Jahrhunderthalle, Frankfurt, 1.12.2022
Casper bei Rockstage Riot? Klar doch. Der Rapper Benjamin Griffey, der 2011 mit „XOXO“ eine ganze Generation für sich einnahm, unterscheidet sich vom Gros der Kollegen seiner Zunft durch scheuklappenlose Aneignung unterschiedlichster Einflüsse, was durch die zahllosen Referenzen an unzählige Quellen der populären Kultur deutlich wird. Musikalisch ist die Verpackung darüber hinaus einem stetigen Wandel unterworfen. Punk- und Indie- bis hin zum Stadionrock Springsteen’scher Prägung bereichern sein Werk, sein Songwritertum entwickelt sich dabei kontinuierlich weiter. Sichtweisen und geäußerte Positionen von einst stehen bei diesem selbstreflektierenden Künstler ständig zur Disposition.
Pünktlich um Acht startete Tua seinen Auftritt im Vorprogramm. Das Mitglied der ORSONS traf mit seinem selbstbetitelten Soloalbum 2019 (sein sechstes) ebenso Nerven wie Caspers frühe Werke, vielleicht ein paar andere. Peinigende Gedanken, die der Psyche so zusetzen, dass nicht nur Auftritte wie dieser hier zur Herausforderung werden, sondern ebenso jeder Schritt, den man im Alltag vollbringen muss oder will; tiefe Emotionen, die jeden Hörenden mit einem Mindestmaß an Empathie zum Mitheulen bringen oder Abrechnungen mit der oft verklärten Jugend in der „Vorstadt“ zeichnen „Tua“ aus – dem Großteil der Anwesenden schien das nicht fremd, Tua wurde von Anfang an auf Händen getragen. „Frankfurt, mögt Ihr mich auch?“ kokettierte er ein wenig während seiner knapp 30-minütigen Performance, in der er ebenso einen Song der ORSONS spielte und nebenbei ein paar Klassiker sowie Novitäten droppte. „Gänsehaut“, als Tua sich am Piano begleitete; seine vokale Darbietung
fusioniert Rap und Gesangslinien dabei zum Dahinschmelzen – Kumpel Casper weiß das und sicherte sich Tuas Unterstützung bei „TNT“ auf seinem aktuellen Album. Klar, dass das später ein Teil des Auftritts des Hauptacts wurde. „Es wird unangenehm und angenehm gleichzeitig“ versuchte Tua zu spoilern, nachdem er den lang anhaltenden Applaus genoss. „Ich bin doch nur die Vorband.“ Nicht mehr lange, anscheinend.
Casper fing später sogar kurz vor 21 Uhr an, das wahrscheinliche Ende wurde am Eingang mit 22.30 Uhr angegeben. Das urdeutsche Klischee der absoluten Pünktlichkeit wurde hier, ebenso wie ein paar Tage zuvor bei Little Simz im Zoom, übererfüllt. Rap ging mal anders, wenn ich an Acts der 80er Jahre wie LL Cool J oder DE LA SOUL denke, die ihre Supporter stundenlang warten ließen. Oder, ebenso ein wenig fies formuliert: Da hört es dann doch scheinbar auf mit dem Einfluss von Bruce Springsteen, der sich nach 90 Minuten erst warmzulaufen beginnt. Die Achtziger spielen jedoch in mehrfacher Hinsicht keine Rolle mehr auf dieser Tour, bei diesen Acts und bei diesem Publikum. Das war Post-Crossover durch und durch – also nicht um die Synthese aus Rock und Rap bemüht, wie sie Ende
der 80er zelebriert wurde, sondern völlig selbstverständlich alle stilistischen Unterschiede nicht mehr als Grenzen wahrnehmend. So, wie es Menschen auszeichnet, die in den Neunziger Jahren sozialisiert wurden. Taylor Swift, RED HOT CHILI PEPPERS und FOO FIGHTERS – das ging alles in der Pausendisco, die von WEEZERs „Teenage Dirtbag“ und der dazu lautstark mitsingenden Meute dominiert wurde.
„Alles war schön und nichts tat weh“ ist nicht nur ein äußerst erstrebenswerter Zustand, sondern auch der Titeltrack von Caspers letztem, seinem fünften Album. Sowie der Opener der Show. Der gelüftete Vorhang gab den Blick auf eine Blumenwiese in berauschenden Farben frei, hinter Caspers rechter Hälfte stand ein Baum, hinter seiner linken seine Band, ach was – sein Ensemble, bestehend aus (glaube ich) sieben Menschen – neben Gitarren, Bass, Schlagzeug und Keyboard war noch ein
Cello dabei, sowie diverse mitsingende Stimmen. Diese glorreichen Sieben, sie hielten die ganze Zeit nicht nur die fette Soundwand hoch, nein, sie taten das mit ansteckender Freude und feierten den Auftritt nicht minder wie die Leute in der Halle, die alles – ich wiederhole: ALLES – mitsangen, vom ersten bis zum letzten Ton. Schon auf der inzwischen zehn Jahre alten, damals in Hamburg mitgeschnittenen Liveplatte wurde von Casper diesbezüglich Competition angeregt im Vergleich zu anderen
Spielorten – eine Tradition, die immer noch gepflegt wird, zumindest in Frankfurt, welches sich zum Toursieger bisher ernennen durfte (wie vermutlich alle anderen Städte auch). Die Augen des Rezensenten wurden bereits feucht, während er noch im Fotograben weilte: „Im Ascheregen“ sowie das folgende „Alles endet (aber nie die Musik)“ sind die Momente, in denen der Weg zum Fan hier zementiert wurde. Für mich wäre das die perfekte Zugabe gewesen, aber die würde wohl eh „XOXO“ werden, dachte ich. Es kam anders.
