Batschkapp, 16.07.2013
Wenn man zu später Stunde bei infernalischer Lautstärke eingezwängt inmitten von Menschen steht, von denen 90 Prozent problemlos seine Kinder sein könnten, bei gefühlten 50 Grad Celsius keinen trockenen Faden mehr am Leib hat und Fußtritte gegen den Kopf und die Schultern billigend in Kauf nimmt, scheint da irgendwas falsch gelaufen zu sein. In der eigenen Jugend verhaftet geblieben, die Kurve nicht bekommen oder halt einfach nichts dazugelernt? Mitnichten. Was alle Anwesenden am gestrigen Konzertabend einte, war die Sympathie für eine großartige US-Punkrock-Band, die dieser Tage mit einer ausgedehnten Europa-Tour durch vierzehn Länder ihr zwanzigjähriges Bestehen feiert: ANTI-FLAG.
Doch erzählen wir die Geschichte von Anfang an: An der Abendkasse der Frankfurter Batschkapp gab es noch einen kleinen Stapel Eintrittskarten, so dass zu vermuten war, dass die Halle nur knapp ausverkauft, und nicht, wie auch schon oft genug erlebt, völlig überfüllt sein würde. Irgendwie beruhigend. Dennoch war schnell klar, dass die Freunde des engeren Körperkontakts hier auf ihre Kosten kommen würden und dass diejenigen, die den Weg nach vorne an die Bühne finden sollten, während des weiteren Konzertverlaufs wohl auf Getränkenachschub würden verzichten müssen.
Den Anfang machte die Formation APOLOGIES, I HAVE NONE aus London. Warum die Jungs in einigen Reviews derzeit in die Punk-Ecke gesteckt werden, erschloss sich mir allerdings nicht. Für mich ist das eher ein Midtempo-Rock- Ding, das mich – ich sag’s, auch wenn mich einige nun gedanklich steinigen werden – wenig mitriss. Ein paar Millimeter bewegten sich die Fersen nach oben und die Knie nach vorn, mehr Zuckungen entlockte diese Musik meinem Körper nicht. Ganz im Gegensatz zum AIHN-Bassisten, der sein Kreuz im schnellen Wechsel dermaßen nach vorn und hinten beugte, dass ich Angst hatte, ihm bricht gleich das Rückgrat. Fand ich für das Tempo der Songs etwas übertrieben, aber bitte schön, sind ja seine Bandscheiben. Im übrigen werde ich die Combo gern unserem Experten Micha ans Herz legen, damit er eines Tages differenzierter über sie berichte als ich.
Das Quartett ist jedenfalls, glaubt man der Musikpresse, momentan auf dem aufsteigenden Ast und wurde vom Publikum dementsprechend abgefeiert; besonders den Jungs in den häufiger gesichteten GASLIGHT ANTHEM-Shirts dürfte die Show gefallen haben. Der Gig endete dennoch schon nach einer halben Stunde; die aktuell geltenden Auflagen in der „alten“ Batschkapp lassen
wohl bei der Gestaltung des Ablaufs wenig Spielraum: 20 Uhr Start des Support- Acts, Schluss um Punkt 20.30 Uhr, danach Umbau und pünktlich um 21 Uhr Beginn des Headliners ANTI- FLAG (links).Und so kam es dann auch: Nachdem die letzten Takte von WIZO’s „Pippi Langstrumpf“ (bei den Kids besonders beliebt) vom Tonband sowie der anschließende „Antifascista“-Sprechchor aus dem Publikum verklungen war, legten Frontmann Justin Sane (unten), Bassist Chris Barker (stilecht im „Punkrock Ruined My Life“- Shirt), Gitarrist Chris Head und Schlagzeuger Patrick Bollinger alias Pat Thetic los. Die Jungs aus Pittsburgh haben sich in den vergangenen zwei Dekaden eine treue Fangemeinde erspielt (u. a. über 30.000 Follower allein bei Twitter, da muss man als Punk-Act erstmal hinkommen), im Durchschnitt alle zwei Jahre ein (meistens gutes) Album abgeliefert und im übrigen durch ihr politisches Engagement aufhorchen lassen. Auf letzteres näher einzugehen, führt an dieser Stelle zu weit. Es lohnt aber, sich mal anzulesen, wie sich die Band durch klare, sozialkritische Ansagen positioniert und sich dabei, vor allem in ihrem Heimatland, nicht nur Freunde macht. Auch dafür schätze ich sie sehr.
