Zoom, Frankfurt, 6.11.2019
Als der Türsteher die Pforte des Zoom mit leichter Verspätung kurz nach 20 Uhr öffnete, wirkte er überrascht beim Anblick der höchstens 15 Anwesenden, die größtenteils das ein paar Tage zuvor besuchte Konzert von DAF in Wiesbaden Revue passieren ließen: „Das soll ausverkauft sein? Und nur so wenige Leute hier?“ Die meisten Frankfurter sind nun mal entspannt unterwegs und besuchen die Clubs frühestens um 20.45 Uhr, auch wenn der Beginn für 21 Uhr terminiert ist. Ich aber nicht, denn ich könnte sonst keinen adäquaten Platz zum Fotografieren bekommen. Nun, einen Platz vorne ergatterte ich, der unter Schmerzen gehalten werden wollte – nicht bis 21 Uhr, sondern noch weitere 30 Minuten, bis HANTE. aus Paris den Reigen eröffneten. Die Schmerzen sollten im Laufe des Abends ziemlich uninteressant werden, weil einfach zu geil war, was geschah. Spoiler: Neue Lieblingsband gefunden.
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BOY HARSHER (ursprünglich aus Savannah, Georgia – inzwischen aus Northampton, Massachusetts) sind ein Duo, bestehend aus Jae Matthews an den waffenscheinpflichtigen, sexy Vocals und Agustus Muller an den Synths. Böse Zungen könnten monieren, dass BOY HARSHER eine Retro-Band seien – nicht ohne Grund waren DAF-Fans im Haus sowie weitere, die alterstechnisch durchaus noch JOY DIVISION gesehen haben könnten. Aber nicht nur – im Pit wurde später lautstark gefeiert und gefilmt von vielen jungen Menschen. Das Treffen der Generationen bei BOY HARSHER könnte deswegen so hervorragend funktionieren, weil das Duo das Kunststück beherrscht, souverän die Historie des Dark- oder Cold-Wave anzutriggern ohne dabei gestrig zu klingen.
Versatzstücke aus Ambient, Industrial und Synth-Pop machen Menschen mit Vorlieben von NEW ORDER bis THROBBING GRISTLE glücklich, dabei kompositorisch jedoch extrem eigenständig sowie, im Gegensatz zu so mancher Wave-Ikone der Vergangenheit, alles andere als „cool“ oder „ätherisch“. Hier wird gitarrenlos gerockt vom Feinsten. (Fast) überflüssig zu erwähnen, dass es BOY HARSHER damit auch auf das Billing des nächsten Roadburn-Festivals geschafft haben – kuratiert von James Kent (aka PERTURBATOR), allerdings ohnehin schon ausgespäht von den Roadburn-Machern (Näheres dazu hier).
Außerdem dort anwesend: HANTE., ebenso wie Kent aus Paris und gleichsam mit PERTURBATOR eine nur aus einer Person bestehende Formation. Die Person heißt in diesem Fall Hélène de Thoury und war in den vergangenen Monaten häufiger in Frankfurt zu sehen – sei es als HANTE. oder als Teil des kürzlich erst im Nachtleben gastierenden Duos MINUIT MACHINE. Auch hier: Synthies und Gesang, ähnlich im Klangbild wie der Headliner und doch ganz anders. Die Roadburn-Homepage bringt es auf den Punkt: „If you’ve come searching for warm fuzzy feelings, you’re not likely to find them with HANTE.“ Cold-Wave im Wortsinn, Kühlschrank-Ästhetik. Durchaus auch tanzbar, vokal aber meilenweit entfernt von der leicht angerauhten und Nackenhaare aufstellenden Intonation der später auftretenden Jae Matthews. Trotzdem schick. Vier Alben und eine EP hat Thoury als HANTE. veröffentlicht, gesungen sowie gesprochen in Französisch und Englisch, dabei soundtechnisch Gedanken an Anne Clark und PROPAGANDA evozierend. Ein toller und passender Opener, der die zugestopfte Tanzfläche 30 Minuten lang sehr warm spielte. Genrefremde Hörer werden davon jedoch nicht zum Jünger bekehrt.
Von BOY HARSHER schon. Nicht nur bei laut.de wurde die Frage gestellt, wo man, einmal so stark angefixt, ähnlichen Sounds von anderen Musiker*innen lauschen könnte. Ich wäre auch dankbar für Vorschläge, bisher kam da in meiner Welt aber nichts dran. Möglicherweise sind BOY HARSHER wegen der vorherrschenden Beziehungs-Chemie Solitäre, eventuell trennt sich genau hier die Spreu vom Weizen. Der größte Teil der Tour ist ausverkauft, in Köln sogar nach recht kurzer Zeit, obwohl (oder vielleicht gerade weil) das Duo im Frühjahr schon mal dort auftrat. Auch das Zoom beherbergte Fans aus Köln, die sich das gerne mehrmals geben. Spätestens nach diesem Gig wollte man es ihnen nachtun.
Etwa 20 Minuten nach HANTE. und einem Minimalumbau erschienen BOY HARSHER, illuminiert durch sechs Lichtsäulen und wenige, nur sporadisch eingesetzte Spots. Mal wieder ein Träumchen für Fotografen, aber durchaus stimmungsvoll. Dazu der Nebel. Punktgenaue Beats und atmosphärische Soundscapes bereiteten den Boden für „Send Me a Vision“, wiederveröffentlicht auf „Country Girl Uncut“, der Neu-Edition eines Frühwerks auf dem eigenen Label Nude Club. Auch hier hätte PROPAGANDA Pate gestanden haben können, doch diese gehauchte, tiefe Stimme dazu: Achtung, Verfallungsalarm, akut.
„Westerners“ aus der gleichen Veröffentlichung zementierte später die Verfallung noch, ebenso wie die insgesamt fünf Stücke des aktuellen Players „Careful“. Laszives Gehauche, exaltierte Schreie, mit Vocoder verfremdete vokale Eskalationen. Dazu Muller an den Knöpfen und am Schläger, der immer mehr auf Betriebstemperatur kam, nachdem er anfänglich auf keinen Blickkontakt seiner zunehmend belustigten Partnerin einging. Konnte er nicht auf die gesamte Distanz durchhalten. Nach einer Stunde stand das Zoom Kopf, trotz des fortgeschrittenen Abends wollte dort keiner weg.
„Pain“ von der „Lesser Man“-EP beschloss den Gig als zweiter Song der Zugabe, hier hat sich HAIYTI vielleicht für ihren Kracher „Berghain“ inspirieren lassen. Den Schmerz bemerkte ich nun langsam wieder, doch um Jacken zu holen und Einkäufe zu tätigen durfte man noch locker eine halbe Stunde mehr einplanen. Die am Merchtisch signierende und unwavig-fröhliche Matthews versüßte diesen Zeitraum, während ihr Partner mit den Roadies Bühnenabbau betrieb. München ist zum Zeitpunkt dieses Schreibens übrigens noch nicht ausverkauft.
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Text & Fotos: Micha
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