Batschkapp, Frankfurt, 8.10.2024
EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN – bereits der Bandname lädt zum Philosophieren ein. Warum stürzen neue Bauten ein? Wurden sie schlecht gebaut, bombardiert oder sabotiert? Welche Metapher sich hinter dem Namen verbirgt, darf jeder, der sich mit der Berliner Formation beschäftigt, für sich selbst definieren. Fest steht indes, dass die Gruppe im Jahr 1980 von Blixa Bargeld und N. U. Unruh gegründet und durch Mitglieder der Acts MANIA D. (Gudrun Gut und Beate Bartel) und ABWÄRTS (FM Einheit und Mark Chung) sowie Alexander Hacke ergänzt wurde. Von den Genannten sind heute immerhin noch Bargeld, Unruh und Hacke mit von der Partie, was nach 44 Jahren des Bestehens nicht selbstverständlich ist.
Auf die Historie der Berliner einzugehen, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Festgestellt sei jedoch, dass die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN – diese These möchte ich hier aufstellen – neben KRAFTWERK die bedeutendste deutsche Band sind. Generell sei vorausgeschickt, dass die Truppe sich hauptsächlich durch zwei Aspekte von anderen Künstlern unterscheidet: Zum einen durch ihre kryptischen, metaphorischen und philosophischen Texte, zum anderen durch viele selbst gebaute Instrumente, mit denen sie ihre speziellen Klanglandschaften erzeugt. Mit dieser Kombination als ständige Konstante hat die Formation unterschiedliche Schaffensphasen durchlaufen, die man grob in „brachiales Chaos“, „kontrollierten Krach“ und „verstörende Stille“ unterteilen kann. Anno 2024 befinden wir uns längst – etwa seit „Ende Neu“ aus dem Jahr 1996 – in der dritten Phase. „Instrumente“ wie der ratternde Schlagbohrer und ein röhrender Betonmischer gehören der Vergangenheit an, der Sound wird nun eher von leisen Tönen dominiert, bei denen aber nicht minder kreative Klangwerkzeuge zum Einsatz kommen.
Erstaunlich ist, dass die NEUBAUTEN, die in den 1990er Jahren mehrmals im doch recht gemütlichen Frankfurter Mousonturm gastierten, ab den 2000ern begannen, größere Venues wie beispielsweise den Wiesbadener Schlachthof zu bespielen. Offensichtlich haben viele Musikfreunde die Klasse der deutschen Klangwerker erst in den letzten Jahren erkannt. Am gestrigen Abend war nun die Frankfurter Batschkapp an der Reihe, in der sich knapp 1500 Besucher versammelt haben dürften. Die Band selbst, so ließ Blixa Bargeld als witzige Anekdote verlauten, landete jedoch zunächst an einem falschen Ort in Frankfurt und wunderte sich, warum sie plötzlich vor einem Rewe-Markt und nicht vor dem bekannten Club stand – man hatte den Umzug der Batschkapp 2013 nach Seckbach nicht mitbekommen und war war daher in die Maybachstraße nach Eschersheim gefahren, wo die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN einst vor 39 Jahren ein Gastspiel gaben.
Dem pünktlichen Beginn des Konzerts tat die Irrfahrt der Berliner jedoch keinen Abbruch. Los ging’s mit dem sphärischen und orientalisch anmutenden Track „Pestalozzi“ und den Worten: „I’m sitting in my chair, feeling very Pestalozzi …“, der eines der jüngsten Beispiele der verspielten Wortakrobatik der Gruppe liefert. Der Song stammt vom aktuellen Album „Rampen (apm: alien pop music)“, das einen der abwechslungsreichsten NEUBAUTEN-Outputs der letzten Dekaden darstellt. Insgesamt sieben Stücke des neuen Werks sollten am Abend präsentiert werden. Sechs Lieder stammten von der 2020er-Platte „Alles in Allem“ und immerhin drei von „Silence is sexy“ (2000). Komplettiert wurde der Set durch „Susej“ (2007) und „How Did I Die“ (2014). Somit datierte keiner der dargebotenen Tracks vor dem Jahr 2000, was Fans der ersten beiden Schaffensphasen sicher bedauerten, was auf der anderen Seite jedoch ein deutliches Statement darbot – die Band ist reifer und gelassener geworden, das Chaos liegt hinter ihr, nun segelt man sarkastisch („Everything will be fine“ – der letzte Song des ersten Zugabenblocks) in den Sonnenuntergang.
Die Gründungsmitglieder Bargeld und Unruh sind inzwischen 65 bzw. 67 Jahre alt. Da kann man nachvollziehen, dass die ungestüme Wut, die einst Zerstörung und Untergang predigte, nun einer nihilistischen Melancholie gewichen ist – doch auch die weiß die Band brillant zu inszenieren. Live stand natürlich der Zeremonienmeister Blixa Bargeld im Mittelpunkt des Geschehens, aber auch das, was Perkussionist N. U. Unruh und Schlagwerker Rudi Moser im Hintergrund anstellten, war faszinierend. Hier wurden Metallplatten, Abflussrohre, Ölfässer, Inhalatoren, Pappbecher und Partyspieße eingesetzt, die für das Publikum die Aufklärung dazu lieferten, wie denn die Klänge, die auf den Alben der Band zu hören sind, entstanden sind. Auch der in früheren Zeiten verwendete Einkaufswagen (Fotos in der Slideshow unten) diente einmal mehr als Instrument. Die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN 2024 zu erleben, war ein gleichermaßen morbides wie romantisches Erlebnis, das zwar nur wenig mit den frühen Auftritten der Formation zu tun hatte, aber nicht minder intensiv und mitreißend war. Bleibt zu hoffen, dass uns das Klangkonglomerat um Blixa Bargeld noch sehr lange erhalten bleibt.
Links: https://neubauten.org/, https://www.facebook.com/EinstuerzendeNeubauten/, https://www.instagram.com/neubautenorg/, https://www.youtube.com/user/neubautenorg, https://www.last.fm/music/Einstuerzende+Neubauten
Text: Marcus / Fotos: Kai
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