Frankfurt, 11. August 2020
Na? Vermisst Ihr was? Also, ich schon. Seit dem 11. März 2020 war ich auf keiner Live-Show mehr. COVID-19 beherrscht die Welt, Konzerte und andere liebgewordene Freizeitaktivitäten wurden abgeschafft. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens, mehr als vier Monate später, ist das im Großen und Ganzen immer noch so, obwohl es zaghafte Versuche gibt, zur gewohnten Norm zurückzukehren in Form von Live-Events mit Abstand sowie Mundschutz – manchmal sogar isoliert im fahrbaren Untersatz. Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wie generell mit der Problematik umgegangen wird und wie ich dazu stehe. Es gilt jedoch festzuhalten: Was ich schmerzlich vermisse, ist für andere existenzbedrohend. Pünktlich zum Saisonbeginn zerstörte das Virus alles. Zum Beispiel wurden alle bedeutenden Festivals abgesagt, weil es unverantwortlich ist, so viele Menschen an einem Ort zu versammeln. Mit dieser Not wird unterschiedlich umgegangen – einige Veranstalter bitten um Spenden, andere überlegen sich ansteckungsfreie Alternativen zum gewohnten Business. Ein paar machen beides.
Konzerte von nicht tourenden Musikanten, welche zuhause vor einer Webcam aufgenommen wurden, interessierten mich bisher nicht weil sie nichts damit zu tun haben, was meiner Meinung nach Live-Konzerte ausmacht. Obwohl ich durchaus anerkenne, dass Menschen, die abhängig sind von den Verkäufen am Konzertabend nun den Zugang zu solchen „Events“ verkaufen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Nach vier Monaten ist das jedoch etwas anders geworden. Ich reagiere auf jede Konzertankündigung mit Schnappatmung und will das, muss mich danach wieder beruhigen und mir einflüstern: „Wer weiß, ob das dann klappt“. Dann fiel mir der Flyer rechts ins Auge.
Okay, die „Headliner“ sind Schrott in meiner Welt minus ROTTING CHRIST, aber was findet man da sonst noch so? PRIMORDIAL sind eine Lieblingsgruppe; ORANGE GOBLIN, AMENRA, KAMPFAR, VENOM INC., DER WEG EINER FREIHEIT sind schon geil; ALIEN WEAPONRY interessieren mich bisher ungehört sehr. Das „Festival“ ist eine vom 7. bis zum 9. August stattfindende Online-Sause mit vor allem bereits vorher aufgenommenen Events, die zum satanischen Mini-Obulus von 6,66 € gebingt werden können, plus Extras wie Interviews sowie andere Kleinigkeiten. Man kann auch noch ein Shirt dazu bestellen, dann wird es dementsprechend teurer.
Fotos oben und folgende: Cult of Fire
Die Kohle kommt einigen europäischen Festivals zugute, die in diesem Jahr eben nicht stattfinden können, jedoch schon einiges an Vorleistung abdrücken mussten. Beim Vorverkauf durfte man sich ein Festival aussuchen, welches mit dem Eigenanteil gesponsert wird oder für die Option stimmen, alles gleichmäßig an die 13 Beteiligten zu verteilen – im Kader sind Festivitäten wie das Summer Breeze (D), Bloodstock (GB), Dynamo (NL), Party.San (D) nebst weiteren. Ich muss gestehen, ich gehe nie auf Open Airs, bin ein Clubmensch, und suchte daher den Unterstützungsknopf für das Roadburn oder das Hammer Of Doom. Aber um sowas geht es hier nicht (vielleicht später im Jahr). Aus Freundschaft zu einer Kollegin, für die die RoFa in Ludwigsburg sowie das Summer Breeze wichtige Eckpunkte ihrer musikalischen Sozialisation waren, wählte ich das Festival im Ländle. Mit Shirt. Mein erstes Festival-Shirt seit dem Monsters Of Rock 1983, nebenbei.
