Colos-Saal, Aschaffenburg, 18.03.2019
Schon witzig, wenn in der offiziellen Pressemitteilung der Konzert-Agentur für die Tour ihrer Schützlinge mit der Aussage geworben wird, deren Musik sei seicht („Die Band wird ein ausgewähltes Set präsentieren, die eine ausgereiftere, gar seichtere Nuance beleuchten wird.“). Naja, Promogeschwurbel halt, da gibt es noch mehr blasige Bonmots. Aber nicht falsch in diesem Fall. SÓLSTAFIR aus Reykjavik/Island, gegründet 1994, haben eine erstaunliche Entwicklung von Viking- über Black- zum Post-Metal und nun zum Post-Rock vollzogen, oft mit progressiver, psychedelischer oder sogar punkiger Beeinflussung. Oder anders gesagt: Unterm Strich werden SÓLSTAFIR immer lahmer. Stimmt, das klingt jetzt auch nicht netter als „seicht“.
Ist jedoch weder böse gemeint noch unrichtig. „Berdreyminn“, ihr letztes, 2017 erschienenes Studio-Album, lullt den Hörer nach wie vor mit melancholischen Sounds ein, die von Kritikern oft mit der Landschaft Islands verglichen werden – die Kälte, die Dunkelheit, das Erhabene. Die Einsamkeit. Das Harsche? Naja. Dass die Attribute aus der Klischee-Hölle vielseitig anwendbar sind, beweist die seit „Masterpiece of Bitterness“ (2005) gelebte Ästhetik, die Italo-Western-Flair aus der Wüste in die verschneiten Felsen Islands transportiert – Sänger und Gitarrist Aðalbjörn Tryggvason hat den namenlosen, von Clint Eastwood so genial verkörperten Fremden aus Sergio Leones Dollar-Trilogie sogar auf seinem rechten Arm tätowiert; Gitarre- und teilweise Banjo(!)-Spieler Sæþór Maríus Sæþórsson tritt stilecht mit Weste sowie Cowboyhut auf. Passt auch alles, wenn man „Kälte“ mit „Hitze“ vertauscht, ist ja auch entschleunigt und birgt viele Gefahren. Doch: Das Überbordende und Dynamische, es ist seit 2017 kaum noch spürbar bei den Insulanern. Und Metal ist das schon mal gar nicht mehr. Trotzdem schön.
Die Ankündigung, sich auf der laufenden „The Midnight Sun: A Light In The Storm Tour“ wieder mehr aus dem Fundus der älteren Prachtstücke zu bedienen, ist jedoch eine gute Nachricht für Supporter, die die Band bereits vor dem Einschlag von „Svartir Svandar“ (2011) gut fanden. Als sie noch auf den Pagan- und Heidenfesten die wenigen Gäste bespaßten, die nach intensivem KORPIKLAANI- oder HEIDEVOLK-Exzess mal eine Pause brauchten. Doch warum ist wieder (wie auf der letzten Tour, als „Berdreyminn“ promotet wurde) ein Streichquartett mit dabei? Beziehungsweise streichende Musikantinnen? Ein feststehendes Quartett ist das wohl nicht, wie ich einer Konversation zwischen zwei Besuchern vor dem Auftritt entnehmen konnte. Da kam ein Fan von einer der streichenden Damen aus Berlin (!) angereist – mit der Musik SÓLSTAFIRS kein Stück vertraut, doch willens, der Verehrten ein blumiges Präsent zu überreichen – und gab an, dass die Ladies sonst nicht zusammen spielen. Überprüfen lässt sich die Aussage nicht, weder der schwurbelige Promotext noch die Konzert-Agentur selber können oder wollen mit Informationen dienen über den rein weiblichen Klangkörper, der die Formation ebenso verstärkte wie der gleichermaßen im Dunkeln agierende Pianist auf der anderen Seite der Bühne.
Nun, das große Besetzungsbesteck war deshalb identisch mit dem der letzten Tour, weil es nur in Details Abweichungen im Programm gab. Der aktuelle Tonträger wurde etwas weniger bedacht, „Ótta“ (2014) dagegen etwas mehr. Hier wie dort schloss „Goddess Of The Ages“ vom Geniestreich „Köld“ (2009) das ganze überraschungsfrei ab. Der insgesamt zwei Stunden dauernde Auftritt (welcher durch eine knapp 10-minütige Pause nach etwa 45 Minuten Spielzeit unterbrochen wurde) barg jedoch mit „Necrologue“ (ebenfalls „Köld“) einen weit seltener dargebrachten Song über einen „verstorbenen Freund, der Probleme hatte mit Depression und Abhängigkeit“ (Tryggvason bei seiner ersten Ansprache nach „Hallo Aschaffenburg“, etwa nach eineinhalb Stunden Spielzeit). Auch ein sehr ruhiges Stück, naturgemäß.
Das alles war äußerst stimmungsvoll sowie mitreißend dargeboten und keine Sekunde langweilig – wer allerdings hoffte, von „Masterpiece of Bitterness“ mal wieder was zu hören (laut metal.de „das perfekte Album“) wurde einmal mehr enttäuscht. SÓLSTAFIRS erster Besuch in Aschaffenburg war trotzdem zum Niederknien (was in Berlin oder Bochum, wo die Isländer in Kirchen auftraten, wohl etwas leichter gegangen wäre). Selbst Stücke, die auf Platte verzichtbarer wirken wie „Dýrafjörður“ (Clip dazu unten) bezauberten live immens, was zum großen Teil auch auf das Konto der namentlich nicht erwähnten Gastmusikanten ging. Auf dem Weg zur klanglichen Einzigartigkeit ist das Quartett sowieso schon eine ganze Weile – und allein das ist ja schon Grund genug für Preisung und Lobhudeleien. Bin neugierig, was von den Kältecowboys in Zukunft noch zu erwarten sein wird.
Links: https://www.solstafir.net/, https://www.facebook.com/solstafirice, https://solstafir.bandcamp.com/, https://www.reverbnation.com/solstafir, https://www.last.fm/music/Solstafir
Text, Fotos & Clips: Micha
Alle Bilder:
Eine kurze Ergänzung zu den Gastmusikern:
Die Band hatte auf der Bühne Árstíðir-Keyboarder und Sänger Ragnar Ólafsson dabei. Er spielte bereits auf der 2017-er Tour mit.
Die streichenden Damen, oder auch „Solstastrings“ sind: Dalai Cellai (Berlin), Lotta Ahlbeck (Finnland), Rachel Roth (USA) und Helena Dumell (Finnland).