„Ein Drittel Heizöl, zwei Drittel Benzin“ – die Zeile aus „Im Ascheregen“ sollte dem Zielpublikum dieses Blogs bekannt sein, denn die Rezeptur wurde aus „Bullenschweine“ von SLIMEs zensiertem Erstling übernommen. Weitere Zitate, Anspielungen und Referenzen in Casper-Songs, die auf diesem Konzert zu hören waren? „Smack My Bitch Up“, „Unendlicher Spaß“, „Das bisschen Totschlag“, „Alles ist erleuchtet“, „Im Zweifel für den Zweifel“… – und das ist nur das, was ich als Boomer-Rezensent mitbekam. Es wurde thementechnisch immer weniger schön und gleichsam schmerzvoller – individuell und global, was sich auch an der Veränderung des Bühnenbildes manifestierte. Das folgende „Mieses Leben/Wolken“, aufbauend auf einem HAITY-Stück, beschreibt eine toxische Beziehung, von der man nicht loskommt.
Anschließend Old-School-Sound aus dem 2018 veröffentlichtem Kollabo-Album von Casper mit dem ein paar Tage später in Frankfurt gastierenden Marteria: „Adrenalin“ ließ die Menge springen, ebenso wie es Casper eigentlich die ganze Zeit tat. 90 Minuten lang Vollgas, Kilometer auf der Bühne fressend, springend plus zehn Kilo Text fehlerfrei rezitierend – ja gut, dass kann auch kein Springsteen, der seine 3,5 Stunden dann doch etwas gediegener angeht. Weitere Highlights? „TNT“ mit dem abermals die Bühne enterndem Tua war ja zu erwarten. Die Stimme, die etwas später jedoch „Mein geliebtes Frankfurt!“ offenbarte: Sie war nicht die eines konvertierten Casper, sondern stammte von Vega. Der Frankfurter Rapper, der seine Promo-Fotos im „Moseleck“ machen
lässt, seine neueste Platte „069“ nannte und mit Casper als Gast „Am Boden bleiben“ ebendort veröffentlichte und nun mit ihm live performte. Bis zu diesem Zeitpunkt verdunkelte sich der Hintergrund: Während „TNT“ wurde dafür geworben, sich bei Depressionen Hilfe zu holen; Anti-Kriegs-Slogans erstrahlten hinter den Musizierenden und das Blumenmeer wurde irgendwann von Flammen verschlungen. Ist halt eben doch nichts gut, gerade.
Zeit für Party bleibt dennoch, weniger hedonistisch als bei den meisten Kollegen, jedoch trotz allem exzessiv. Kein Halten mehr bei „Lass sie gehen“, bei dem Ahzumjot die Bühne mitrockte und bei dem es nicht um eine Beziehung geht, sondern leicht verklausuliert um Treffen, Veranstaltungen oder Preisverleihungen, die von erfolgreichen Gestalten dominiert werden die wir in diesem Blog auch nicht besprechen wollen.
Für Besucherin Lara war der Abend wohl ein noch größerer Knaller als für das euphorisierte Rest-Publikum: Sie wollte als Tattoo eine Zeichnung von Casper. Der ließ die Anwesenden abstimmen, ob es eine Blume oder ein Geist werden sollte. Während diese „Oh-Wee-Oh“ trällerten, vollendete der Meister sein Werk, das künftig vielleicht auf ihrem Körper prangen wird, wer weiß. „Hinterland“ machte den Sack erstmal zu, der Abend war jedoch noch nicht vorbei. Blixa Bargeld war auch
schon mal Gast bei Casper, dessen sonore Stimme flutete (vom Band, ist in Berlin vielleicht anders) die Arena bei „Lang lebe der Tod“. „Gib mir Gefahr“, entstanden während der Zwangspause vom Live-Geschehen mit Felix Brummer von KRAFTKLUB (die zwei Tage später die Festhalle ausverkauften), ließ die Party dann pünktlich zu Ende gehen. „Kein Schlaf, keine Zukunft – such’ und zerstör’“ (wer erkennt’s?), „Will alles auf einmal und viel, viel mehr“. Wir auch, Casper. Und wir haben’s bekommen. Ein grandioser Auftritt.
Links: https://tuamusik.de/, https://www.facebook.com/diesertua/, https://www.youtube.com/tuamusik, https://www.last.fm/de/music/Tua, https://casperxo.com/home/, https://www.facebook.com/casperxo, https://www.youtube.com/officialcasperxo, https://www.last.fm/de/music/Casper
Text & Fotos: Micha
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