Das Bett, Frankfurt, 16.02.2019
Ich gebe es zu, elektronische Musik nimmt in meiner musikalischen Welt keinen großen Stellenwert ein. Dem Gothic/Darkwave-Genre, dem ich die GRAUSAMEN TÖCHTER mal salopp zuordnen möchte, konnte ich zumindest früher etwas abgewinnen, als dessen Bands noch mit „echten“ Instrumenten – Gitarre, Bass und Schlagzeug – agierten und deutlich vom Punk beeinflusst waren. SPECIMEN, 45 GRAVE, die SUPER HEROINES und CHRISTIAN DEATH zählten in den 1980er Jahren zu meinen Favoriten. Ab den Neunzigern hielten jedoch immer mehr elektronische Gruppen und Klänge Einzug in die Szene, die die alte Garde ablösten, weitaus gefälligere, tanzbare Musik schufen und mit dieser ein neues Publikum anlockten, das mehr an der romantisch-düsteren Atmosphäre und der schwarzen Mode als an der Musik interessiert war – die Punk-Attitüde der früheren Acts war gänzlich verschwunden.
Im neuen Jahrtausend sollte es noch schlimmer kommen, als Formationen wie ASP und UNHEILIG, die seichten Pop-Schlager zelebrieren und gut und gerne auch im ZDF-Fernsehgarten auftreten könnten, das einstige Underground-Genre endgültig in den musikalischen Mainstream führten. Doch, und dies hat uns die Musikgeschichte bereits des Öfteren gelehrt, folgt nach einer langweiligen, spießigen Generation in der Regel wieder eine rebellische, tabubrechende. In diesem Zusammenhang wurde ich auf die GRAUSAMEN TÖCHTER aufmerksam, deren Videoclips teilweise jene subversive, rebellische Attitüde an den Tag legten, die mich einst in den Achtziger Jahren an Wave-Acts begeisterte.
Die aus Hamburg stammenden GRAUSAMEN TÖCHTER sind seit 2009 aktiv und wurden damals von Sängerin Aranea Peel und Drummer/Produzent Gregor Hennig ins Leben gerufen, die beide auf recht illustre Karrieren zurückblicken. Aranea Peel (der Vorname ist der lateinischen Bezeichnung der Spinne entnommen, der Nachname an Emma Peel aus der TV-Serie „Mit Schirm, Charme und Melone“ angelehnt) hat Ausbildungen an der staatlichen Ballett-Akademie in Stuttgart und der Stage School in Hamburg genossen und hegt darüber hinaus ein Faible für die sexuelle Spielart des BDSM, die sie mit den GRAUSAMEN TÖCHTERN auf der Bühne auslebt – ein Grund, weshalb die Shows stets mit dem Vermerk „Einlass erst ab 18 Jahren“ versehen sind. Doch dazu später mehr. Gregor Hennig hat bereits Joachim Witt als Live-Schlagzeuger begleitet und war acht Jahre bei der SLAYER-Coverband HANNS MARTIN SLAYER, die auch in Frankfurt in der Au und im Exzess gastierte. Inzwischen agiert er erfolgreich als Produzent und hat zum Beispiel für Alben von PHILLIP BOA, DIE STERNE und EISENVATER gearbeitet. Auch für die Produktion der bisherigen fünf GRAUSAME TÖCHTER-Scheiben zeichnet er verantwortlich, wobei sich seine Mitwirkung am Projekt mittlerweile ausschließlich darauf beschränkt. Live tritt er nicht mehr mit der Formation auf – was schade ist, wenn man einen Blick auf Videos wirft, bei denen er noch hinter der Schießbude saß.
Doch so oder so, Blickfang der Formation ist ohnehin Frontfrau Aranea, die mit wechselndem Ensemble ihre Auftritte bestreitet. Wer am gestrigen Abend im Frankfurter Club „Das Bett“ neben ihr auf der Bühne stand, vermag ich nicht zu sagen, die Facebook-Seite der Hamburger listet als weitere Mitglieder zwei Background-Sängerinnen, sowie je eine Gitarristin, Bassistin, Keyboarderin und einen Schlagzeuger auf. Tatsächlich wurde Aranea gestern lediglich von einer Background-Sängerin, die gelegentlich eine Taste auf dem Laptop drückte und einer Gitarristin, deren Instrument allerdings zu keiner Zeit zu hören war, begleitet. Insofern dürften Fans der handgemachten Musik schon mal ihre Probleme mit der Performance gehabt haben, denn der Sound kam – wie damals bei der ZDF-Hitparade – komplett vom Band. Gesungen wurde, sofern ich es beurteilen konnte, live. Dies mag etwas abwertend klingen, aber letztlich geht es bei dem Projekt nicht um die Musik, sondern um die Show, die Atmosphäre und die Fantasien, die sich in den Köpfen der Besucher manifestieren. Die den Soundtrack zur Darbietung liefernden elektronischen Beats sind simpel und dürften sich von jedem, der Musiksoftware wie beispielsweise GarageBand auf seinem Rechner hat, leicht reproduzieren lassen.
