Schlachthof, Wiesbaden, 5.11.2019
Dreiundzwanzig und schon Königin. Die Presse scheint sich einig: Ilgen-Nur ist gegenwärtig die „Slacker-Queen“ (laut.de, Missy Magazine sowie zahllose andere). Zu verdanken hat sie den Titel ihrer unfassbar lässigen Attitüde, ihrer Stimme, die sich um ihre Gitarren-Pop-Perlen schmiegt wie „butter on the toast“ sowie ihren Songs, in denen sie von Begegnungen, Beziehungen, Alltag und Befindlichkeiten erzählt. Entspannt wie beim Spaziergang im Park oder beim Cruisen im Cabrio. Auf jeden Fall in Bewegung, aber nicht zu hektisch.
„Power Nap“, ihr erstes Langspieler nach einer Tape-EP 2017, ist laut Visions eines der „Alben des Jahres“. Und weiter: „Man müsste schon sehr ignorant sein, um Ilgen-Nur nicht als eine der aufregendsten Künstlerinnen unserer Zeit zu feiern“ (Britta Helm dort). Für den deutschen Rolling Stone kommt hier „das neue Cool“; Sounds & Books bezeichnet sie als „Rohdiamanten des Indie-Rock“; die dpa stellt sie in einem vielfach publizierten Artikel in eine Reihe mit Mitski, Lucy Dacus, Anna Calvi oder St.Vincent. Mit Frauen halt. Mit außergewöhnlich guten Musikerinnen. Doch, Surprise: Man kann Ilgen-Nur auch zu außergewöhnlich guten Männern einreihen. Mit einigen macht sie Musik, tonangebend wie federführend. Sich ihrer Vorbildfunktionen für junge Frauen durchaus bewusst, forschte sie auf der Suche nach mehr Diversität bis vor Kurzem noch explizit nach einer Bassistin
und entschied sich schließlich doch für einen Mann (Missy Magazine) – außerdem fragt sie sich bei jeder Festival-Buchung, ob diese ihrem Können oder einer Quote geschuldet ist (ebenda).
Musikschaffende Männer müssen sich derlei Gedanken nie machen. Den Support solcher Indie-Größen wie TOCOTRONIC (die Ilgen-Nur 2018 auf Tour mitnahmen), Gisbert zu Knyphausen (auf dessen Open Air Heimspiel Knyphausen im Rheingau sie in diesem Jahr auftrat) oder Max Rieger (Gitarrist von DIE NERVEN und als Produzent sowie musikalischer Tausendsassa mit der Bezeichnung „der deutsche Rick Rubin“ vom Berliner Tagesspiegel geadelt) hat sie sich geschlechtsunabhängig erarbeitet. Was zu einem ansehnlich und mit extrem gemischten Publikum gefüllten Kesselhaus des Wiesbadener Schlachthofs führte.
Noch mehr Lässigkeit zu Beginn: MONAKO (mit K, „ganz wichtig“, so Sänger Sadek Massarweh) musizierten am Anfang des Konzertabends knapp 45 Minuten fast ebenso lange hockend vor den Gitarrenpedalen wie stehend oder tänzelnd an den Mikrofonen. Sehr viel technischer Aufwand (so wirkte es auf Laien wie mich) um die perfekten Töne zwischen Coolness und minimaler Ekstase zu kreieren. Ebenfalls sehr entspannt, dabei niemals anbiedernd, ausgelutscht oder altbacken. MONAKO wurden im vergangenen Jahr noch als Trio beschrieben (hier) und sind inzwischen zu einem Quintett mutiert – neben Massarweh noch mit dem Gründungsmitglied Jakob Hersch, welchen man außerdem von DER RINGER kennt. Dass MONAKO gerne R&B hören war bei ihrem Soundbild zu erahnen, das neben der Gitarren-Indie-Pop-Basis auch einen Hauch Psychedelic durchschimmern ließ. Ein bisschen wie OKTA LOGUE minus der Prog-Rock-Eskapaden, denen die Darmstädter teilweise frönen. Ein ganz famoser Opener, den man am 21. April 2020 im Mainzer Schon Schön mal als Headliner erleben kann.
Ilgen-Nur betrat schließlich unter leichtem Nebel mit ihren drei Jungs wenig später die Bühne – etwas wortkarg, was, ihrer Ansage nach, selten vorkommt. Geschuldet sei diese „Shyness“ einer saftigen Seuche, welche den Auftritt nur mit extremer Ibuprofen-Dosierung statt dem kommunikationsfördernden Alkohol möglich machte. Sie entschuldigte sich für die verkürzte Setlist und ihr späteres Fehlen am Merch-Stand. Allerdings würde Bassist Max dort für sie übernehmen – der sei ja „sowieso viel netter“ sprach sie, den Schlaks zu ihrer Linken dabei anlächelnd. Max? Ihr regulärer Tieftöner Laurens Maria Bauer war das also nicht – der Grafik-Designer hat vielleicht gerade was anderes zu tun oder war ebenfalls krank. TRÜMMER-Gitarrist sowie Schauspieler Paul Pötsch war jedoch zugegen, ebenso wie Schlagzeuger Simon Starz. Alle zusammen spielten ihre hinterhältigen Ohrwürmer (die sich nicht sofort als solche offenbaren, dann jedoch im Hirn festgetackert sind) mit unaufdringlicher Vehemenz etwa eine Stunde lang.
Die jungen Mädels im Raum strahlten und auch die „alten Kartoffeln“ schienen entzückt, die sonst so oft die Frage stellen nach der Herkunft Ilgen-Nurs (Das Wetter). Hamburg aktuell, btw. Songperlen wie „Nothing Surprises Me“, „Cool“ oder „Easy Way Out“ lassen keine andere Lesart fernab der Entzückung zu – das ist ganz großer Gitarren-Pop, dem man sich nicht entziehen kann. Nächstes Mal,
ohne Seuche, wird es wohl länger dauern als nur eine Stunde. Am Ende wechselten Ilgen-Nur und Max ihre Instrumente und der Bassist zeigte seine Macht an der Gitarre. Hm. Sollte der „deutsche Rick Rubin“ etwa für Bauer eingesprungen sein? Noch bin ich überfragt – doch da DIE NERVEN im Dezember an gleicher Stelle zu sehen sein werden ist das demnächst überprüfbar. Ilgen-Nur, DIE NERVEN, TRÜMMER oder Drangsal – soviel geiler Scheiß ist gerade von jungen Musikern aus Deutschland am Start. Lasst das Jammern über die aussterbenden Rock-Giganten, verehrte Mit-Ü50-er. Geht in die Clubs, da brodelts gerade heftig. Zuhören lohnt sich.
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Text & Fotos: Micha
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