Colos-Saal, Aschaffenburg, 9.05.2017
Es muss sich seltsam anfühlen, auf einmal ohne ihn auf der Bühne zu stehen: Ohne Piotr Grudziński, gemeinsam mit dem Sänger und Bassisten Mariusz Duda sowie Schlagzeuger Piotr Kozieradzki Gründungsmitglied der Progrocker RIVERSIDE aus Warschau. Denn zusammen mit Keyboarder Michał Łapaj (der auch schon seit 2003 bei der Combo aktiv ist) begreifen sich die Musiker als weit mehr als nur eine Band. Als Grudziński 2016 starb, gab es einen kurzen Tweet direkt am Todestag, erst fünf Wochen später eine längere Botschaft an die Fans. RIVERSIDE, die sich stets als „Familie“ definierten, sagten alle Konzerte ab und mussten sich nun neu sortieren. Als nächstes erschien ein ungewöhnliches Album: Auf „Eye of the Soundscape“, angeblich ein Herzensprojekt des verstorbenen Gitarristen, dominieren sphärische Klänge voller Elektronik und es gibt so gut wie gar keinen Gesang. Eine Herausforderung für viele sogenannte „Progfans“.
Auf den Babyblauen Seiten, sowas wie der Online-Bibel für Proghörer, erschienen zwei Rezensionen zu der Scheibe – eine wohlwollende sowie ein ziemlicher Verriss, bei dem der Autor Probleme damit hatte, ambientartige Klänge als „progressiv“ zuzulassen. Dass diese Vokabel bei vielen Anhängern der so bezeichneten Musik ein Synonym zum Verweilen in vor mehr als 30 Jahren erschaffenen Klangräumen darzustellen scheint, wird mir immer unverständlich bleiben. Andere haben weniger Probleme mit dieser Zäsur im Werk von RIVERSIDE, bei der man noch nicht sagen kann, ob das der Sound der Zukunft der sich inzwischen als Trio definierenden Formation sein wird. Einige andere jedoch hören diesen über 100-minütigen Brocken sehr gerne. Die Frage im Vorfeld war nur, ob sich RIVERSIDE ohne ihren Gitarristen primär an einer wie immer gearteten Live-Umsetzung dieser Scheibe versuchen (und damit ihre alten Alben komplett in den Giftschrank sperren) oder etwas Anderes tun würden. Taten sie.
Schon um 18.45 Uhr wurde den ersten Fans vor dem Aschaffenburger Colos-Saal Einlass gewährt. Mt meinem halben Jahrhundert an Lebenserfahrung zählte ich keinesfalls zu den Ältesten im Saal, wie ich verwundert feststellte. Trotz der in die Menge gestreckten Altersringe um diverse Hüften war der Saal aber nicht ganz ausverkauft; man konnte sich, mit Mühen, noch ein wenig hin und her bewegen. Wie immer wurde ab 19 Uhr per Videoleinwand auf kommende Highlights in der Location hingewiesen, doch schon ab 19.40 Uhr war die Leinwand weg und das Konzert fing an. „Eye of the Soundscape“, das letzte Stück des gleichnamigen Albums, tönte aus der Konserve – Ambientsounds, schon, und doch immer lauter und fordernder werdend. Zum Zurücklehnen taugte das nur bedingt. Während die Gesprächsführung vor der Bühne immer schwieriger wurde, begannen die Stagehands mit den letzten Feinjustierungen. Aufbau, während man die Band schon hörte. Gibt es auch nicht alle Tage.
Ebenso wenig wie das, was Punkt Acht geschah: Das Saallicht ging zwar aus, das auf der Bühne aber komplett an. Łapaj, Duda und Kozieradzki erschienen, das RIVERSIDE-Trio, voll beleuchtet. Duda sprach davon, dass er wohl schon zum fünften Mal im Colos-Saal weilen würde und das nun ein halbes Jubiläum gefeiert werden könne (allerdings war es bereits das sechste Mal), dass die Show sich von vorherigen unterscheiden werde und das Ganze bitte als „Katharsis“ zu begreifen sein möge – an dessen Ende, hoffentlich, alle beseelt und glücklicher als zuvor nach Hause gehen könnten. Na dann. „Coda“ ertönte als erstes (von 2013), und der Gitarrist Maciej Meller wurde auf die Bühne gebeten. Nicht als der „Neue“ von RIVERSIDE (das mag vielleicht irgendwann anders passieren), sondern als Gast. Allerdings ist Meller einer, der schon lange zum erweiterten Kreis der „Familie“ zählt. Vor kurzem erschien ein Trioalbum von ihm, Duda und Maciek Golyźniak am Schlagzeug („Breaking Habits“).
Der Gitarrist von QUIDAM und Duda kennen sich schon seit Ewigkeiten und Meller spiele die Songs nicht nur so, „wie sie klingen sollen“ und „trotzdem mit eigenem Sound und Interpretation“ (RIVERSIDE-Homepage), sondern passe auch menschlich mit seiner „Bescheidenheit“ und „Demut“ sehr gut zu der Formation (ebenda). Mit ihm fühle sich das „auf der Bühne wie eine Band an“, so Duda weiter. Mal sehen, ob diese Einschränkung auf die Bühne irgendwann passé ist. Während des ziemlich exakt zwei Stunden dauernden Konzerts spielte Meller, als wäre er schon immer ein Teil von RIVERSIDE – aus der Fan-Perspektive gab es an seiner Rekrutierung absolut nichts zu rütteln. Spür- und sichtbar war jedoch ein anderer Umgang als mit seinem Vorgänger – während Duda beim letzten Aschaffenburger Gig immer mehr aus sich heraus und besonders im Zusammenspiel mit Grudziński steil ging (zu sehen auf den Bildern in unserem Bericht von 2014 hier) war das Anspiel Dudas in diesem Fall zaghafter, manchmal gar kritisch, doch letztlich mehr als wohlwollend.
Gespielt wurde Material aus vier Veröffentlichungen zwischen 2005 und 2015, dabei auch Fan-Favs wie „02 Panic Room“. „Lost“ (Videoclip dazu weiter oben) wurde genauso umarrangiert wie das erneut dargebrachte „Coda“ am Schluss – das Licht auf der Bühne ging wieder an, erstmals wurde das „Schicksalsjahr 2016“ explizit von Duda erwähnt. Ob die Katharsis eher vor oder auf dem Podest stattfand vermag ich nicht zu beurteilen – der Abend, der mit dem vom Band gespielten ersten Song des Ambientdrehers „Eye of the Soundscape“ endete, war auf jeden Fall eine emotionale Achterbahn und ein grandioser Neubeginn, voller Respekt für das Vergangene. Wenn die ganze Tour so abläuft, die intensivste denkbare Trauerarbeit sowie ein verheißungsvoller Neubeginn. Schön, dass RIVERSIDE noch da sind.
Links: http://www.riversideband.pl/en/, https://www.facebook.com/Riversidepl, https://myspace.com/riversidepl, http://www.reverbnation.com/riversidepl, http://www.lastfm.de/music/Riverside
Text, Fotos & Clips: Micha
Alle Bilder: