Colos-Saal, Aschaffenburg, 1.04.2019
Wie in jedem Jahr treffen sich auf dem Roadburn Festival in Tilburg (NL) erlesene Klangkünstler aus der ganzen Welt. „Heavy Music Of All Types“ steht bei dem familiären Treffen im Fokus – welches (neben vielen Arten von Metal) auch Folk, Wave, Industrial oder Ambient inkludiert. Death Metal von AT THE GATES, gehauchte, morbide Fantasien einer Marissa Nadler oder freie Improvisation von Peter Brötzmann – alles geht mit- und nebeneinander, geschätzt gleichermaßen vom scheuklappenlosen Publikum wie von den auftretenden Akteuren, die oft exklusiv auf dem Festival zu finden sind. Erfreulich für Fans wie mich, die es aus diversen Gründen nie dahin schaffen: Viele der dort anzutreffenden Musiker spielen auch noch einige Gigs auf dem alten Kontinent, wenn sie schon mal auf die Reise gen Niederlande gehen.
Meine persönlichen Roadburn-Festwochen begannen gestern in Aschaffenburg. Ein paar weitere Highlights werden folgen bis zum Dudefest in Karlsruhe, sowas wie ein „kleines Roadburn“, dem Selbstverständnis der dortigen Veranstalter nach. CRIPPLED BLACK PHOENIX (Fotos oben) aus Bristol, FOTOCRIME aus Kentucky und SOFT KILL aus Portland ziehen gegenwärtig gemeinsam durch Europa in Richtung Roadburn, auf dem ihre Tour Mitte April ein Ende nimmt.
Pünktlich um 20 Uhr eröffneten FOTOCRIME aus Louisville, Kentucky. Auf Platte war das mal ein Trio, seit einiger Zeit besteht die Formation jedoch nur aus Ryan Patterson. Dieser singt, spielt Gitarre und Synthies bei FOTOCRIME – vorher tat er das unter anderem bei COLISEUM, WHIPS/CHAINS oder BLACKGOD. Außerdem designt er Artworks, zum Beispiel für viele auf dem Roadburn auftretende Bands wie MONO, CONVERGE, RUSSIAN CIRCLES oder der Combo seines Bruders Evan, YOUNG WIDOWS. Bei dieser zockt noch Nick Thienemann, einer der beiden Partner bei FOTOCRIME. YOUNG WIDOWS sind ebenfalls unterwegs gen Roadburn – im Gegensatz zum Headliner des Abends, der in der gleichen Situation steckt, verpflichtete Patterson jedoch keinen Ersatz und bestritt die Chose komplett allein. Der musikalischen Situation angemessen mit viel Gegenlicht und Rauch.
Bei FOTOCRIME lebt Patterson seine Vorliebe für den Gitarren-Wave der Achtziger aus, vornehmlich für den der SISTERS OF MERCY, bevor Andrew Eldritch Jim Steinman traf, oder den von Zeitgenossen wie RED LORRY YELLOW LORRY. Einen Innovationspreis gewinnt er damit nicht. Songs wie (das leider nicht gespielte) „The Rose and the Thorn“ oder „Soft Skin“ sind jedoch äußerst tanzbare Meisterwerke dieser alten Kunst. In den knapp 45 Minuten seines Auftritts präsentierte Patterson auch ein bisschen was Neues, verbunden mit der Bitte – nein, eher der Aufforderung – dass die Leute, die während der Support-Acts sowieso nur quatschen, dies draußen erledigen mögen. Er hat keine Lust, sein Innerstes vor ignoranten Schwätzern zu offenbaren.
Eine nachvollziehbare Ansage, die das Übel des Vorprogramms allgemein beschreibt. Die Songwriterin Lucy Rose zum Beispiel, die kürzlich ein sehr intimes, verletzliches sowie wunderbares Album veröffentlicht hat, brach aus diesem Grund bereits Support-Slots ab und spielt lieber vor „wenigen, interessierten Hörern als Headliner“ denn als Opener vor Vielen, die ihre Musik nicht kennen (laut ME). Nicht, dass bei Lautstärke wie dieser das Gequatsche akustisch aufgefallen wäre. Trotzdem Chapeau, auch vor der Leistung, solch einen hochenergetischen Auftritt allein zu stemmen. „Nadia (Last Year’s Men)“ beschloss die Dreiviertelstunde fulminant. Insgesamt ein Opener vom Feinsten.
