Jubez, Karlsruhe, 31.10.2022
Nachdem diverse Katastrophen-Meldungen im Leben des hier Schreibenden dafür sorgten, dass Konzerttickets für mehr als 300 Euro ungenutzt verloren gingen, war es eine Wohltat mal wieder das sehr verehrte Dudefest in Karlsruhe anzusteuern – erstmals für mich an Halloween. Das versprach zum einen etwas düsterere Klänge als beim Pendant im Frühling, zum anderen schonte es Geldbeutel und Umwelt, weil es das Bereitstellen von einzeln in Plastik verpacktem Naschzeug für die mitunter fantasievoll verkleidete, jugendliche Nachbarschaft obsolet machte. Win-Win, quasi. Das Programm bestand diesmal aus insgesamt fünf Acts, von denen zwei mit dem Dudefest ihre gemeinsame Tour abschlossen, die sie außerdem auf das kultige Soulcrusher nach Nijmegen sowie das nicht minder überzeugende Desertfest Ghent führten.
Foto oben: Midwife
ENVY (JP) und ihr Support BOSSK (UK) bekamen in Karlsruhe Gesellschaft von MIDWIFE (USA), ULTHA (Köln) sowie PHANTOM WINTER (Würzburg). Die letzten beiden haben einen exzellenten Ruf unter Lärmfetischisten – und wer nicht rechtzeitig einen Blick auf die Running Order warf, die zum Beispiel auf Facebook gepostet wurde, hätte wohl nicht erwartet die deutschen Formationen zeitlich vor MIDWIFE zu sehen. Denkste. PHANTOM WINTER eröffneten auf der kleinen Bühne, einige ihrer Anhänger waren da noch gar nicht erschienen. Eigentlich ein cooler Move der Veranstalter aus diversen denkbaren Gründen – einer könnte sein, die Ignoranz gegenüber der einzigen Frau im Line Up, die auch soundtechnisch besonders aus dem Rahmen fiel, abzustrafen. Ein anderer, eine Auszeit von Geboller, Gekeife oder Gebrüll genau in der Mitte des Sets einzulegen und den Menschen, die nichts anderes hören mögen, in dieser Zeit eine Pause zu bieten. Warum das trotzdem nicht so prickelnd funktionierte, beschreibe ich später. Erstmal waren die Würzburger am Start – und sie hatten erkennbar Bock.
PHANTOM WINTER entstanden aus einer Rippe der im Jahr 2014 zu Grabe getragenen Instrumental-Schwerenöter OMEGA MASSIF. Aus einer weiteren wurden CRANIAL geschnitzt, die ich hier schon mal abfeiern konnte. Mein erstes Mal PHANTOM WINTER fand ohne
Phantom Winter
Vorkenntnis der bisher drei verfügbaren Scheiben statt; mal einfach wirken lassen die Musik, die von Metal Archives (ebenso wie die durchaus anders klingenden OMEGA MASSIF oder CRANIAL) schlicht als „Sludge“ gelabelt wird – was keineswegs ausreichend erscheint bei dieser abartigen Klangfülle, in der Post- wie Black Metal ebenso zum Tragen kommen wie Hardcore, Post-Punk oder Doom.
„Winterdoom“ oder „Wintercvlt“ sagt die Band selber, passt. Verzweiflung, sphärische Dunkelheit, Leidenschaft wie Ekstase sind die Gewürze, wenn Songschreiber, Gitarrist und Keifstimme Andreas Schmittfull, Schlagzeuger Christof Rath (beide waren bei OMEGA MASSIF), Christian Krank (Gebrüll bzw. tiefer Gesang), Gitarrist Florian Brunhuber sowie Bassist Kevin Gärtner aufeinandertreffen.
Laut setlist.fm spielte die Formation binnen 45 Minuten zwei Songs ihres Debüts „Cvlt“, „Bombing The Witches“ von „Sundown Pleasures“ und zwei neue Stücke. Bestätigen kann ich das nicht, weil ich beim Gig nichts von PHANTOM WINTER kannte. Das änderte sich nach diesem beeindruckenden Parforceritt, der die nächsten Tage kaum Anderes in der heimischen Bude an Gehörtem zuließ. Zu den Themen und der Motivation PHANTOM WINTERs empfehle ich ein von meiner geschätzten Kollegin Melanie Aschenbrenner geführtes Interview (hier).
