Schlachthof, Wiesbaden, 26.05.2015
Eingestellt war ich ja auf was ganz anderes, zumindest erhofft hatte ich einen anderen Verlauf des gestrigen Abends. Mit MELECHESH und vor allem mit TRIBULATION standen zeitgleich zu dem hier besprochenen Konzert zwei großartige Extrem-Metal-Bands, die auf unterschiedliche Art und Weise das Genre sprengen, auf der Bühne des Weinheimer Café Central. Ohne Auto, bzw. Fahrer lief aber nichts für mich mit Live-Metal im fernen Weinheim. Doch Grenzen wurden auch von AND SO I WATCH YOU FROM AFAR (ab jetzt nur noch ASIWYFA) und deren Support MYLETS im Kesselhaus des Wiesbadener Schlachthofes eingerissen, und das nicht zu knapp. Ich bin immer noch extrem hingerissen.
ASIWYFA stammen aus Belfast und gingen bisher komplett an mir vorbei. Da ich Zeit und, im Gegensatz zum Weinheimer Konzert, auch die Gelegenheit hatte das Kesselhaus aufzusuchen, ließ ich mich allein von der Vorankündigung des Schlachthofs anspitzen – der Oberbegriff „Post-Rock“ und die Zugehörigkeit der Band zum Label „Sargent House“ reichten als Empfehlung. Auf Sargent House veröffentlichen zum Beispiel die von mir sehr verehrten RUSSIAN CIRCLES (auch Postrock, aber anders), EARTH, WOVENHAND sowie MARRIAGES mit der wunderbaren Emma Ruth Rundle, deren Soloalbum eines meiner Lieblingsplatten überhaupt geworden ist. Und Chelsea Wolfe… Ach, ich gerate ins Schwärmen. Aber ASIWYFA? Kannte ich nicht. Waren jetzt aber echt keine schlechten Empfehlungen in meiner Welt. Also ab in den Zug nach Wiesbaden.
Als ich eintrudelte war es noch leer im Kesselhaus. Auf der Bühne standen viele Mikros und noch mehr Pedale – auf den Einsatz der menschlichen Stimme sollte also nicht verzichtet werden, wie sonst im Postrock oft üblich. Ziemlich exakt um 21 Uhr betrat ein schmächtiges Bürschlein das Podest, stellte sich vor als „Henry“, der auf der Bühne aber MYLETS heißt. Und was dann kam war ATEMBERAUBEND!! Für mich als Nicht-Musiker ist es schon schwer beeindruckend, was Schlagzeuger so tun. Nicht nur mit jeder Hand andere Rhythmen fabrizieren, sondern mit den Füßen gleich noch mit. Beherrscher einer Hammond-Orgel verehre ich zutiefst, auch wenn mir deren Sound nicht gefällt. Jede Hand auf einem anderen Keyboard und mit den Füßen noch Bass spielen: abartig. Schaut mal fünf Minuten lang Barbara Dennerlein zu, dann wisst Ihr, was ich meine.
Was Henry Kohen, also MYLETS, da abzog, setzte allem diesbezüglich die Krone auf. Auf den ganzen Pedalen rumspringend wie beim Zirkeltraining für Fortgeschrittene, spielte der 19-Jährige dabei noch Gitarre wie ein Berserker, sang und schlug außerdem auf einen Kasten ein, der ein Keybördchen gewesen sein könnte oder was darstellte zum Rhythmen abrufen, was weiß ich. Schroffelige Punkakkorde zu ekstatischen Beats, dazu die Seele aus dem dünnen Hals brüllend: ganz großes Kino. Hört man seine allein eingespielten Alben, mag einen ja die Vorstellung trösten, dass der Kerl alles nacheinander aufgenommen hat und sich vielleicht auch Zeit dabei ließ, aber live war das der Hammer.
30 Minuten Brachialgymnastik mit wenigen, aber sympathischen Konversationen („Wiesbaden“ korrekt ausgesprochen: 12 Points) ließen den US-Amerikaner die Bühne räumen, bevor er sich komplett in Schweiß auflöste, sichtlich angetan vom verdienten Zuspruch des Publikums, aber ebenso sichtlich angekotzt von dem Kerl in der ersten Reihe, der 29 von 30 Minuten nur zum Chatten auf das Handydisplay starrte. Da reist einer um die halbe Welt um direkt vor einem im übertragenen Sinne die Hose runterzulassen, liefert dabei eine mitreißende Show und wird noch nicht mal optisch zur Kenntnis genommen. Nicht schön. Das wäre auch vom Rand gegangen, voll war das Kesselhaus nämlich ganz und gar nicht (auch wenn viel mehr Leute kamen als bei TOMBS vor knapp einem Monat).
Angeblich füllen ASIWYFA auch schon Hallen mit mehr als 1000 Besuchern, glaubt man den Aussagen des Gitarristen Rory Friers auf der Homepage des Labels. In Luxemburg, zum Beispiel. In Wiesbaden war das noch nicht der Fall, ein Zehntel davon mag anwesend gewesen sein. Davon beanspruchten einige aber ziemlich viel Platz durch exzessive, aber nie gewalttätige Leibesübungen. Bei der soghaften Wirkung der Songs, die in den nächsten 90 Minuten dargebracht wurden, auch kein Wunder. Im Gegensatz zu den RUSSIAN CIRCLES z. B., die langsam eine Stimmung aufbauen, um dann alles crescendohaft zu beschleunigen, schießen ASIWYFA schräge Rhythmen durch die Luft. Die erinnern eher an Djentkünstler oder deren Papas MESHUGGAH oder THE DILLINGER ESCAPE PLAN, sind nur auf eine andere Art schräger – weniger metal-schräg, wenn ihr wisst, was ich meine. Auch nicht Doktorhut-schräg. Sondern eher verspielt-schräg. Zappa-schräg. In krasser. PIL-schräg. In ganz schnell.
Da ich von der Band vorher nichts kannte gab es für mich nicht die Möglichkeit, Lieder zu erkennen, ein Blick auf die Setlist offenbarte jedoch Stücke von allen bisher veröffentlichten vier LPs. Die zeigen eine Entwicklung vom rüden, gesanglosen Noise zu verspielteren Sounds, auf denen Stimmen zu hören sind, nicht immer als Gesang. Live geschah das eher umgekehrt; die Zugabe enthielt „Set Guitars To Kill“ als vorletzten Song‚ nuff said.
Eins noch: Jon Landau wurde in den Siebzigern berühmt durch sein Zitat, dass er die „Zukunft des Rock‘n‘Roll gesehen“ habe. Er meinte damit Springsteen, und der hat in dieser Review eigentlich nichts verloren, obwohl ich ihn sehr schätze. Aber dieses Zitat beherrschte während des Auftritts von MYLETS meine Gedankenwelt komplett. Was für ein Talent. Das sehen ASIWYFA wohl ähnlich: Auf Twitter ist vom „Wunderkind“ die Rede und mitspielen durfte das Energiebündel auch ein paar Minuten lang. Großartiger Abend, der gar nicht schlechter gewesen sein kann als das Konzert von TRIBULATION in Weinheim, die einfach noch mal wiederkommen müssen. Gerne im Doppel mit den Nordiren von ASIWYFA.
Links: https://www.facebook.com/mylets, https://www.reverbnation.com/mylets, https://mylets.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/Mylets, https://www.facebook.com/andsoiwatchyoufromafar, https://myspace.com/andsoiwatchyoufromafar, https://www.reverbnation.com/andsoiwatchyoufromafar, https://asiwyfa.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/And+So+I+Watch+You+From+Afar
Text, Fotos & Clips: Micha
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