Frankfurt, 26.12.2017
Und weiter gehts mit unseren Jahresrückblicken, folgender wurde verfasst von Micha.
Ich bin größtenteils angekotzt. So von der Gesamtsituation. Ich beobachte eine Entwicklung auf diesem Planeten, bei der alles übler wird. Das menschliche Zusammenleben sowie die Balance zwischen den Menschen und ihrem Lebensraum. Wohl wissend, dass ich nach wie vor zu den Privilegierten auf dem Globus gehöre, die die Möglichkeit nutzen können, sich aus dem Scheiß für eine Weile komplett auszuklinken. Was ich auch nutze, gerne und oft. Doch manchmal kommt es mir vor, als würde all die Beschäftigung mit der Kultur allgemein und der Musik im Besonderen einem nur die Blase verschönern, in der man das Ende der Zivilisation verschläft.
Bild oben: Yasmine Hamdan, aufgenommen am 10. Mai 2017 in der Frankfurter Batschkapp, bearbeitet 12/2017 (Klick zum Vergrößern)
Ist das so? Vielleicht. Auf der anderen Seite: Beschleunigt die Aufgabe der eigenen Blase nicht sogar das Ende der Welt, wie wir sie kennen? Ich könnte den ganzen Tag im echten Leben und/oder in den (a)sozialen Medien Stellung beziehen gegen den immer forscher auftretenden Alltagsfaschismus, der von Regierenden gleich welcher Couleur angeheizt wird um profilierungssüchtigen Wahrheitsverdrehern in den braunen Arsch zu kriechen um ihre Pfründe zu sichern. Oder von Leuten, die „denken“, die Erde sei flach. Oder von Menschen, die Russia Today als verlässliche Nachrichtenquelle einstufen. Oder Befürwortern der Systeme Erdogan, Putin und Trump. Oder von deutschen Innenministern, die der Ansicht sind, eine Räumung der Au oder ähnlicher Zentren in Deutschland sei eine Maßnahme für den inneren Frieden ebendort, während sächsische Bullen Nazi-Konzerten zusehen und Panzer mit Fraktur-Schrift ordern. Oder von Gestalten, die das Judentum zum Teufel wünschen und das als legitime Israel-Kritik verkaufen. Oder, oder, oder. Die Liste der unfassbaren Nachrichten wurde dieses Jahr wieder länger. Ein aktuelles Highlight ist, dass Sigmar Gabriel von der SPD meint, über „Leitkultur“ referieren zu müssen und sich damit der CSU angleicht. Und ich Trottel habe die, zumindest einmal in meinem Leben, gewählt. Zum Henker, wer will einem da das ignorante Verbleiben in der eigenen Blase verübeln?
Die meisten Künstler, mit deren Werk ich mich beschäftige, sehen die Welt weitaus differenzierter als das Gros der politisch Verantwortlichen und taugen wohl mehr dazu, wichtige gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen. Aber keiner von denen will das (sogar Shantel hat seine Kandidatur für das Amt des Frankfurter OB zurückgezogen). Das ist wie bei den Castingshows á la DSDS: Die Trottel mit der größten Klappe sind Stoff für Schadenfreude-TV und verkacken auf der Bühne vom Derbsten; die mit den besten Stimmen sind die, die ständig an sich zweifeln. Und ja, auch Castingshows finde ich zum Kotzen.
Konzerte – Flops
Nicht jedoch den Besuch von Live-Veranstaltungen, egal ob im Kellerclub oder in großen Hallen. Wobei bei letzteren wirkliche Qualität weit seltener zu finden ist – zu erfolgsverwöhnt, arrogant und abgeschmackt generieren sich dort viele Akteure. Zumindest in meiner Flop-Liste 2017 dominieren große Namen:
Platz 5-4: MASTODON (6.7., Batschkapp, Frankfurt) und METALLICA (14.9., Lanxess-Arena, Köln)
MASTODON sind eine geile Band. Ihr letztes Album ist in meiner Welt aber ein pseudoproggiger Rohrkrepierer ohne Charakter. Das ließ sich live in der Batschkapp leider auch nicht verschleiern. Wenigstens hatten sie mit STEAK NUMBER 8 eine gute Vorband. METALLICA dagegen fabrizieren schon länger Alben ohne Nährwert, die aber clever genug arrangiert sind,
Metallica in der Lanxess-Arena, 14. September
um nicht gleich so beschissen zu erscheinen, wie sie sind. Vielleicht taugen die auch was für Leute, die vorher noch nie ein METALLICA-Album gehört haben und damit die vergangene Klasse der Band nicht einschätzen können. Live wurde das in Köln auch optisch famos recht lange zelebriert, dabei Fannähe demonstrierend, die die Combo anno 2017 nur noch für ordentlich Schotter übrig hat. Bands mit teurem Meet & Greet saugen generell – wenn das die reichste Metal-Formation des Planeten macht, umso mehr. Die Anti-These dazu sind übrigens IRON MAIDEN, die sich den Arsch abspielen, ständig die Sets und Setlist verändern und an ihren Auftritten selbst am meisten Spaß zu haben scheinen. Wie in der Frankfurter Festhalle dieses Jahr zwei Mal bewiesen.
