STEVEN WILSON

Alte Oper, Frankfurt, 19.01.2016

Steven WilsonWeniges, was unter der Bezeichnung „Progressive-Rock“ auf die Menschheit losgelassen wird, verdient meines Erachtens wirklich diese Bezeichnung, wie ich in diesem Blog schon das eine oder andere Mal erwähnt habe. Entwicklung und Fortschritt definieren den Begriff der Progressivität – häufig wird jedoch nur Altbekanntes scheinbar virtuos wiedergekäut und weder das Genre der Rockmusik allgemein noch das Œuvre einzelner Künstler in diesem Sinne weiter entwickelt. Wen man guten Gewissens als einen Innovator und Grenzenausloter und damit im Wortsinne „progressiv“ nennen kann, ist Steven Wilson. Der 1967 geborene Brite hat sich durch seine Band PORCUPINE TREE und Projekte wie NO-MAN, BLACKFIELD oder STORM CORROSION (mit OPETH-Mastermind und Bruder im Geist Mikael Åkerfeldt) ebenso einen Namen gemacht wie als Klangveredler klassischer Scheiben von JETHRO TULL oder YES.

Seine Faszination für außergewöhnliche Klänge hat ihn zu einem Feind der MP3 werden lassen – wie er z. B. über das Hören mit einem I-Pod denkt, kann hier und vor allem hier betrachtet werden. Folgerichtig kann man auch wenig bis gar nichts von seinen Werken bei den Streaming-Diensten abrufen. Seine Arbeit lässt er sich adäquat bezahlen, seine Werke sollen so gehört werden, wie er sie produziert: Auf CD oder LP, oder eben auf einer Konzertbühne.

Steven WilsonAuftritt gestern, Alte Oper: Der „Palazzo Protzo“, wie er nach seiner Eröffnung in den Achtziger Jahren genannt wurde, steht so ziemlich für das Gegenteil von allem, was auf dieser Website sonst präsentiert wird. Tatsache ist allerdings, dass der Klang im Großen Saal seinesgleichen sucht. Zumindest, wenn man wie ich fett, dekadent und mittig exakt in der Mitte des Balkons sitzt. Erste Reihe. Wenn schon, denn schon.

Als um halb Acht theatermäßig der Gong zum Einlass ertönte, wurde das Licht schon relativ bald sehr langsam gedimmt und die Hintergrundmusik kaum merklich immer ein wenig lauter, bis um Punkt Acht schließlich des Meisters aktuelle Band auf der Bühne stand. Die Ansprache nach den ersten Songs bestätigte, was alle Interessierten bereits vorher wussten: Der Abend würde Steven Wilsonetwas länger werden. Das aktuelle Album „Hand. Cannot. Erase.“ sollte komplett gegeben werden, inklusive das Werk genial illustrierende Filme auf einer Riesenleinwand hinter den Akteuren. Wilson zeigte sich selber beeindruckt von dem Bau, in dem er jetzt spielen durfte – bei den vorangegangenen Tourneen mit seiner Combo oder mit PORCUPINE TREE hatte es nur für die Neu-Isenburger Hugenottenhalle oder das Offenbacher Capitol gereicht. „Bestimmt ein Ort für heftige Steven WilsonRock’n’Roll-Shows“ meinte er verschmitzt und erwähnte freudig, erstmals hier spielen zu dürfen. Was auf ihn zutraf, nicht auf seinen Bassisten.

Durch das zweifelhafte Vergnügen, in jungen Jahren jeden Stuhl des großen Saals angefasst und gestapelt zu haben während eines lockeren Arbeitsverhältnisses zur Überbrückung ansonsten finanziell desaströser Zeiten, durfte ich einem Event im Jahre 1983 oder 1984 beiwohnen, welches mir ansonsten sicher erspart geblieben wäre: KAJAGOOGOO, die Justin Biebers dieser Zeit, traten auf und ich werde das Bild nicht mehr aus dem Kopf kriegen, wie Tonnen von Teddybären anschließend mit einem Riesenbesen von der Bühne gefegt wurden. Eine der mies frisierten Gestalten damals war Nick Beggs, seit einiger Zeit wichtigster Live-Partner von Steven WilsonSteven Wilson und in seiner Vergangenheit mit diversen Mehr-oder-weniger-Künstlern wie Kim Wilde, RIGHT SAID FRED, Steve Hackett oder dem großartigen David Arnold zugange. An der Gitarre stand der sehr überzeugende Dave Kilminster (vorher Roger Waters zu Diensten); Adam Holzman an den Tasten arbeitete mit den Größten in Jazz und Funk zusammen (Miles Davis, Joe Lovano, Chaka Khan) und die Drums bearbeitete Craig Blundell von PENDRAGON. Eine Band zum Zunge schnalzen, bewegt man sich in solchen Kreisen.

