Centralstation, Darmstadt, 20.07.2024
Zugegeben: Der zeitgleich stattfindende Auftritt der irischen Pagan-Black Metal-Band PRIMORDIAL im Frankfurter Nachtleben wäre mit den Inhalten dieses Blogs ein wenig kompatibler gewesen – aber man kann sich ja (leider) nicht zweiteilen und die Verabredung mit Blanco White stand bereits etwas länger. Im Gegensatz zu PRIMORDIAL fand ein Treffen zwischen uns bisher noch nicht statt – einen Auftritt im Wiesbadener Kesselhaus vor wenigen Jahren sagte White aus den bekannten pandemischen Gründen ab, einer im Vorprogramm des Indie-Folk-Singer/Songwriters Gregory Alan Isakov im Frankfurter Sankt Peter offenbarte sich mir nicht rechtzeitig. Wurde also mal Zeit. Und das, obwohl die lässig-entspannten Klänge des 1991 als Josh Edwards in London Geborenen gänzlich andere Bedürfnisse in mir befriedigen, als die von PRIMORDIAL es tun. Bedürfnisse, die eher etwas mit Entspannung bzw. Eskapismus zu tun haben.
Und mit Urlaub. Nachdem die Iberer den touristischen Zustrom aus dem Rest der Welt (verständlicherweise) stark begrenzen möchten und Flugscham durch die Klimakrise eine Rolle spielt, sind es gerade die andalusisch anmutenden Gitarrenklänge des Wahlspaniers White, die das innere Auge der Hörenden an weiße Strände mit blauen Meeren katapultieren; perfekterweise mit ein paar leckeren Papas Arrugadas mit Mojosauce an der Seite sowie einem Longdrink. In meinem Fall wäre das eine Literflasche San Miguel. White studierte andalusische Gitarre in der angeblich von Herakles gegründeten Stadt Cádiz an der Südküste Spaniens. Darüber hinaus spielt er Charango, eine kleine Gitarre aus den Anden – auch deren Technik hat er vor Ort in Bolivien studiert. Sein stimmlicher wie instrumentaler
Vortrag ist dabei sehr sanft – beides bleibt immer dem Song und dessen Stimmung untergeordnet. Es scheint kein Grund für ihn zu bestehen, plakativ Virtuosität zu demonstrieren.
White veröffentlichte bisher zwei LPs (2020 & 2023) sowie diverse EPs mit Songs, die man nicht auf den Alben findet und die zum Teil zu seinen absoluten Sternstunden gehören. Mit einem davon, „Colder Heavens“ von der gleichnamigen EP von 2017, fing der sowohl mit Lottie Gabriel an Violine nebst Keyboard als auch Alec Hewes an weiteren Saiteninstrumenten und Trommel verstärkte White pünktlich um 20 Uhr an und machte damit schon mal eine Ansage – gehört das Stück doch zu seinen beliebtesten, wie man an den euphorischen Reaktionen im Publikum bestätigt bekam.
Dieses Publikum bestand zum größten Teil aus Paaren, die sich bereits etwa eine Stunde vor der Einlasszeit auf dem Platz vor der Centralstation durch sanfte, musikalische Nichtigkeiten, die von der Darmstädter Institution DJ Kemal serviert wurden, einstimmen ließen. Im Saal schließlich wurde es dann etwas enger vor der Bühne – das hintere Drittel wurde durch einen Vorhang abgehängt und die Anwesenden dadurch zu mehr Bühnennähe genötigt. Ein Alleinstellungsmerkmal sicherlich auf dieser „Summer Festivals“-Tour, bei der White ansonsten auf den großen Open Air-Bühnen vor LONDON GRAMMAR (Latitude Fest) oder PEARL JAM (Mad Cool Festival) auftritt. Das „Festival“ in Darmstadt ist dagegen eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel Merck Sommerperlen, bei der zum Beispiel am 8. August noch Anna Ternheim gastiert.
Mit „Colder Heavens“ also schon mal auf Betriebstemperatur gebracht, kredenzte das Trio mit „Una Noche Mas“ danach einen Song vom aktuellen Album, der nicht nur vom Tempo her so rein gar nichts mit dem gleichnamigen Lied von Jennifer Lopez zu tun hat. Melancholisch, fast schon schwermütig, wird hier einer Beziehung hinterher geweint. White freute sich anschließend, erstmals in Darmstadt gastieren zu dürfen und vor allem dem nasskalten Wetter in England entflohen zu sein. Mit „El Búho“ ging es klassisch weiter, noch ein Song von 2017, bevor mit „Mano a Mano“ der erste komplett spanische Vortrag vom Debüt-Langspieler kam.
Interessanterweise brachte das Trio während seiner knapp 80-minütigen Darbietung nur drei Stücke der letzten Scheibe zu Gehör – das durch diverse Versionen wie Remixe veredelte „Tarifa“ fehlte zum Beispiel. Vielleicht war das auch der Trio-Besetzung geschuldet: Bei Blanco White weiß man nie vorher, was man bekommt – ob eine Duo-, Trio- oder gar Solo-Besetzung oder eine komplette Band. Fakt ist aber ebenso, dass die beiden kongenialen Kolleg*innen durch ihre Virtuosität sowie Multiinstrumentalität fast schon als komplette Band durchgehen. Lottie Gabriels Geigenspiel und ihr Background-Gesang war zum Niederknien, Hewes unaufdringliches Spiel ließ immer mal wieder seine Virtuosität durchblicken, die er auch schon auf dem Deutschen Jazzfestival in Frankfurt 2022 offenbarte. Am beeindruckendsten war das bei „Samara“, dem letzten Stück in der Zugabe, dass das Trio laut White am Vorabend „verkackte“ und für dessen Gelingen in Darmstadt keine Haftung übernommen wurde. Es gelang, ganz besonders wegen Hewes, aber ebenso weil es einfach ein hervorragender Song ist, welcher darüber hinaus zu mehr tanzender Bewegung einlädt.
Vorher brachte White noch solo ein spanisches Lied der venezolanischen Legende Simón Díaz, „La Tonada De La Luna Llena“, zu Gehör, sowie, nanu, eines von Nick Cave: „We No Who U R“ ist der Opener von dessen Meisterwerk „Push The Sky Away“ und passt mit seiner dezenten Zivilisationskritik perfekt in das Set von White. Halbtanzend nahm dieser wundervolle Konzertabend um kurz vor halb Zehn sein Ende, draußen gab es noch ein paar Sonnenstrahlen zu erhaschen. Blanco White hatte nichts zu verkaufen dabei, er bot allerdings ein paar „hugs and chats“ nach dem Auftritt an. Ich verzichtete entzückt, hoffe aber auf ein baldiges Wiedersehen.
Links: https://www.blancowhite.info/, https://www.facebook.com/blancowhitemusic, https://www.instagram.com/blancowhitemusic/, https://www.youtube.com/channel/BlancoWhite, https://www.last.fm/music/BlancoWhite
Text & Fotos: Micha
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