Das Bett, Frankfurt, 9.12.2019
Als Frankfurter Punk-Fan hatte man am gestrigen Abend die Qual der Wahl: Im Cave gastierten die Engländer SHAM 69 (wobei es festzustellen gilt, dass es sich beim Tour-Lineup um eine Coverband handelt, der kein Gründungsmitglied angehört), im Club „Das Bett“ hatten sich die Schotten THE EXPLOITED angesagt. Die Entscheidung, letzteres Event zu besuchen, traf ich allerdings nicht wegen des Headliners, sondern aufgrund des Openers RAWSIDE, die im Deutschpunk-Genre für mich zu den besseren Acts zählen. Ich hatte mich dabei auf einen gemütlichen Abend mit etwa 100, maximal 200 Besuchern eingestellt, zum einen, da die 1978 gegründeten EXPLOITED längst ihren Zenit überschritten haben, zum anderen da ihnen kein besonders guter Ruf für Live-Auftritte vorauseilt. Es sollte jedoch anders kommen: Pogo im Eingangsbereich, Bierduschen, kollabierte Gäste, die herausgetragen werden mussten und diverse blutige Nasen, die sich einige Leute im Eifer des Gefechts zugezogen hatten, sollten mich erwarten. Doch der Reihe nach…
Bereits kurz vor meiner Ankunft im Club fiel mir eine Karawane von Punks auf, die sich im nahe gelegenen Discounter mit Bier eingedeckt hatte und nun gemächlichen Schrittes zurück zum Auftrittsort schlenderte, wo sich vor dem Eingang ein Pulk von etwa 200 Leuten angesammelt hatte. Von diesen sollte aber nicht jeder das Glück haben, dem Konzert beiwohnen zu können. An der Tür prangte nämlich zur allgemeinen Verwunderung ein Schild mit der Aufschrift „Ausverkauft!“, was für einige Angereiste bedeutete, wieder unverrichteter Dinge den Heimweg antreten zu müssen – oder sich vor der Halle volllaufen zu lassen. Viele entschieden sich für letztere Option.
Ich hatte „Das Bett“ bis dato fast nie ausverkauft erlebt, diesmal aber platzte der Laden aus allen Nähten. Bereits nach dem ersten Schritt, den ich in den Saal gesetzt hatte, stieß ich auf eine Menschenwand, die es nicht nur unangenehm machte, sich in Richtung der Bühne zu bewegen, sondern auch die Getränkeversorgung an der Theke zur Geduldsprobe werden ließ. Das Publikum zeigte sich bunt gemischt: Metalheads, Punks, Skinheads, Gesichtstätowierte, darunter sehr viele junge Leute, dominierten die Szenerie und feierten bereits beim Opener ein rauschendes Fest, wobei auffiel, dass etliche Besucher schon zu diesem Zeitpunkt sternhageldicht waren und sich kaum auf den Beinen halten konnten.
Das letzte Mal hatte ich das bei einem MOTÖRHEAD-Konzert in dieser Form erlebt. Der Grund, warum die Location ausverkauft war, dürfte übrigens der gleiche wie im Falle des letzten Gigs von MOTÖRHEAD gewesen sein: Wie seinerzeit Lemmy wollte gestern jeder nochmal EXPLOITED-Shouter und Punk-Ikone Wattie Buchan sehen, bevor er sich aus dieser Welt verabschiedet. Wattie ist zwar erst 62, erlitt aber bereits 2014 auf der Bühne einen Herzinfarkt und musste 2017 erneut wegen Herzproblemen eine Tour abbrechen. Die Band setzte diese schließlich mit dem CASUALTIES-Gitarristen Jake Kolatis als Frontmann fort, als die US-Punks die Schotten supporteten und in dieser Konstellation auch in Frankfurt gastierten.
Als ich eintraf, wüteten RAWSIDE bereits auf dem Podest. Die Oberfranken liefern Old-School-Hardcore mit deutschen Texten, der sich abseits der modernen Hipster-Punk-Kultur von Truppen wie FEINE SAHNE FISCHFILET bewegt und seine Botschaft explizit, wie einen Schlag in die Fresse, auf den Punkt bringt: „Faschopack“, „Widerstand (gegen Deutschland)“ und „Es herrscht Krieg“ sind nur einige der Song-Titel der Coburger und machen deutlich, in welche Richtung es geht. Dass die Gruppe dennoch vielen, besonders jüngeren Semestern, kein Begriff ist, dürfte an der Tatsache liegen, dass es knapp zehn Jahre her ist, seit das letzte Album „Widerstand“ erschien.
Seither hat Shouter Henne, das einzig verbliebene Originalmitglied, viel durchgemacht. Ein 17-monatiger Knastaufenthalt wegen Drogenbesitzes, eine Entziehungskur und eine Phase der Bewältigung der Geschehnisse sorgten dafür, dass RAWSIDE lange Jahre auf Eis lagen. Nun aber sind sie mit neuem Lineup – unter anderen Hennes‘ Sohn am Schlagzeug – von den Toten auferstanden und haben mit „Your Life Get‘s Crushed“ ein neues, starkes Album eingespielt. Live legten RAWSIDE eine Dynamik an den Tag, wie man sie im Deutschpunk selten erlebt, was einen Besucher neben mir zu der Aussage „Die sind bestimmt aus New York!“ veranlasste. In der Tat hätte man angesichts des Stage Actings auf eine amerikanische Hardcore-Formation tippen können. Die Jungs waren brachial, auf den Punk(t) genau und hatten sichtlich Spaß, neue wie alte Songs im ausverkauften Club zu präsentieren.