Und dann kam das: 35 Grad im Schatten, bestes (?) Festivalwetter am Mittag des 7. August 2020. Ich dachte, dass alle Auftritte nun drei Tage lang gleichermaßen verfügbar sind und ich mir jetzt die Highlights raussuchen kann, doch nein: Es wird schon so festivalmäßig wie möglich performt. Nach einem Interview mit LACUNA COILs Cristina Scabbia startet pünktlich um 12 Uhr das Event mit einem Intro voller Impressionen von Dingen, die ich an Open Air-Festivals scheiße finde. Nach einigen Sponsoren-Jingles folgt die erste Band – zum Glück eine, auf die ich richtig Bock habe: CULT OF FIRE aus Prag – vermummt, maskiert sowie ziemlich bewegungsarm, auf scheinbar schwebenden Schlangen-Thronen sitzend, mit Totenköpfchen auf dem Schädel vor buddhistischen Gebetsfahnen. Ja, CULT OF FIRE haben ihr recht eigenes Image, ändern ständig ihr Logo (von thebanischen, auch „Hexenalphabet“ genannten Schriftzeichen zu Sanskrit ist alles dabei) und wirken optisch so wie die BATUSHKA des Fernen Ostens, machen das aber bereits eine Weile länger und sind einfach viel geiler.
Knapp 50 Minuten gibt es den atmosphärisch-epischen Black Metal vom Feinsten auf die Ohren, mit Sitar-Einspielungen sowie anderen östlichen Soundpartikeln. Die Band spielt im Dunkeln, in mein Zimmer fließt derweil gleißendes Sonnenlicht und ich überlege, ob ich mir irgendwo Palak Paneer bestelle, auf das ich gerade Appetit bekommen habe. Eigentlich wollte ich bei diesen Temperaturen lieber schwimmen gehen, aber als nächstes kommen die EVIL INVADERS, meine letzte Live-Erfahrung vor Corona, jedoch nicht nur deswegen Pflichtprogramm. Jede Band bewirbt mit ihrem Online-Auftritt einen echten für ein Festival 2021, bei den EVIL INVADERS wird dies das Alcatraz in Belgien sein. Naja, schaun wir mal. Jede Show ist 48 Stunden nach Sendung noch abrufbar, falls der Badesee doch lauter rufen sollte. Ist durchaus nicht auszuschließen. Aber wie? Ich finde nur die Möglichkeit zum Livestream. Müsste mir doch eigentlich jetzt CULT OF FIRE nochmal anschauen können, oder?
Der gestreamte Gig der EVIL INVADERS findet in einem Club statt vor wenigen Menschen mit Mund-Nase-Schutz (MNS), die von der Kamera selten erfasst werden.Vielleicht besser so. Metal.de postete jüngst einen kurzen Film über ein Konzert von DESTRUCTION aus Pratteln in der Schweiz, in der der Lockdown wohl noch harmloser war als bei uns. Bandboss Schmier freut sich in diesem über die vorbildlich umgesetzte Abstandsregel, weil nur ein Bruchteil der im Normalfall verfügbaren Plätze verkauft wurde. MNS trägt da niemand; dass sich die Anwesenden größtenteils doch vor der Bühne aufhalten und ab und zu doch mal ein kleiner Pogo entfleucht, naja, kann ja mal passieren. Was für eine Farce, mehr dazu hier. Die EVIL INVADERS machen derweil Lust das erste Bier zu köpfen um 13.35 Uhr (Verstand sagt Nein) und in der Küche herumzuspringen (Gelenke und Möbel sagen Nein). Ich frage vielleicht später nochmal nach.
Nach den EVIL INVADERS folgt die erste Band, die mich nicht interessiert, weswegen ich mal zu den Konzerten scrolle, die man parallel schauen kann und schon etwas älter sind, zusammengefasst unter dem Begriff „Bonus Shows“. Ich bleibe hängen bei einem Auftritt von HARAKIRI FOR THE SKY, den ich mir mit Unterbrechungen gebe, bis die mir bisher unbekannten VENOM PRISON fast fertig sind. Bei dem Gegenlicht und dem martialischen Geröchel fällt kaum auf, dass diese mit Larissa Stupar eine Frau am Mikro haben. Was für ein Brett (die Musik), ich möchte mehr davon sehen – aber ich habe immer noch nicht begriffen, wie man auf die bereits gezeigten Auftritte zugreift. Ganz zu schweigen von den Talk-Runden, die darüber hinaus angeboten werden. Vielleicht bin ich auch zu blöd für Online-Gigs, aber in meiner Welt funzt das noch nicht richtig.
