) am Mikro. Optisch sah dies nicht unbedingt nach einem Hardcore-Outfit aus, aber wer mit der Band vertraut ist, der dürfte wissen, dass sie bereits in der ersten Phase ihres Bestehens Einflüsse aus Punk-Rock, Metal und Rock zuließ und dass auch der ehemalige Shouter Dave mit seinen langen Dreadlocks nicht unbedingt dem Klischee des typischen Hardcore-Frontmanns entsprach.
Bei der Song-Auswahl konnten REAGAN YOUTH an diesem Abend nichts falsch machen. Gespielt wurden nahezu alle Tracks, die die Bandgeschichte hergab, neue wurden – mit Ausnahme von einem – nicht geboten. Ob „No Class“, „Jesus was a Communist“, „Degenerated“, „Class War“ oder, als letztes Stück des regulären Sets, die Hymne „Reagan Youth“, alle wichtigen Lieder waren vertreten und wurden tatsächlich so gespielt, wie man sie von Platte kennt, auch wenn die Stimme von Trey etwas anders klang als die des ursprünglichen Sängers.
Der neue Mann präsentierte sich äußerst agil, verbrachte mehr Zeit im Publikum als auf der Bühne, kugelte über den Boden, pogte mit einigen Kids vor der Bühne und kniete ehrfürchtig vor Bandleader Paul Bakija. Das war zwar nett anzusehen, wirkte ob der wenigen Besucher aber irgendwie übertrieben. Zudem vermittelte er nicht unbedingt die zum Sound passende Aggressivität, sondern agierte eher wie ein Rockstar, der sich stets in neuen Posen präsentierte. Daran musste man sich erst gewöhnen.
Wem dies gelang, der erlebte ein solides Konzert, das natürlich nicht ohne die für REAGAN YOUTH typische Provokation auskam. Der Song „Reagan Youth“ enthält bekanntlich die Textzeile „Sieg Heil“, die sich auf die faschistische Natur des Reagan-Regimes bezieht und daher zynischer Natur ist. Beim Singen des Stücks unterstrich Sänger Trey den Text zudem durch das Heben seines ausgestreckten (linken) Armes, was zum einen in Deutschland – in Verbindung mit der Äußerung rechten Gedankengutes – verboten ist und zum anderen leicht zu Missverständnissen bei Konzertbesuchern führen kann, die mit den Texten und Ansichten der Gruppe nicht vertraut sind. Eine heikle Sache also. Als Darbietung innerhalb eines künstlerischen, zynischen und politisch linken Kontexts empfand ich die Provokation dennoch als vertretbar. Zumindest vertretbarer als die Eskapaden eines Jonathan Meese. Zudem war es witzig anzuschauen, dass Punk auch im Jahr 2014 noch zu provozieren vermag.
Sind REAGAN YOUTH also auch heute noch sehenswert? Jein. Wer schlicht einen guten Hardcore-Gig erleben möchte, der dürfte enttäuscht werden. Denn REAGAN YOUTH anno 2014 spielen zwar einige Songs, die den US-Hardcore definiert haben, sind vom Lineup her aber eher eine Punk-Rock-Band mit Rock’n’Roll-Attitüde, ähnlich wie die DICTATORS. Wer sich hingegen für die Geschichte von Punk und Hardcore begeistern kann, für den dürfte es zumindest interessant sein, mit Paul Bakija einen der Urväter des Genres live zu sehen und sich mit ihm zu unterhalten. Trotz aller Unkenrufe im Vorfeld hat mir der Gig gefallen, so dass ich mir REAGAN YOUTH jederzeit wieder anschauen würde. Vielleicht im nächsten Jahr, vielleicht mit einem neuen Album.
Paul Bakija hat nämlich noch viel vor, wie er mir nach dem Konzert erzählte. Geplant ist ein konzeptionelles REAGAN YOUTH-Album, das dem Leben und Wirken des ehemaligen Sängers Dave Insurgent gewidmet ist. Dabei sollen die einzelnen Songs im Stile von PINK FLOYD’s „The Wall“ (Zitat von Paul) die jeweiligen Etappen im Leben von Dave widerspiegeln. Man darf gespannt sein.
Links: http://www.reagan-youth.com/, https://myspace.com/reaganyouth, http://www.reverbnation.com/ReaganYouth, http://www.lastfm.de/music/Reagan+Youth, http://www.reverbnation.com/gashofficial
Text & Fotos: Marcus
Clip: am Konzertabend aufgenommen von VodkaViolator
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