Das Publikum drehte vom ersten Song an (Opener: „This Machine Kills Fascists“) richtig am Rad. Ich will nicht sagen, dass der Aufenthalt in den ersten Reihen beim TOY DOLLS-Konzert vor ein paar Monaten dagegen ein Kindergeburtstag war (denn die Kinder waren ja alle hier), aber wer nicht aufpasste, hatte aufgrund der vom Start weg aufkommenden Crowdsurfing- Mania in nullkommanichts einen Turnschuh im Gesicht. Bang! Nachdem jedermann gecheckt hatte, dass die sonst stets durchgreifende Security – wohl auf Geheiß der Band – die Stagediver gewähren ließ, jagten die Jungs im späteren Verlauf des Konzerts fast im Sekundentakt von der Bühne; mal segelten sie direkt über einem, mal flog der Kelch vorüber.
Einer brachte sogar mehrfach den eingesprungenen Salto (zu sehen in einem Clip hier). Respekt. Auch die Mädels wollten da nicht zurückstecken; wohl noch nie habe ich so viele vom Podest springen sehen. Und berichtete Kollege
Marcus kürzlich in seinem Artikel über RISE OF THE NORTHSTAR (hier) über einen Circle Pit im nur wenige Meter entfernt gelegenen Elfer, so können wir konstatieren, außerdem einem solchen mit rund 50 schwitzenden Leibern in der Kapp beigewohnt zu haben. Scheint in zu sein bei den jungen Leuten. Aber warum rennen die eigentlich immer gegen den Uhrzeigersinn?Dominierend vertreten im zwanzig Songs umfassenden Set waren die „For Blood and Empire“-LP von 2005 („The Press Corpse“, „Hymn for the Dead“, „One Trillion Dollars“) und die noch aktuelle 2012er-Scheibe „The General Strike“ („Broken Bones“, „1915“, „This is the New Sound“). Einer meiner Lieblingstracks, „Fuck Police Brutality“ vom Debütalbum „Die for the Government“, wurde erfreulicherweise ebenfalls gespielt. Weitere Highlights: „911 for Peace“ und „A New Kind of Army“. Insgesamt spiegelte die Auswahl, wie sich das für eine Jubiläumstour gehört, alle Schaffensphasen des Vierers gut wider. Nach 80 Minuten war die Messe gelesen, nachdem die Band getreu ihrer politischen Attitüde mit ihren Versionen von „ The KKK Took My Baby Away“ (RAMONES) und „Nazi Punks Fuck Off“ (DEAD KENNEDYS) sowie dem eigenen Song „You’ve Got To Die For The Government“ noch drei Kracher rausgehauen hatte.
Die obligatorische After-Show-Party entfiel leider, da die Bar des Elfers in der Maybachstraße bekanntlich vor zwei Wochen ihre Pforten für immer dicht gemacht hat. Ärgerlich, hätte man dort seine
Klamotten nach dem Auswringen (da kam tatsächlich jede Menge Brühe raus) und sich selber prima trockenlegen können. Vor der Tür machte dann noch der Kalauer „Schade, dass die Kapp bald zumacht – wo doch die Heizung so gut funktioniert!“ die Runde. Ich verließ das Gelände zwar völlig durchnässt, aber mit der Gewissheit, eine der aktuell besten Bands des Genres Melodic Punkrock gesehen zu haben. Dieser Gedanke wurde nur noch getoppt von Vorfreude: Die aufs nächtliche Dauerduschen.Links: http://www.anti-flag.com/, http://de.myspace.com/antiflag, http://www.reverbnation.com/antiflag1, http://apologiesihavenone.co.uk/, https://myspace.com/apologiesihavenone, http://www.lastfm.de/music/Apologies,+I+Have+None
Text: Stefan / Fotos & Clip (oben): Kai
Clip (unten): aufgenommen am Konzertabend von Wochenandy
Crowdsurfer-Galerie: