Centralstation, Darmstadt, 5.12.2019
Es ist ein außerordentliches Vergnügen, Nerds bei ihrer Bestimmung zu erleben. Menschen, die für etwas „brennen“, also leidenschaftlich einer Sache verfallen sind und es dankbar auskosten, die an ihrer Passion Interessierten mit soviel Informationen wie möglich zu füttern. Das Sujet ist dabei relativ schnuppe, solange man die Liebe dazu ansprechend vermitteln kann – Nerds können einem, zumindest eine Zeitlang, alles verkaufen, was sie fasziniert. Musiker haben dabei einen Vorteil: Musik mögen die meisten Menschen, die sozial nicht komplett verroht sind, ganz gerne. Dass diese Menschen einen vollgepackten Konzertsaal nach über zwei Stunden Vortrag nicht nur emotional befriedigt, sondern ebenso intellektuell gefüttert und mit weit mehr Sachkenntnis über Dinge, die in der Regel nur Nerds interessieren, verlassen, ist trotzdem eine Seltenheit. Oder hat sich etwa jemand aus der Leserschaft hier schon mal ernsthaft beispielsweise mit den Ursprüngen diverser Tamburine beschäftigt, ihren klanglichen Unterschieden sowie deren regional differierenden Spielweisen? Ohne vorprogrammierte Langeweile, sondern mit zunehmendem Erkenntnis- sowie Lustgewinn? Eben.
Das liegt natürlich an den Protagonisten, die den gestrigen Abend im dritten Stock der Centralstation so unvergesslich machten. Da wäre zum einen Rhiannon Giddens, die einst in Ohio Operngesang studierte. Giddens kann das also und intonierte in Darmstadt eine Arie aus „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell (1688). Die US-Amerikanerin kann aber auch Geige spielen. Und Banjo. Über die Geschichte dieses Instruments hat sie viel geforscht und es dadurch aus seiner von Weißen dominierten Country & Western-Historie gelöst. Das Banjo, so informierte Giddens das Publikum, ist ein traditionell afro-amerikanisches Instrument, das von den Weißen adaptiert wurde.
Die 42-Jährige spielt sowohl Geige als auch Banjo zum Niederknien und ist darüber hinaus mit einer Stimme gesegnet, der eine in der Klassik oft vorherrschende, überkandidelte Extravaganz komplett abgeht. Zumindest setzt sie ihre Stimme nicht derartig ein. Das unterscheidet sie enorm von anderen geschulten SängerInnen aus Klassik oder Jazz, welche sich den „Niederungen“ des Volksliedes oder der Popmusik annehmen und dabei bar jeder Subtilität ihre ausgewählten Songs auf vokal hohem Niveau zerschreddern. Giddens‘ mit IRON & WINE veröffentlichte Version von Bob Dylans „Forever Young“ veredelte zudem die NBC-Serie „Parenthood“ und sorgte für etwas mehr überregionale Bekanntheit.
Zweiter im Bunde war der italienische Pianist, Akkordeonspieler sowie Perkussionist Francesco Turrisi, welcher ebenso wie Giddens inzwischen in Irland lebt – allerdings an einer anderen Küste als sie. Turrisi spielt in diversen Formationen und unterrichtet; ist Fachmann gleichermaßen für Klänge aus dem Mittelmeerraum, Nordafrika sowie seiner Wahlheimat. In Darmstadt präsentierte er auch mehrere Tamburine in unterschiedlichen Größen, die ursprünglich aus dem Nahen Osten, Griechenland oder Tunesien stammten – zum großen Teil und zum Amüsement der Gäste jedoch in Österreich hergestellt wurden. Giddens und Turrisi veröffentlichten in diesem Jahr zusammen das hervorragende Album „There Is No Other“, aus dem sich der Hauptteil des Konzert-Repertoires speiste. Unterstützung erfuhren die beiden durch den New Yorker Bassisten Jason Sypher, seit Jahren ein Partner von Giddens und ebenso einer von Niki Jacobs (NIKITOV).
