Colos-Saal, Aschaffenburg, 28.06.2017
Verdammte Hektik. Nach einem viel zu langen Arbeitstag und einer schleunigst eingeworfenen Pizza wurde es Zeit, den Weg von Frankfurt nach Aschaffenburg zurückzulegen – SEPULTURA hatten sich angesagt, eine Band, die ich schon länger nicht mehr live erlebt habe (mein letztes Mal: Centralstation Darmstadt, 15.04.2010!). Ein grobes Versäumnis, spielten die Brasilianer doch in der Zwischenzeit etliche Male in der Region – im Frankfurter Zoom, im Wiesbadener Schlachthof oder im Aschaffenburger Colos-Saal. Dass die EVIL INVADERS den Abend eröffnen sollten war auch großes Kino, aber ach, die A3: Nachdem es bereits einige Kilometer mehr als zähflüssig voran ging, kam das Schild, das uns ersuchte, die Spur zu wechseln: Von Rechts in die Mitte, von dort nach Links. Viele Brummifahrer hatten da schon entnervt den Seitenstreifen blockiert.
Als wir nach gefühlten Stunden endlich einspurig die abgesperrte Baustelle passierten, kam ich mir vor wie bei Happy Trigger TV – keine Baumaschine werkelte, stattdessen wurde ein gemütliches Picknick serviert im ausklingenden Tageslicht. Allerliebst. Klar, auch Bauarbeiter müssen Pausen machen, der Anblick wirkte jedoch wie eine Ohrfeige. Mit Konsequenzen. Es gab heute leider keine EVIL INVADERS für uns. Aber gut, SEPULTURA wurden noch rechtzeitig erreicht. Es gab sogar ein freies Plätzchen an der Absperrung zum Fotograben, doch Bilder zu machen wurde bei 90 Minuten konsequentem Gegenlicht zur Tortur. Wie übrigens auch einen Tag zuvor bei Mark Lanegan im Frankfurter Gibson. Ist das eine neue Eitelkeit oder wird so gegenwärtig „Atmosphäre“ illuminiert? Ich finde es auf die Dauer jedenfalls nicht besonders erquicklich, die Gesichtszüge der Protagonisten nur noch erahnen zu können. Aber gut, Musik ist das Thema, und da gab es heute (aus meiner Sicht) nichts zu meckern.
Ein gutes SEPULTURA-Set zu erarbeiten, das alle Fans glücklich macht, ist gar nicht so einfach – zu oft haben die Südamerikaner in der Vergangenheit ihren Stil erweitert, perfektioniert oder sogar neue Stile kreiert. Sie begannen als lärmende Kids um die Brüder Max & Iggor Cavalera aus Belo Horizonte 1984, zu denen 1985 der jetzt noch in der Band aktive Bassist Paulo Xisto Pinto Jr. stieß (der damit das am längsten aktive Mitglied ist). Fun Fact ist, dass der ehemalige Boss Max Cavalera nicht müde wird zu behaupten, dass Paulo Jr. sein Instrument nicht beherrschte und die Einsätze bis zum Album „Schizophrenia“ von 1987 von anderen Mitgliedern eingespielt wurden. SEPULTURA fabrizierten rumpelnden Proto-Death Metal, Thrash Metal, Hardcore, Industrial-Metal und – als genresprengende Eigenkreation – Tribal-Metal mit oder ohne brasilianischen Ureinwohnern, französischen Percussion-Avantgardisten oder Musikern, die sonst eher im Jazz zuhause sind.
Seit 1987 ist Gitarrist Andreas Kisser an Bord, der inzwischen, nach dem Abgang der Cavalera-Brüder, das Zepter von SEPULTURA trägt. Konzept und Songs der Alben entwickelt er zusammen mit Sänger Derrick Green, der seit 1998 in der Band ist und mit nun acht Studioscheiben seinen Vorgänger Max einsatztechnisch überflügelt hat. Und doch: Mit Max füllte die Formation die Stadthalle Offenbach, ohne ihn ist nicht mal der Colos-Saal ausverkauft. Was aber an den Temperaturen gelegen haben kann, oder an der Omnipräsenz der Combo auf den Bühnen dieser Welt. Hab’s ja auch schleifen lassen mit den Konzertbesuchen, sieben Jahre lang.
Unverzeihlich, wenn man den gestrigen Abend vor Augen hat. Die Stücke des aktuellen Drehers „Machine Messiah“ (ein Konzeptalbum über Chancen und Risiken moderner Technik) überwogen, was bei deren Klasse aber kein Problem darstellte. „Kairos“ von 2011 wurde zitiert, ansonsten gab es Lieder der Cavalera-Ära satt. „Inner Self“ von „Beneath The Remains“ (1989) sowie die größten Hits von „Arise“ (1991), „Chaos A.D.“ (1993) und „Roots“ (1996) – dem Album, auf dem SEPULTURAs Innovationskraft am stärksten war. Dass PRONG-Drummer Art Cruz die Percussion-Schlacht „Ratamahatta“ veredelte, war ein zusätzliches Bonbon, von dem ich nicht weiß, ob das ein A’burg-only-Knaller war oder ob das auf der ganzen Tour passiert – es war auf jeden Fall Weltklasse. Die Stimmung im Pit war während der ganzen Spielzeit famos, gepogt wurde ab dem ersten Stück. Nach 90-minütiger, schweißtreibender Ekstase bin ich überzeugt, dass die häufige Bühnenpräsenz SEPULTURAs nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellt – die Herren hatten Bock zu rocken, auch der viel geschmähte Bassist und der „neue“ Drummer Eloy Casagrande (immerhin auch schon seit 2011 dabei).
Mit immer neuen Alben und Konzepten entwickeln sich SEPULTURA auch ständig weiter – die ehemaligen Kollegen Max & Iggor Cavalera setzen gegenwärtig im Kontrast dazu auf Traditionspflege. Ihre 1:1-Aufführung von „Roots“ kann man am 8. August in der Frankfurter Batschkapp und am 9. Dezember in den Gießener Hessenhallen erleben, dann mit OVERKILL. Letztlich können wir meines Erachtens nach froh sein über den Split: Seit 1996 gibt es drei faszinierende Formationen, SEPULTURA, die CAVALERA-CONSPIRACY mit den Brüdern sowie die ähnlich energetischen SOULFLY um Max Cavalera. Den Traum von der Reunion haben nur die, die SEPULTURA nie mit Max sahen. Verständlich. Besser als mit Derrick Green waren die live aber auch nie.
Links: http://www.sepultura.com.br/, https://www.facebook.com/sepultura/, https://soundcloud.com/sepulturaofficial, https://www.reverbnation.com/sepultura, https://www.last.fm/music/Sepultura
Text, Fotos & Clip: Micha
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