Egal, nach VENOM PRISON kommen KAMPFAR, und, meine Fresse: Da vergesse ich dann doch zeitweise, nur am Monitor zu hängen. Der Auftritt verdient die überstrapazierte Floskel „Ritual“ – das Quartett stolziert mit Fackeln zum Auftrittsort und startet mit „Our Hounds, Our Legion“ fulminant in einen knapp 50-minütigen Set, während dem Sänger Dolk das imaginäre Festival-Publikum ständig mit „Alliance!“-Rufen zu nicht nachvollziehbaren Höchstleistungen auffordert. Passend zu den schweißtreibenden Black Metal-Hymnen spielen sich die Vier in einen Rausch. Jedes Wort nimmt man Dolk an seine nur am Bildschirm vorhandenen Jünger ab – Worte wie „In the end, we’re going to the same fucking place anyway“ und „Thank You, Alliance“.
Foto oben und folgendes: Kampfar
Abgang nach „Det Sorte“ wieder mit Fackeln, man erblickte zuvor noch eine Background-Sängerin, falls man Zweifel haben sollte an der Livehaftigkeit an diesem oder der anderen Auftritte, welche, wie setlist.fm es präzisiert, alle an „Private Venues“ in „Unknown Cities“ stattfanden. Nach einer Pause (in der ich zwar fernöstlich speiste, jedoch kein Palak Paneer) tauchen auf der Startseite des Festivals auch Antworten auf die in diesem Text gestellten Fragen auf. Nach Mitternacht könnte ich mir z. B. VENOM PRISON also nochmal reinziehen, okay. Ein paar Minuten BUTCHER BABIES liefen am Rand beim erneuten Einschalten, die einen Mix aus Live- sowie Studio-Situation präsentierten. Charlie Benante von ANTHRAX war ebenfalls dabei. Mir auch wurst.
Ebenso wie die Headliner der folgenden Tage, aber für heute beenden ROTTING CHRIST das Festival, und ich hasse inzwischen jeden Live-Auftritt, den ich in der Vergangenheit verpasst habe wegen irgendwelcher Unzulänglichkeiten wie frühes Aufstehen am Morgen danach, stressige Arbeitswoche oder sogar Krankheit. ROTTING CHRIST waren im Dezember 2019 mit MOONSPELL auf Tour und ich hätte sie sehen können, in Mannheim oder in Würzburg. Hölle, nervt mich das jetzt: Ich tat es nicht. Nicht, dass ich sie nie gesehen hätte – jedoch gerade die Alben seit „Κατά τον δαίμονα εαυτού“ (2013) sind die Macht.
Foto oben und folgendes: Rotting Christ
ROTTING CHRIST spielten mal Grindcore, mal Black Metal – inzwischen haben sie ihren ureigenen Stil gefunden, der zwischen Black-, Gothic- sowie einer sehr eigenen Art von Epic-Metal changiert. Dass ROTTING CHRIST mit ihrem Namen nicht nur in ihrer Heimat Griechenland, sondern beispielsweise auch mit Evangelikalen wie Dave Mustaine von MEGADETH Probleme bekamen scheint folgerichtig und macht sie in meiner Welt zu guten Jungs. Der Online-Gig: Ein Knaller! Soviel zum „Festival“-Freitag – Teil 2 mit Impressionen zu weiteren Bands vom Wochenende und ein paar Gedanken zur Konzertsituation in Corona-Zeiten folgt in Kürze.
Da wir bei einem Online-Konzert logischerweise nicht selbst fotografieren können, verwenden wir für diesen Post Footage aus den Live-Streams der Veranstaltung. Alle Fotos können durch Anklicken vergrößert werden. Wir veröffentlichen das Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung der European Metal Festival Alliance.
Link: https://www.metalfestivalalliance.com/
Text: Micha
Fotos: European Metal Festival Alliance