Essigfabrik, Köln, 6.04.2022
Für einige Künstler lief es mit ihren anvisierten Tourneen seit Anfang 2020 eher semi: Touren wurden zum Teil bis zu viermal verschoben und umverlegt, bis viele irgendwann komplett abgesagt wurden bzw. werden. Andere hatten das Glück, ihre Termine in ein Zeitfenster gelegt zu haben, das als solches im Vorfeld nicht unbedingt auszumachen war. Für andere wiederum offenbarten sich durch den Lockdown ungeahnte kreative Möglichkeiten. Die Tour mit AMENRA, Jo Quail sowie dem speziellen Gast GGGOLDDD, die noch bis zum 19. April weitergeht und für Quail wie auch GGGOLDDD in Auftritten auf dem legendären Roadburn Festival mündet, erwischte ein perfektes Zeitfenster: Alle Maßnahmen, welche die Organisation oder den Besuch eines solchen Events erschwerten, sind erstmal vom Tisch. Keiner weiß, wie lange. Also rein in den Mietwagen und ab Richtung Köln, das vor der Pandemie häufig und gerne von mir ob seiner kulturellen Angebote aufgesucht wurde. Ein Besuch, bewegend auf vielen Ebenen.
Nennt mich sentimental, aber ich war schon geflasht vom Anblick des Doms aus dem Auto heraus. Allzu nah kam ich ihm aber nicht – der Veranstaltungsort Essigfabrik liegt am Hafen, vor ihm die ewig lange Siegburger Straße, die in unmittelbarer Nähe zur Versorgung bloß einen Lidl sowie eine Tankstelle anzubieten hat. Daneben die Ellmühle mit dem prägnanten „Aurora-Sonnenstern“, die verlassen und zum Teil schon in Trümmern ein zu diesen Zeiten unwohles Gefühl beschert. Vielleicht ist unser Zeitfenster ja nicht nur eines in der Pandemie.
Auch wenn Düsternis beim zu erwartendem Programm durchaus thematisch eine Rolle spielt, so war die Stimmung bereits vor Halle sowie Einlass eine ganz andere. Kennzeichen aus weiten Teilen der Republik zierten die herannahenden Fahrzeuge, dabei (vielleicht subjektiv wahrgenommen durch meine Frankfurter Brille) auch einige aus dem Rhein/Main-Gebiet. Bekannte wurden entdeckt und neue Bekanntschaften geschlossen. Ein äußerst respektvoller, fast schon freundschaftlicher Umgang herrschte den ganzen Abend hindurch vor, selbst in den folgenden vier Stunden in der ersten Reihe vor der Bühne. Egal ob jemand Maske trug oder eben nicht. Nennt mich einen Pessimisten, aber ich bezweifle, dass das generell so bleiben wird.
Um sieben Uhr ging es hinein, pünktlich um 19.30 Uhr baute dann Jo Quail ihr Cello auf. Zum vierten Mal durfte ich sie erleben, das zweite Mal in Köln. Jedes Mal eröffnete sie dabei. Die Cellistin beackert ein spannendes Feld zwischen Neo-Klassik, Avantgarde oder Post-Rock und hat Kollaborationen u. a. mit MONO, BORIS, Emma Ruth Rundle oder FM Einheit (of NEUBAUTEN-Fame) vorzuweisen. 2020 sollte sie auf dem Roadburn Festival ein in Auftrag gegebenes Orchester-Werk aufführen, das darüber hinaus endlich eine Headline-Tour zur Folge gehabt hätte. Auch in Köln. Es hat nicht sollen sein.