Flashback, Mai 2019, gleicher Ort: Ebenso wie PHANTOM WINTER am heutigen Tag spielten die Kölner ULTHA auf der kleinen Bühne des Jubez. Ich kannte keinen Pieps vorher und wurde weggeblasen, ein
Ultha
Besuch des von ULTHA veranstalteten Unholy Passion Fest im heimischen Gebäude 9 zu Köln wurde später durchgeführt, Platten oder Downloads bestellt. Die alles vernebelnde Formation um Ex-PLANKS Ralph Schmidt trat diesmal in Vollbesetzung an – also zu fünft, was in den letzten Monaten aus diversen Gründen nicht immer funktioniert hat. Schwerpunkt des 50-minütigem Vortrags im „großen“ Saal war das aktuelle Meisterwerk „All That Has Never Been True“, das im April 2022 ohne Ankündigung veröffentlicht wurde und den Genregrenzen ignorierenden Black Metal ihres bisherigen Œuvres ein neues Glanzlicht bescherte.
Wenn Bassist & Co-Sänger Chris Noir treibend seinen Bass slappt, Gitarrist Lars Ennsen auf der linken Seite aus dem FIELDS OF THE NEPHILIM-Gedächtnisnebel Akkorde spielt, wie sie ebenso von KILLING JOKE sein könnten, Drummer Manuel Schaub das Tempo multipliziert bevor Gekreische wie Gitarre von Ralph Schmidt neben der elektronischen, sphärischen Unterstützung von Andreas Rosczyk ein Inferno DARKTHRONEscher Prägung entfachen, dann hören wir nicht nur
konkret „Haloes In Reverse“, sondern vielleicht der aufregendsten Band Deutschlands (neben DIE NERVEN) zu.
Es ist einfach unfassbar, auf welchem Qualitätslevel sich der Output von ULTHA eingespielt hat – dass alle Musizierenden noch jede Menge hochklassiger Side- wie Soloprojekte am Start haben, macht die Ehrfurcht noch größer. Frankfurter Lesende dieses Berichts sollten u-n-b-e-d-i-n-g-t schnellstens ein Ticket für die Wild Boar Wars IV kaufen, die zur Zeit wegen miesen Vorverkaufs auf der Kippe stehen (mehr hier). Das ist keine Übung. Nicht nur wegen ULTHA muss dieses Event auf dem Black Metal-unterversorgten Frankfurter Boden stattfinden, sondern auch wegen des hochklassigen Beiprogramms. TERZIJ DE HORDE allein wären den Eintritt schon wert.
Für viele hätte das Konzert jetzt bereits zu Ende sein können – für mich nicht, weil ich durchaus ebenso wegen MIDWIFE am Start war. Durch den Wechsel zwischen den Räumen gab es kaum Pausen zwischen den
Midwife
Acts, MIDWIFE’s Auftritt schloss also fast direkt an das Ende der akustischen Perfektion im Nebenraum gerade eben an. Nun ist die kleine Bühne allerdings keine fünf Meter entfernt von der Theke des Foyers hinter dem Eingang auf der anderen Seite, welche viele Menschen nun aufsuchten, um sich zwischen den beiden Metal-Acts eben und dem Post-Zeug etwas später eine Pause zu gönnen.
Madeline Johnston, wie die u. a. auch als SISTER GROTTO veröffentlichende Musikerin eigentlich heißt, stammt aus Denver und fabriziert alleine mit ihren Geräten eine sphärische Musik, die einige „Slowcore“ nennen und die sie selbst auf ihrer Bandcamp-Seite als „Heaven Metal“ bezeichnet. Viel Hall auf der Stimme, Gitarrenklänge, bei denen Pausen ebenso wichtig sind wie die gespielten Töne – das ist Musik, auf die man sich als Aggro-Nerd vielleicht einlassen muss. Erschwert wird solch ein Einlassen jedoch extrem, wenn das Klimpern der Gläser sowie das lautstarke Frohlocken über das eben im Nachbarsaal Gehörte den Sound auf der kleinen Bühne nicht nur überschattet, sondern zum Teil sogar dominiert. Bei PHANTOM WINTER konnte die Tür zum Tresen aufbleiben. Erstens wollte da niemand grölend pausieren, noch hätte man akustisch davon etwas mitbekommen bei dem halsschlagaderverzerrenden Zusammenspiel von Schmittfull und Krank.
Johnston dagegen, die bis zur Schließung der Verbindungstür zunehmend angespannter wie genervter wirkte, zupfte nachhallende Töne auf der E-Gitarre, konterkarierte sie bisweilen mit solchen, die man als Unkundiger gerne als „falsche“ wahrnahm und verlangte ihrem Publikum eine Offenheit ab, die nur ein Teil der Anwesenden bereit war zu zeigen. Brüllen, Keifen, Testosteron – MIDWIFE war davon das komplette Gegenteil. Zartes Wispern in den Telefonhörer – höchstens mal unterbrochen durch die Erkenntnis „God hates me“, die verstärkt herausgeschrien wurde. Die Stücke des halbstündigen Albums „Luminol“, das man später für einen Zehner als Tape erstehen konnte, verfehlten ihre Wirkung auf die Zuhörenden jedoch nicht. „Beste Band bisher“, meinte einer der Gäste sogar am Ende zu seinem Kumpel.