Nach dem Auftritt wurde es erstaunlicherweise luftiger im Eingangsbereich, was die Vermutung nahelegt, dass nicht unbedingt viele, aber doch einige Gäste nach dem Opener den Heimweg antraten. Auch meine Erwartungen an den bevorstehenden Gig der Schotten waren nicht sonderlich hoch. Ich hatte die Band im August diesen Jahres beim Rebellion Festival im englischen Blackpool gesehen und dort eine herbe Enttäuschung erlebt: Wattie schien müde, richtete kaum ein Wort ans Publikum und bewegte sich kaum. Doch das Ausharren hatte sich gelohnt, am gestrigen Abend sollten THE EXPLOITED ein anderes Gesicht zeigen.
Fast so, als ob er Lust hätte, sich zu prügeln, legte Wattie gleich zu Beginn des Konzerts sein Shirt ab und präsentierte dem Publikum seine Operationsnarben: Eine quer in Bauchhöhe, eine längs über den gesamten Oberkörper und eine kreisförmige über dem Herzen. Wattie hat, abgesehen von den Drogen- und Alkohol-Exzessen früherer Tage, sichtlich einiges mitgemacht. Da tat es gut, ihn so quirlig und munter auf der Bühne zu sehen. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme, dass er schon immer der Frontmann der EXPLOITED gewesen sei, muss konstatiert werden, dass die Gruppe 1978 von seinem jüngeren Bruder Terry ins Leben gerufen wurde, der das Mikro allerdings ein Jahr später und noch vor den ersten Aufnahmen im Jahr 1980 (EP/Single „Army Life“) an Wattie übergab.
Seither ist dieser das Gesicht der Band, dürfte zumindest in Großbritannien einer der ersten Iro-Punks gewesen sein und leitete damit auch optisch die zweite, weitaus aggressivere Welle des UK-Punks ein. Wattie verkörpert dabei den Urtyp des Street-Punks, den, der noch nicht politisch (korrekt) war und auch textlich das Niveau auf ein gewalttätigeres Level hob. Seine Antwort auf „Baby Baby“ von den VIBRATORS hieß „Porno Slut“, statt eines „Love Song“ der DAMNED gab es bei ihm „Sex & Violence“. Die Lyrics sind stets simpel gehalten und auf wenige Worte reduziert – „Sick Bastards“, „Police Shit“, „Fuck Religion“ und „System Fucked Up“ sind nur einige der Ergüsse des Herrn Buchan. Dies ist, besonders in den heutigen, politisch korrekten Zeiten, nicht jedermanns Sache.
Des Weiteren tragen einige wirre politische Äußerungen, mal anarchistisch, mal patriotisch, zum etwas zwiespältigen Ruf des Schotten bei. Vergessen darf man dabei allerdings nicht, dass Wattie weder Politiker noch Philosoph, sondern letztlich ein Straßenköter ist, der all jene ins Bein beißt, die ihn nerven. Dies haben auch schon Steve Ignorant von CRASS, Jello Biafra, ehemals DEAD KENNEDYS, und Henry Rollins von BLACK FLAG erfahren, die von Wattie mehr als einmal gedisst wurden. Doch genau diese „Fuck You“-Attitüde des Frontmanns ist es, die von vielen Punks geschätzt wird und ihn zur Ikone des Genres gemacht hat. Und – mal ehrlich – ginge es darum, die zehn bedeutendsten und schillerndsten Persönlichkeiten des Punk zu küren, in meiner Top 10 wäre Wattie dabei.
Doch zurück zum Konzert: THE EXPLOITED anno 2019 bestehen neben Wattie aus dessen Bruder Wullie, der bereits seit 1991 hinter der Schießbude sitzt, aus Bassist Irish Bob, der seit 2003 im Boot ist und aktuell (wieder) aus Gitarrist Robbie Davidson, der bereits zwischen 2001 und 2008 Teil der Band war und nun seit 2016 wieder dazu gehört. Was die Setlist des Abends betraf, so blieben (fast) keine Wünsche offen. Eröffnet wurde das Feuer mit „Let‘s Start a War“, „Fightback“ und „Dogs of War“, im weiteren Verlauf folgten je sieben Songs des zweiten Albums „Troops of Tomorrow“ und der bis dato letzten Scheibe „Fuck the System“, deren Veröffentlichung bereits 16 Jahre zurückliegt. Vom Debüt „Punk‘s Not Dead“ wurden lediglich drei Tracks gespielt, von anderen Alben gab es nur vereinzelte Stücke. Vermisst habe ich lediglich „Fuck the Mods“, „Sexual Favours“ und „Barmy Army“, ansonsten waren alle Klassiker vertreten.
Absolute Höhepunkte stellten Songs wie „UK ‘82“, „Dead Cities“, „Alternative“, „Troops of Tomorrow“ und „U.S.A.“ dar, bei denen nahezu der gesamte Saal tobte. Als erste Zugabe gab‘s „Sex & Violence“, ohne Wattie, der sich kurz im Backstage-Bereich erholte. Statt seiner wurden Besucher auf die Bühne gebeten, die das Lied, dessen Text ohnehin nur aus dem Refrain besteht, lauthals mitgrölten. Für zwei Tracks, „Punk‘s Not Dead“ und „Was It Me“, kam Wattie nochmal auf die Bühne, bevor der Abend nach insgesamt 25 Liedern endete. Unterm Strich war es entgegen aller Erwartungen ein guter Auftritt. Wattie war fit, fühlte sich auf der Bühne sichtlich wohl, war stets in Bewegung und auch die Setlist stimmte. Bleibt zu hoffen, dass die Jungs vielleicht doch noch das lang erwartete neue Album einspielen und dass Wattie uns noch möglichst lange erhalten bleibt.
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Text: Marcus / Fotos & Clip: Kai
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