Ähnliche musikalische Vorlieben befriedigen SOFT KILL aus Portland/Oregon – sollten also die gleichen Fans ansprechen wie FOTOCRIME vorher. Sollte. Klappte bei mir aber nicht, sorry. Hab’s versucht. Ist ja keine unsympathische Truppe, ganz im Gegenteil. Die eher zart eingesetzten Vocals des Bandgründers Tobias Grave, die der Rezensent des Metal Hammer als „wenig ausdrucksstark“ empfindet, nötigen blöderweise eher zum Abschalten als das kraftvolle Organ Ryan Pattersons zuvor, weswegen einige der etwa 250 Anwesenden die Lücke zwischen FOTOCRIME und CBP zum Rauchen oder Döner essen verwendeten.
Graves Texte, beeinflusst von privaten Dämonen und Schicksalschlägen wie dem Fast-Verlust seines Sohnes, sind es durchaus wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die musikalische Illustration dazu bleibt jedoch verhalten sowie selten wirklich dynamisch (oder ist, laut Metal Hammer, „einschläfernd“, „trantütig“ oder „null prägnant“, was schon ein wenig übertrieben und gemein ist. Ein bisschen.). So oder so: Hab ich keinen Draht zu. Andere würden vielleicht schreiben, dass sie „nicht abgeholt“ wurden oder „nicht erreicht“ – das legt diesen Umstand jedoch meiner Meinung nach in die Hände der Band. Da gehört er nicht hin. Ich habe damit keinen Vertrag. Kann sonst keiner was für. Peace.
Als mir irgendwann klar wurde, dass die Setlist, welche schon den ganzen Abend am Bühnenrand klebte, die von CRIPPLED BLACK PHOENIX war, kam nicht nur bei mir Freude auf. Zwei Cover waren diesmal geplant, welche nicht nur den exzellenten Geschmack der multinationalen Truppe mit Sitz in Bristol dokumentieren, sondern auch ihre Roadburn-Kompatibilität: „The Golden Boy that Was Swallowed by the Sea“ von den SWANS sowie „Echoes“ von PINK FLOYD.
Die Affinität der Gruppe um Gründer und Multiinstrumentalist Justin Greaves zu FLOYD ist für einige genauso anziehend wie für andere abschreckend – da „Echoes“ einer meiner absoluten FLOYD-Faves ist und ich ihn noch nie live gehört hatte, war ich jedoch entzückt, bei aller Liebe zu den Originalkompositionen von CBP. Auch bei denen fehlte ein Stammspieler: Gitarrist Jonas Stålhammar tourt gerade mit seiner Hauptband AT THE GATES, seinen Platz nahm der Brite Andy Taylor ein. Nein, nicht der von DURAN DURAN. Dieser Taylor musiziert mit Keyboarderin Helen Stanley außerdem bei ASTEROID DELUXE – fast jeder der Akteure auf der Bühne spielt außerdem in weiteren Formationen. Sänger Daniel Änghede zum Beispiel tourte kürzlich mit der Gothic-Metal-Combo DRACONIAN durch die Gegend (Clip aus Mannheim hier). Weitere Band-Verästelungen kann man in unserem Bericht von 2017 hier erfahren.
Das Programm orientierte sich nur zum Teil am letzten (großartigen!) Tonträger „Great Escape“ (vier Titel) – mit „Fantastic Justice“ sowie „We Forgotten Who We Are“ (Clip dazu unten) waren zwei Songs des Meisterwerks von 2011, „I Vigilante“, zu hören. Letzterer mit einer Ansage Greaves, in der er seinen Frust über die gegenwärtige Weltlage zum Ausdruck brachte und klar machte, dass es wichtiger denn je ist, Haltung zu zeigen. Und dass der Brexit Mist ist, selbstverständlich.
Nach insgesamt zwei Stunden totaler Ekstase sowie dem fulminanten „Echoes“ zelebrierten CBP in der Zugabe „Burnt Reynolds“ von den „Budapest Vigilante Sessions“ – was soll man da noch sagen. Es war ein Fest, mal wieder. Unterm Strich war es viel besser, die Formation in einem Club zu erleben (in so einem feinen dazu): Auf dem Roadburn Festival spielt sie am frühen Nachmittag – und Schlappeseppel gibt es da auch nicht. Ein schwacher Trost vielleicht, würde es demnächst nicht munter roadburnig weitergehen. Würzburg, wir kommen.
Links: https://www.fotocrime.com/, https://www.facebook.com/fotocrime, https://fotocrime.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Fotocrime, https://www.facebook.com/softkillportland/, https://softkill.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Soft+Kill, http://www.crippledblackphoenix.co.uk/, https://www.facebook.com/CBP444/, https://riseupandfight.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Crippled+Black+Phoenix
Text, Fotos (29) & Clip: Micha
Fotos (11) & Clip: Kai
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