Ende des Monats wird es nun hoffentlich mit ihrem Festivalbesuch klappen, das dazugehörende Album „The Cartographer“ erscheint am 6. Mai und ist allein durch Vorbestellungen zumindest in den luxemburgischen Amazon-Klassik Charts aktuell auf Platz 22 vertreten, während unsere durch Nigel Kennedy oder (hust) David Garrett dominiert werden. „This strikes me as funny because it’s neither classical (in my opinion) or released yet, but makes me very happy!“, so Quail dazu auf ihrer Homepage. Köln wurde also mal wieder durch drei Oldies verwöhnt: „Rex Infractus“ („From The Sea“, 2010) als Opener, ihr Herzensstück „Gold“ („Five Incantations“, 2016) sowie „Adder Stone“ („Caldera“, 2014) zum Abschluss.
Wie immer war es mitreißend zu hören und zu sehen wie Quail ihre Sounds mittels Loop-Station multipliziert und sich zum elektronischen Kammer-Orchester hochjazzt – mehr als eine Duftmarke, eine Standortbestimmung wie „Ich bin noch da“ war das letztlich jedoch nicht. Dafür fehlte mit 35 Minuten Spiel schlichtweg die Zeit. Man kann nur hoffen, dass Quail nun endlich ihre weitergehenden kreativen Schritte vor Publikum ausleben kann und die Menschen auch zu Veranstaltungen gehen, auf deren Plakaten ihr Name in Großbuchstaben prangt. Zeit dafür wird’s.
Die Niederländer GOLD haben ihrer Band aus Gründen der besseren Suchmaschinen-Findung inzwischen den Namen GGGOLDDD verpasst. Mission gelungen, trotz der Ähnlichkeit mit GGOOLLDD (USA) und dem Ärger, den last.fm-Nutzer nun verspüren, weil ihre Sammlung an gehörten GOLD-Songs nicht auf das GGGOLDDD-Konto übertragbar ist. Naja, unwichtiger Nerd-Kram.
Die Zwangspause durch Corona erwischte die Truppe um das Paar Milena Eva (voc., Texte) und den Ex-THE DEVIL’s BLOOD-Gitarristen Thomas Sciarone auf eine andere Weise als Jo Quail. Ihr bis dato durch vier Alben geprägter Weg von halb-origineller Rockmusik zum immer autobiographischer und damit verletzlicher werdenden, zunehmend elektronischer klingenden Post-Rock erfuhr just eine Zäsur wie durch einen Katalysator. War „Why Aren’t You Laughing“ bereits lyrisch viel persönlicher als die drei Vorläufer, wurde Milena Eva während des pandemischen Innehaltens zunehmend mit einem unverarbeiteten Trauma ihrer Vergangenheit konfrontiert: ihre als 19-Jährige erlebte Vergewaltigung durch eine Vertrauensperson.
Zum nur online stattgefundenen Roadburn Redux 2021 (Bericht hier) entstand „This Shame Should Not Be Mine“ und kam dort zur Aufführung – seit dem ersten April 2022 ist dieses Werk nun als Studioalbum zu erstehen; Erstauflage inklusive des Redux-Auftritts, den man sonst nirgendwo bekommt. Ein verstörendes Konzeptalbum über die Verarbeitung dieses Verbrechens, welche ihre Fortsetzung fand in der Livedarbietung vor einem Publikum, das nur in Teilen begriff, was sich vor ihm gerade abspielt.
In Köln wirkte die in schwarzem Tüll agierende Eva weitaus gelöster und kontaktfreudiger als bei den Auftritten, die ich bisher von ihr sah. Das ist jedoch auch aus banaleren Gründen nicht verwunderlich: GGGOLDDD wurden als Special Guest von ULTHA auf deren Unholy Passion Fest IV von ENDSTILLE-Ultras gemobbt (mehr dazu hier); in Aschaffenburg 2020 mussten sie dagegen vor ganzen 43 Leuten auftreten, ebenso ein nachvollziehbarer Motivationskiller (unser Bericht dazu hier).
