Batschkapp, Frankfurt, 11.11.2019
Die Schweden sind, popmusikalisch (und vermutlich sonst auch) beeindruckende Menschen. Den Rock’n’Roll haben sie natürlich nicht erfunden, allerdings erstaunlich viele relevante Beiträge zu der Geschichte unserer Lieblingsmusik geliefert. Das mag am viel gepriesenen schwedischen Bildungssystem liegen und ebenso daran, dass Serien und Filme in Schweden eher in der Originalsprache zu sehen sind statt, wie zum Beispiel bei uns in Deutschland, synchronisiert. In der Pop- und Rockmusik gibt es zahllose Beispiele von Künstlern, die nicht nur durch perfekte Sprachbeherrschung glänzen sondern auch die musikalischen Traditionen der USA aufgesogen haben – so sehr, dass niemand auf die Idee käme, Festland-Europäer beim Musizieren zu erleben. Großbritannien, klar, da kann man das. Bei den skandinavischen Nachbarn von Schweden oder in den Niederlanden gibt es das auch häufig. Aber in so einer Menge wie in Schweden? Vielleicht ist mein Blick nach einer Konzertwoche mit Anna Ternheim sowie OPETH gerade diesbezüglich leicht getrübt, aber neben diesen fallen einem ja noch etliche andere ein: FIRST AID KIT (wenn die nicht uramerikanisch klingen weiß ich auch nicht), Kristofer Åström, MANDO DIAO, die HELLACOPTERS und die ganze schwedische Rotz-Rock-Mischpoke sowie viele, viele mehr.
Anna Ternheim aus Stockholm spielt in diesem Zusammenhang ganz vorne mit: Ihre neueren Lieder sind geprägt von der Entspanntheit kalifornischer Töne. Nicht umsonst erinnerte sie in der Frankfurter Batschkapp an Tom Petty – um gleichermaßen zu konstatieren, dass „nur Tom Petty Tom Petty-Songs schreiben konnte“. Sehr wahr, aber „A Space For Lost Time“, ihr aktuelles Album, kommt dem schon recht nah. Wobei diese Leichtigkeit auch einer Art „Altersmilde“ geschuldet sein dürfte. Inhaltlich hat sich nämlich nicht so viel verändert bei Ternheims Songs – noch immer klappt es höchstens eine kleine Weile mit der Beziehung („Maybe we get lucky maybe only for a while“ – aus „All Because of You“) bis es Zeit wird für jemand Anderen, der Einsamkeit gefrönt wird oder gar dem Suizid.
Je älter ihre Stücke sind, desto trüber ihre Texte. „To Be Gone“ (2004) singt sie immer noch, auch auf dieser Tour und in der Batschkapp. Allerdings unterscheidet sich ihr Auftreten heutzutage mit all seiner Farbenpracht in der Beleuchtung sowie dem hellen Oberteil über ihrem eigenen Tour-Shirt extrem von der morbiden, schwarz gewandeten Ternheim, die 2007 in der Brotfabrik gastierte oder 2009 in der alten Batschkapp. Schweden – düster, schwermütig und lichtarm – da wurde ein Schuh draus in der klischeebeladenen Wahrnehmung. 2012 in der Union-Halle (sehr schöner Bericht dazu hier) wurde in Begleitung des US-Amerikaners Dave Ferguson ihr damals aktuelles Album bedacht – ebenfalls wie das neue in den USA eingespielt, jedoch in Nashville und dadurch folgerichtig country-mäßiger.
Seitdem erweitert sich nicht nur der Ternheimsche Klangkosmos, nein: Der eigene Umgang mit den beschriebenen Obsessionen, Leidenschaften oder Ängsten wird selbstironischer und offener im Vortrag. Ihre Band, bestehend aus Ola Winkler (Schlagzeug), Rasmus Lindelöw (Keys, Trompete, Akkordeon) sowie Deniz Erarslan (Gitarren, Bass) unterstützte sie dabei in der Batschkapp auf erlesene Weise zurückhaltend bis eskalierend. Überhaupt, die rar gesäten Up-Tempo-Nummern: Die meisten Freunde der Musik Ternheims schätzen die leisen, intimen Momente. So auch der Rezensent der Offenbach Post, Oliver Signus, den der Solo-Piano-Part in „Shoreline“ (ein Cover der schwedischen Combo BRODER DANIEL, welches sich Ternheim bereits 2004 zu eigen machte) am intensivsten berührte. Meine Live-Favoriten hingegen sind die (gestern nacheinander vor der Zugabe gespielten) Stücke „What Have I Done“ sowie „Let it Rain“, bei denen die Band aufdrehen und Ternheims Stimme auch mal laut sein darf. Gänsehaut – passend zum Sankt Martins-Tag, an dem der Gig stattfand. Wobei jeder Moment eines Ternheim-Konzerts überzeugt; was wohl auch der körpermodifizierte Gast in der Mitte der ersten Reihe bestätigen würde: Mit seiner Präsenz bei zahllosen Auftritten brachte er es zu anerkennender Bemerkung in Ternheims Foto-Tagebuch auf deren Homepage („He’s been probably to 50 of my shows“).
Analog zum letzten Sophie Hunger-Konzert am selben Ort war die Batschkapp halbiert, jedoch mit offenem Durchgang zum hinteren Bereich. Der so verkleinerte Raum war jedoch recht voll und beherbergte damit weit mehr Gäste als das Zoom während ihres letzten Auftritts in Frankfurt 2016. Diese durften sich über eine Setlist freuen, die neben sechs Songs der neuesten Platte durchschnittlich ein- bis zweimal fast jedes ältere Album streifte und mit dem einzigen auf Schwedisch intonierten Stück „Minns det som igår“ noch ein spezielles Kleinod offenbarte. Dieses Lied, im Original eine schottische Weise aus dem 18. Jahrhundert („Auld Lang Syne”), ist jedem vertraut, der alte US-Filme mag: Als Verabschiedung des alten Jahres, eines geliebten Menschen oder einer Phase im Leben wurde es im klassischen Hollywood-Kino fast inflationär eingesetzt. Was das wohl bei Anna Ternheim bedeuten mag? Ich bin gespannt. Auf jede neue Phase in ihrem Werk wie auf alle ihre vergangenen.
Links: https://www.annaternheim.com/, https://www.facebook.com/annaternheim, https://soundcloud.com/annaternheim, https://www.instagram.com/annaternheim/, https://www.last.fm/de/music/Anna+Ternheim
Text & Fotos (15): Micha
Fotos (5): Gerhard Kohlheyer
Alle Bilder: