Centralstation, Darmstadt, 20.04.2017
Damit sich nachher bloß keiner beschwerte, war es vor dem Konzert am 7.11.1985 an der Tür der Frankfurter Batschkapp angeschlagen: „THE JESUS AND MARY CHAIN spielen nie länger als 30 Minuten“ stand da, sinngemäß. Kann sein, dass die Vorband METALLGEMÜSE länger auf der Bühne stand. Anlass zur Sorge, dass Blut fließt und der Laden kurz und klein gehauen wird, gab es vorher schon – Berichten zufolge waren die Youngster Jim (voc) und William Reid (git) sowie der spätere PRIMAL SCREAM-Sänger Bobby Gillespie am Schlagzeug nicht zimperlich und prügelten sich nicht nur gegenseitig, sondern auch mit Teilen des Publikums. Solche Auswüchse habe ich nicht mehr vor Augen (ich stand weit hinten, man weiß ja nie), aber ich erinnere mich, wie glücklich ich war, dass das Konzert ganze 33 Minuten dauerte. Welch ein Segen. In anderen Städten war die Chose oft schon nach 20 Minuten zu Ende.
Diese 33 Minuten, wie überhaupt der beworbene Langdreher „Psychocandy“ von 1985, veränderten mein musikalisches Leben. Aufgewachsen mit dem klassischen Rock’n’Roll der 50er Jahre und Ende der 70er mein Faible für heftigen Gitarrenrock entdeckend, war die Kombination von sanften Popsongs mit wavigem Drum- Sound und Gitarrenfeedbacks, die die Süße der Lieder konterkarierte und zu heftigstem tänzerischen Aggressionsabbau einlud, etwas bis dato ungehörtes und derber und gefährlicher als jede von mir geliebte Thrashmetal-Scheibe. Zwei Jahre später, bei „Darklands“ war der Drops für mich gelutscht, die Gitarrenwand passé, die Lieder nur noch nett. Und das mit Drummachine (Gillespie war schon draußen) und diesem Nichtgesang von Jim Reid, der dem Indiepop nicht gerecht wurde. Dachte ich damals.
Dadurch entgingen mir einige Alben mit wunderbaren Prä-Britpop – Aufnahmen, die jeder OASIS-Fan mal gehört haben sollte. Selbst der Zoff, den sich die Gallagher-Brüder von OASIS auf und neben der Bühne lieferten, konnte nicht anstinken gegen den, den die Reid-Brüder veranstalteten. Beim letzten Studioalbum vor dem aktuellen „Damage And Joy“, „Munki“ von 1998, sollen sie schon nicht mehr zusammen im Studio gewesen sein.
Nach „Munki“ war erstmal Feierabend. Laut den Interviews, die Jim Reid in den vergangenen Wochen allen relevanten Musikmagazinen gab, sowie dem Album-Opener „Amputation“, mit dem auch der gestrige Konzertabend begann, fühlte er sich aus der Rockgeschichte herausgeschnitten, „während ich nicht einmal eine Band hatte, spielten diese Idioten in der verdammten Wembley Arena“ (ME). Welches die Idioten sind, bleibt sein Geheimnis. Wahrscheinlich alle. Mit dem Produzenten Flood, der auch schon PINK FLOYD produziert hat, als KILLING JOKE-Bassist aber wohl mehr Credibility genießt, tüteten die sich hassliebenden Brüder nach diversen Konzerten zum dreißigsten Geburtstag von „Psychocandy“ ein Werk ein, welches Freunde des Gitarrenlärms ebenso verzücken kann wie Anbeter des Geschichten-erzählenden Popsongs – Produktionen von Girlgroups wie den RONETTES oder den SHANGRI-LAS sind als Einfluss unverkennbar. Häufig standen Jim Reid dabei Duett-Partnerinnen zur Verfügung, auf dem aktuellen Album sind das die jüngere Reid-Schwester Linda sowie Isobel Campbell, die mit Mark Lanegan bereits ähnlich klingende Alben geschaffen hat, Sky Ferreira und Bernadette Denning. Wer mit auf der Bühne in Darmstadt stand, um ein paar der Duette zu performen, weiß ich leider nicht. Wenn Jim Reid sprach, dann tat er das sehr leise (laut F.A.Z. war das wohl die im Vorprogramm spielende Laura Carbone. Nicht erkannt in dem Smog.)
Was man vom Rest des Konzertes nicht sagen kann. Nachdem Laura Carbone aus Mannheim (Bilder vom Gig in der Slideshow unten) ihren atmosphärischen, ein wenig an Gemma Ray erinnernden Dark-Folk-Rock zelebrierte (was sie auch ganz ansprechend tat – Freunde geschundener Gitarrensaiten konnten sich hier schon mal sanft einstellen auf das, was noch folgen sollte) und es vor der Bühne der Darmstädter Centralstation schon recht eng wurde, starteten TJAMC ihren 90minütigen Gig mit erwähntem „Amputation“, bei dem eine betagte, fleischige Gestalt im schwarzen Unterhemd sich verhielt, als wäre es immer noch 1985 und als wären wir alle noch um die 20. Das Gegenteil war der Fall, grau war die Haarfarbe der meisten Anwesenden, einige jüngere waren gekommen und viele Frauen dabei. Sich da wie ein Quirl durch den menschlichen Teig zu stoßen und dabei allen anderen im Publikum seine Art von „Feierlust“ aufzudrücken, ist assig und nicht retro.
Auf der Bühne blieb es allerdings friedlich: Zu sehen gab es fast ausschließlich bunt illuminierten Nebel, auch William Reid war kaum zu erspähen, obwohl er, im Gegensatz zu Jim, seine Eighties-Friese noch trägt – grau halt, inzwischen. Aber das war Rock’n’Roll, mit sägenden Gitarrenwänden und einer Energie, die die SISTERS OF MERCY, die ja auch nostalgisch auf Tour sind dieses Jahr, seit etwa 25 Jahren verloren haben. Von „Munki“, dem vorletzten Studioalbum und laut Jim Reid „sein liebstes“ (Rolling Stone) wurde nichts gespielt, ansonsten gab es von jedem was. Auch, welch Freude, von „Psychocandy“. „Some Candy Talking“ kündigte es noch vor der Zugabe an, mit „Just Like Honey“, „The Living End“ und vor allem dem hypergenialen „You Trip Me Up“ ging es in ebendieser weiter. Inklusive Wall Of Sound. „Reverance“ von „Honey’s Dead“ (1992) blies vor der Zugabe schon alles weg mit seinem derbst zelebrierten Sixties-Fuzz. Beim letzten Song schließlich wurde noch mal von „Psychocandy“ zu „Damage And Joy“ geswitcht, „bei aller Liebe zu ‚Psychocandy’“, wie Jim Reid fast entschuldigend anmerkte. Nicht nötig. Tolle Platte, legendäre Band, großartiger Abend. Bleibt Euch gewogen, Jungs.
Links: http://thejesusandmarychain.uk.com/, https://www.facebook.com/JesusAndMaryChain/, https://soundcloud.com/thejesusandmarychain, https://www.last.fm/music/The+Jesus+and+Mary+Chain, http://www.lauracarbone.com/, https://www.facebook.com/lauracarboneofficial, https://soundcloud.com/laura-carbone-2/, https://www.last.fm/music/Laura+Carbone
Text: Micha / Fotos & Clips: Kai
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