Die ersten 45 Minuten des Sets vor der Pause starteten mit „Ten Thousand Voices“ – gleichsam der Opener des vorgestellten Albums. Es ist eines von mehreren am Abend dargebrachten Stücken über die Sklaverei in den USA. Dramatischer Gospel, immer wieder aufgelockert durch Schilderungen amüsierender Erlebnisse zum Beispiel beim deutschen Zoll (Giddens: „Die Beamten insistierten so lange, dass mein Banjo eine Gitarre ist, dass ich selber nochmal nachschauen musste, was ich dabei hatte. Zollbeamte können so überzeugend sein!“ Turrisi: „Mein Akkordeon sorgte für Erstaunen, als ein Beamter seinen Kollegen fragte, ob er schon mal ’so eine große Schreibmaschine‘ gesehen hätte“).
Das ganze Leid solcher Song-Protagonisten wie der Frau in „At the Purchasers Option“, die als Sklavin wahlweise mit oder ohne ihr neugeborenes Baby erworben werden kann, wechselte sich ab mit humorvollen Erzählungen wie die über den inzwischen gesetzlich untersagten, sufi-artigen Heiltanz aus Apulien, der den Erkrankten teilweise tagelang vor ihrem Bett dargeboten und von Giddens zum Ende des ersten Sets („Pizzica die San Vito“) mitreißend in diesem (sich stark von der italienischen Sprache unterscheidenden) Idiom dargebracht wurde.
Nach der kurzen Pause kam dann das, worauf laut Turrisi „alle gewartet haben: Das Tamburin-Solo!“ Ein Solo, welches jedoch nur ein Intro darstellte zur vokalen Tour de Force von Giddens, als sie mit „Molly Brannigan“ eine irische Volksweise von 1903 intonierte. Immer schneller – immer abgedrehter. Was diese Leute (insbesondere Giddens) an wohlklingendem Hochleistungssport fabrizierten war mehr als beeindruckend. Vor der Arie aus der Purcell-Oper gab es noch eine Geschichtsstunde über Minstrel Songs und Vaudeville; über „Blackfacing“ und darüber, wie die erste England betourende schwarze US-Band im 19. Jahrhundert sich von den Kritikern anhören durfte, keine authentische schwarze Musik zu spielen, weil schwarz kolorierte Weiße ein paar Jahre zuvor ihre Sicht der schwarzen Kultur in die alte Welt brachten. Hochinteressante Vorträge waren das – manchmal tragisch, doch oft auch erheiternd.
Ein Höhepunkt war, als Giddens „Underneath the Harlem Moon“ darbot – eigentlich ein rassistischer Song eines Weißen, der darin Schwarze beschreibt – jedoch in der Version von Ethel Waters, deren kleine Änderungen dem Text einen völlig gegensätzlichen Twist gaben (Näheres zur Geschichte dieses Songs hier). Giddens blühte dabei völlig auf und poste musical-like, was das Zeug hielt. Die Stunde im zweiten Set flog nur so dahin, das Erscheinen zur Zugabe war Ehrensache und von den Akteuren auch fest eingeplant. „The Lonesome Road“ von Gene Austin (ein früher Crooner) sowie „Up Above My Head“ von Sister Rosetta Tharpe (früher Rock’n’Roll) erwiesen Pionieren Ehre.
Das Publikum jedoch wollte noch mehr, so dass ungeplant auch noch „She’s Got You“ der Country-Ikone Patsy Cline gegeben wurde – in einer astreinen Blues-Version. Zwei Stunden und zehn Minuten ausgezeichnete Live-Roots-Music standen am Ende zu Buche, dargebracht mit einem Maximum an Charme und Lebensfreude. Darmstadt, so schmeichelte die verehrte Rhiannon Giddens zwischendurch, sei ja wirklich ein „sehr schöner Ort“ und würde von ihr unbedingt wieder besucht werden wollen. Hoffentlich. Selten machte musikalischer Geschichtsunterricht mehr Spaß als an diesem hervorragenden Konzertabend.
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Text & Fotos: Micha
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