Als nächste die Briten BOSSK im größeren Saal – die einzige Combo, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Traumhafte Gitarrenläufe tönten aus dem Nebel, mehrere Minuten lang. Sollte das eine
Bossk
Postrock-Band sein, ähnlich der von mir so verehrten RUSSIAN CIRCLES? Oder stand das Mikro in der Mitte doch für einen Vokalisten parat, der gleich alles wieder zerbrüllt? Leider ja. Doch nicht über die ganze Distanz. Song Zwei („Heliopause“ sagt setlist.fm) begann fett rifflastig und addierte später atmosphärische Tupfer, verzichtete jedoch (wie einige andere Stücke ebenfalls) auf den Shouter Sam Marsh. Für Wikipedia sind BOSSK eindeutig ein Metal-Act, für mich als Ersthörer waren sie das weniger. Aber vielleicht waren sie das ja vor ihrer Pause von 2008 bis 2012.
Die auf dem Dudefest dargebrachten Songs stammten alle von Veröffentlichungen danach, hauptsächlich von „Audio Noir“ (2016). Und – was soll ich sagen: Obwohl ich meinen Pausenmoment während der Spielzeit von BOSSK hatte (will heißen: kurzzeitiges Lüften der Maske um zwei kühle Weizenbiere dahinter zu schütten als alleinigen Flüssigkeitsnachschub an diesem Abend) faszinierten mich die Klänge des Sextetts aus Ashford in der Grafschaft Kent rückwirkend am meisten (nach ULTHA). Ihre online vorhandene Diskografie wurde von mir im Nachgang rauf und runter gedudelt; durchaus bedauernd, während der Show nicht konzentrierter vor der Bühne gewesen zu sein. Waren da überhaupt sechs Musizierende am Start? Aus dem Nebel tauchten nur die Gesichter Marshs sowie das des Bassisten Tom Begley auf – die Gitarren, mögen es zwei oder drei gewesen sein, blieben verhältnismäßig unsichtbar. Der hinterlassene Eindruck indes war es nicht. Highlight.
Kein Raumwechsel mehr, ENVY starteten knapp 30 Minuten nach BOSSK an gleicher Stelle.
Envy
Die einzige Formation des Abends, die weder in der Selbstdarstellung noch in der Fremdwahrnehmung etwas mit Metal zu tun hat – bei der es aber weit konsequenter akustisch auf die Fresse gab als bei ihren Tourmates BOSSK. Auch die Vokalartisten des Würzburger Openers tauchten nun auf, um dem Screamo-Post-Rock aus Nippon abzufeiern.
Größtenteils auf Japanisch zelebrierte das exzessiv agierende Sextett (war bei ENVY nebellos erkennbar) mit drei Gitarristen seine Postrock-Eskapaden in meist rasendem Tempo, die melancholischen Zwischenspiele waren rarer gesät als bei BOSSK oder ihren ebenfalls bereits auf dem Dudefest aufgetretenen Landsleuten MONO. Vokalist Tetsuya Fukagawa, ebenso verantwortlich für diverse Programmierungen, changierte zwischen schneller Spoken Word-Performance oder knarzigem Gegröhle, während die Saitenfraktion unzählige Kalorien bei gleichzeitiger Riffattacke verbrannte. Schlagzeuger Hiroki Watanabe sowie Bassist Manabu Nakagawa standen dem Workout in Nichts nach.
Als nach einer knappen Stunde Spielzeit das Ende des Auftritts erreicht war, schien das Dudefest-Publikum langsam durch und bettschwer; lange dauerte es, bis es sich dazu aufraffen konnte, dem Tourabschluss der Japaner noch eine Zugabe zu entlocken. Welche postwendend und dankbar serviert wurde. Ein grandioser Konzertabend ging damit zu Ende, leicht divers und durchweg hochklassig, was von mehr Menschen angenommen wurde als das Dudefest im April. Oder bisher
die Wild Boar Wars in Frankfurt. Wenn Ihr sowas Schönes wie das Dudefest auch zuhause in FFM haben wollt, dann sorgt durch den Ticketkauf bitte dafür, dass das stattfinden kann.
Links: https://de-de.facebook.com/wintercvlt/, https://phantomwinter.bandcamp.com/, https://de-de.facebook.com/templeofultha/, https://ultha.bandcamp.com/, https://www.facebook.com/hvnmtl, https://heavenmetal.bandcamp.com/, https://bossk.co.uk/, https://bosskband.bandcamp.com/, https://envybandofficial.com/, https://envy.bandcamp.com/
Text & Fotos: Micha
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