Das Gesamtkonzept zeugte indes von Kreativität: Texte, Performance und Videoinstallation lieferten eine stimmungsvolle Einheit, der man – als Fan und Kenner der GRAUSAMEN TÖCHTER – durchaus verfallen kann und die auch mich als „jungfräulichen“ Besucher eines Gigs der Hamburger zeitweilig gut unterhielt. Nicht zuletzt, da sich die Show abwechslungsreich gestaltete: Los ging‘s mit „Engel im Rausch“, einem finsteren, ruhigen Song des gleichnamigen aktuellen Albums, bei dem zunächst nur die Sängerin und eine splitternackte Sex-Sklavin auf der Bühne zu sehen waren. Nachdem deren Brüste im Rahmen eines stimmungsvollen Rituals mit Blut übergossen wurden, gesellten sich die restlichen Performer zu dem Duo. Background-Sängerin und Gitarristin verweilten bis zum Ende auf dem Podest, während die Sklavin und eine Domina im Ganzkörper-Catsuit nur zu bestimmten Songs interagierten und gelegentlich mit Jagd- und Schlachtermessern oder gar Knarren posierten.
Die Sklavin hatte im Laufe des Abends noch einiges mehr zu ertragen: Ihre Brustwarzen wurden mit Nadeln durchbohrt, ihr wurden Messer an die Kehle gelegt, sie wurde mit einer Flasche Wodka übergossen und abgefüllt und musste sich bei einem der Tracks eine Pistole an den Schädel halten, während Aranea Peel Worte wie „Tu es, mach es …“ ins Mikro raunte. Zusätzlich gab es synchrone Aerobic-Darbietungen, ein Mann wurde aus dem Publikum geholt und mehrfach ins Gesicht geschlagen – ich bin sicher, er wollte es so – und beim Track „In Deinem Kopf“ pullerte die Sängerin breitbeinig auf der Bühne stehend in eine geöffnete und mit Gesicht versehene Wassermelone, die die Gehirne der Zuschauer symbolisieren sollte. So etwas nennt man dann wohl anatomischen Expressionismus. Eben dieser wurde auch gelebt, als auf der Leinwand im Hintergrund eine gespreizte Vagina in Großaufnahme zu sehen war. Aufklärung einmal anders.
Als versierter und musikalisch vielseitig interessierter Konzertgänger hat man all dies natürlich schon mal hier oder da gesehen. Die GENITORTURERS beispielsweise bearbeiteten einst in der (alten) Batschkapp ein Penis-Piercing mit einer Flex, bei ROCKBITCH wurde uriniert und Live-Sex praktiziert, die französische Formation DIE FORM visualisierte das BDSM-Sujet wesentlich künstlerischer und Blut floss bereits bei SKINNY PUPPY, SAMHAIN und allerlei anderen Gruppen mehr. Allerdings liegen die Hochphasen der genannten Acts teilweise Dekaden zurück, sodass die Zeit nun vielleicht wieder reif für eine Band ist, die eine vermeintlich extremere Performance bietet. Die GRAUSAMEN TÖCHTER können dabei aus den Vollen schöpfen, denn den meisten jungen Fans dürften die erwähnten Formationen kein Begriff mehr sein und die Show als neu und innovativ angesehen werden.
Was auf die Performance zutrifft, gilt gleichermaßen auch für die Musik, die ebenfalls bekannte Stile zitiert. Von minimalistischem Elektro-Pop der Marke KRAFTWERK („Sex in Germany“), über klassischen EBM, wie ihn einst DAF zelebrierte („Lila Katzen“), bis hin zu Neue-Deutsche-Welle-Anklängen („Anika ist tot“) liefern die GRAUSAMEN TÖCHTER eine bunte Mixtur an elektronischer Musik mit deutschen Texten, die sich natürlich auf einen gewissen kreativen Rahmen beschränkt. Zwar könnte man das Ganze lapidar als Plagiat abstrafen, doch dafür hatte die Performance zu viel Charme. Aranea Peel mimte die Zeremonienmeisterin des BDSM äußert glaubhaft, die Show war unterhaltsam und zwischendrin gab‘s noch Cover-Versionen der NDW-Songs „Der goldene Reiter“ (Joachim Witt) und „Rosemarie“ (Hubert Kah). Unter dem Strich hatte der Gig in vielerlei Hinsicht etwas zu bieten: Die Freunde theatralischer Bühnenshows kamen auf ihre Kosten, tanzwütige EBM- und Wave-Fans wurden bedient, NDW-Jünger befriedigt und natürlich kamen auch die Connaisseure der weiblichen Anatomie nicht zu kurz. Letztere rekrutierten sich teilweise aus älteren Herren, die rein optisch nichts mit der Schwarzen Szene zu tun hatten, sondern vermutlich einfach für wenig Geld eine ordentliche Peepshow genießen wollten. Wehe dem, der am nächsten Tag die Klos reinigen musste.
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Text: Marcus / Fotos & Clip: Kai
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