Ich tue das normalerweise nicht, war aber trotzdem begeistert. Nach knapp 75 Minuten, das „Hand..“-Album war unter Mitwirkung der aus Israel stammenden Sängerin Ninet Tayeb zur Gänze aufgeführt, gab es eine kleine Pause, die von einem gemischten Programm aus älteren sowie noch neueren Stücken abgelöst Steven Wilsonwurde. Gleich der Opener „Drag Ropes“ vom STORM CORROSION- Werk sorgte für Begeisterung. Im Gegensatz zum Auftritt in London gab es aber keinen Besuch von Mikael Åkerfeldt. Macht nichts, war trotzdem toll. Im gefühlt etwas überlangen neuen Track von der bald erscheinenden Interims-Scheibe „4 1/2“ tobten sich die Herren ein bisschen jazzlastiger aus – ob es jedoch jazz-typisch Raum für Improvisationen gab wage ich, obwohl ich das Stück nicht kannte, zu bezweifeln.

Steven Wilson

Denn bei aller Klasse dieses Abends: Durch die Komplexität der Stücke sowie den genauen Ablauf mit den vorgegebenen Bildern war das schon ein ziemlich starres Konstrukt. Eine Bühnendarbietung von Stücken, die man genau so auch vor der Anlage zu Hause hören kann. Normalerweise nicht meine Steven Wilsonliebste Beschallung auswärts, aber Wilson konnte das spielend wettmachen mit seinen witzigen Ansagen. Irgendwann fragte er nach dem blödesten Publikum Deutschlands (einer brüllte natürlich „Offenbach“. Wilson meinte, dass er das leider nicht kenne, was, wie oben zu lesen war, ja nicht stimmt) und baute die folgende Antwort „München“ dann später in die Moderation bei der letzten Zugabe ein, dem PORCUPINE TREE-Stück „The Sound Of Muzak“.

Was den Abend jedoch letztlich für mich zu einem perfekten machte, war Wilsons Anteilnahme an den verstorbenen Musikern der letzten Tage (nach Lemmy und Bowie kam kurz vor dem Konzert noch Glenn Frey von den EAGLES Steven Wilsondazu). Wenig überraschend machte ihm der Tod Bowies am meisten zu schaffen – Wilson sprach davon, dass er selbst oft „progressiv“ genannt werde, jedoch nur einer wie Bowie dieses Attribut wirklich verdiene. Dessen aktuelle Single „Lazarus“ veranlasste ihn, den gleichnamigen PT-Song gleichen Namens für ihn zu spielen. Später, in der ersten Zugabe, brachte er noch mit Ninet Tayeb eine herzzerreißende Version von „Space Oddity“.

Nach drei Stunden war die Messe gelesen und alle, wirklich alle waren begeistert. Auch der Sänger von AHAB, der drei Plätze von mir entfernt saß. Und sogar die paar HiFi-Snobs, die aus Gründen der Vollständigkeit am „Sound der Snare-Drum“ rummäkeln mussten. Schwachköpfe. Für mich war das ein Steven WilsonSoundoverkill vom Feinsten, selten so etwas Tolles erlebt. Zuhause dann noch ein wenig PORCUPINE TREE gestreamt am Rechner, bei denen geht das wenigstens noch teilweise. Ein schönes Vinylalbum habe ich mir auch zugelegt, trotz fehlendem Plattenspieler zur Zeit. „Downloadcode included“, steht da auf der Hülle. Aufgerissen, durchsucht, nichts gefunden. So ein Fuchs, dieser Wilson.

Links: http://stevenwilsonhq.com/, https://www.facebook.com/StevenWilsonHQ/, http://www.last.fm/music/Steven+Wilson

Text, Fotos & Clips: Micha

Alle Bilder:

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