Befreiende Schmerz-Verarbeitung ist das, was GGGOLDDD mit dem Headliner AMENRA verbindet und diesen Slot so sinnvoll machte: Zum Glück wurde das auch vom Publikum so empfunden. Die 45 Minuten glichen einem Siegeszug in der Domstadt, welcher sich ausschließlich aus Stücken der letzten beiden Platten speiste. Hardrock und vor allem abstrakte Erzählungen waren gestern, GGGOLDDD spielen Musik zur Zeit. Ich bin gespannt, wie das mit ihnen weitergehen wird.
Aber natürlich waren AMENRA aus Flandern (Belgien) die Stars des Abends, führender Teil des losen Kollektivs Church Of Ra, von dem uns zum Beispiel noch OATHBREAKER oder WIEGEDOOD bekannt sein könnten. Der Begriff „Ritual“ wird bei Konzerten von Formationen aus einer spirituell aufgeladenen Nische der harten Musik (Black Metal, Post Rock/Metal, Post-Hardcore u. ä.) fast schon inflationär verwendet – wenn er jedoch irgendwo Sinn ergibt, dann bei einer AMENRA-Show. Wer sie live gesehen hat, verfällt ihnen in der Regel und sucht nach Wiederholung – im Sinne einer reinigenden, kathartischen Kraft, die solch ein Auftritt offenbart und welche es besonders auch für die musikalischen Akteure bedeutet. Christina Wenig über die Konzerte AMENRAs im Magazin Visions: „Sie sind ein kollektives Verlorengehen in den Tiefen monolithischer Riffs und hypnotischer Repetition, ein Hineinstürzen ins Dunkel, um am Ende im Licht zu landen.“
Immer noch begreife ich nicht, was genau da passiert (so wie bei meiner ersten Begegnung mit AMENRA, über die ich hier berichtete), zumindest nicht vom Kopf her. Das lautmalerische Geschrei nebst dem Geflüster – selbst wenn es vorgebracht wird in einer Sprache die ich eigentlich verstehen könnte – in Verbund mit den kontrastreichen Illuminationen und der Heftigkeit der Gitarren-Eruptionen räumen auf mit Gedanken sowie Gefühlen des Leids, ordnen neu und lassen einen verweilen wie anschließend neu starten. Dass dabei Schmerz, Trauer oder Verlust die Antriebsfedern sind macht dieses Gefühl universell, wie auch immer die individuellen Auslöser dafür aussehen mögen.
„Intensiv“ wurde die Performance unisono von allen von mir Befragten gewertet, genau wie bei den vorangegangenen. Das betourte „De Doorn“-Album, das erste ausschließlich in flämischer Sprache welches anlässlich eines Feuerrituals des indonesischen Künstlers Toni Kanwa Adikusumah erschaffen wurde und damit einen Bruch zu den durchnummerierten Outputs vorher darstellt, nahm dabei mit zwei Stücken nur einen kleinen Teil des Auftritts ein. Die knapp 75 dargebrachten Minuten wurden dominiert von Höhepunkten aus „Mass III“ bis „Mass VI“, bei dem vor allem das älteste Stück „Am Kreuz“ frenetisch bejubelt wurde.
So weit, ohne die Hilfe von setlist.fm die Stücke alle zuordnen zu können, bin ich in meiner Verehrung für AMENRA bisher allerdings noch nicht. Ich arbeite jedoch daran. Am 13. Mai headlinen sie den ersten Tag des South Of Silence Festivals in Lohr am Main (die nicht minder faszinierenden RUSSIAN CIRCLES dann den Folgetag dort) – und man kann nur hoffen, dass wir dann immer noch in einem Zeitfenster stecken, das uns solch einen emotionalen Kunstgenuss ermöglicht.
Links: https://www.churchofra.com/, https://www.facebook.com/churchofra, https://amenra.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Amenra, https://gggolddd.com/, https://www.facebook.com/GGGOLDDDofficial, https://gggolddd.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/GGGOLDDD, http://www.joquail.co.uk/, https://www.facebook.com/JoQuailCello, https://joquail.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Jo+Quail
Text & Fotos: Micha
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