Platz 3: Mark Lanegan (27.6., Gibson, Frankfurt)
Ein Künstler, der eine Menge grandioser Alben geschaffen hat und in Frankfurt sehr unter seinen Möglichkeiten blieb, ist Mark Lanegan. Der spielte im Gibson mit einer kompetenten Band und einem astreinen Vorprogramm einen ziemlich öden Gig, der, woanders aufgenommen, auch käuflich in
Mark Lanegan im Gibson, 27. Juni
Kleinstauflage zu erwerben war. Schnarch. Wenn jemand noch einen Beweis dafür gebraucht hat, dass die tollen Platten von Isobell Campbell & Mark Lanegan größtenteils bis ausschließlich auf ihrem Mist gewachsen sind, so konnte man ihn im Gibson erahnen.
Platz 2: Angus & Julia Stone (29.10., Schlachthof, Wiesbaden)
Was war das für ein tolles Event 2014 im Offenbacher Capitol. Doch die Veröffentlichung des aktuellen Albums „Snow“ deutete schon eine gewisse Zahnlosigkeit an, das Konzert dazu im Wiesbadener Schlachthof war es erst recht. Dass Julia Stone etwas Deutsch sprach und dann Udo Lindenberg coverte, war
Julia Stone (Capitol, 2014)
gleichermaßen süß, besonders und grauenhaft. Weil der Song so übel ist. Wie das meiste von Udo (nach 1981). Aber das kann man auch anders sehen. Mich ärgert hauptsächlich, dass ich deswegen nicht zu den gleichzeitig spielenden ANATHEMA in die Batschkapp ging. Big Fail.
Platz 1: Bob Dylan (25.4., Festhalle, Frankfurt)
Alles wurde aber abgeschossen von dem Literaturnobelpreisträger Bob Dylan. Der spielte in der Festhalle, der Eintritt war der Legende angemessen und, unterm Strich, eine Unverschämtheit. Dylan, den ich für viele seiner musikalischen Phasen extrem verehre, ist seit einiger Zeit auf dem Trip, Lieder
Bob Dylan in der Festhalle, 25. April
seines Idols Frank Sinatra zu covern, bzw. generell Klassiker des sogenannten American Songbook. Kann man machen, sind ja schöne Stücke, größtenteils. Nur wird in der Dylan-Rezeption leider oft der Tatbestand ignoriert, dass der Meister der tollen Texte und Inhaber eines des größten Paares Eier in der Musikwelt ein ziemlich miserabler Sänger ist. Was bei seinen selbst geschriebenen Songs keine Rolle spielt. Was durch das fortgeschrittene Alter aber nicht unbedingt besser wurde. Und jetzt tänzelt der, den viele (nicht wirklich scherzhaft) einen „Messias“ nennen, auf der Bühne der Festhalle herum und singt beswingt „Stormy Weather“. Höre ich gerne von Etta James, zum Beispiel. Dylan soll das ja auch machen dürfen, aber nicht für etwa 100 Euro Eintritt bei knapp einer Stunde Spielzeit, sondern eher im Orange Peel für maximal 20 Euro. Eine Totalkatastrophe, die im kommenden Jahr für noch weitaus mehr Eintritt weitergeht. Was macht er wohl als Nächstes, Maria Callas covern? Komm, hör auf.
Konzerte – Tops
Aus Platzgründen die Highlights etwas kürzer – in der Regel kann man die Berichte dazu ja in diesem Blog lesen. Echt fantastisch 2017 waren: YEAR OF THE GOAT in Wiesbaden (31.1.). Die besseren GHOST minus theatralischem Schnickschnack machen leider gerade Pause oder vielleicht
Tedeschi Trucks Band in der Batschkapp, 3. April
sogar Schluss, sehr bedauerlich. Die TEDESCHI TRUCKS BAND in der Batschkapp (3.4.), die das Erbe der ALLMAN BROTHERS BAND unter eigenen Gesichtspunkten am Leben erhält.
Conor Oberst, der erst in Köln (21.1.) und später in Frankfurt (15.8.) zwei komplett verschiedene Sets mit ebenso komplett anderen Unterstützern darbot. Beide Abende waren großartig.
Conor Oberst im Gloria-Theater, 21. Januar
Yasmine Hamdan in der Batschkapp (10.5.) und Emma Ruth Rundle im Zoom (7.12.), die sich beide emotional verletzlich präsentierten und das Publikum damit vollständig auf ihre Seite zogen. ZOLA JESUS, die das auf ihre derbere und kunstvollere Art ebenso im Mousonturm tat (25.11.).
Und die besten Bands mit Gitarren, die den Rock’n’Roll historisch
Crippled Black Phoenix in „Das Bett“, 23. November
respektvoll präsentieren und gleichermaßen Innovationen einfügen: ALL THEM WITCHES in „Das Bett“ (12.10.). THE AFGHAN WHIGS in der Batschkapp (13.6.). CRIPPLED BLACK PHOENIX auf dem Hammer Of Doom (18.11.) sowie in „Das Bett“ (23.11.). Ich wäre ein weitaus unglücklicherer Mensch, wenn ich das alles verpasst hätte.
Clubs
In welchen Clubs war ich gerne? Nun, das hängt bei mir mit dem Aufwand zusammen, meine Kamera in eben diesen zu bekommen, von der Freundlichkeit der Mitarbeiter dort sowie von der Auswahl der Getränke. Da. Ruled. Das. Bett. Mehr denn je. Im Colos-Saal Aschaffenburg, in der Centralstation Darmstadt sowie
Das Bett, Frankfurt
im Nachtleben Frankfurt habe ich seit diesem Jahr Probleme, meine Kamera mitnehmen zu dürfen. Von den meisten Veranstaltern im Hintergrund bekomme ich für Fotopasswünsche standardisierte Absagen, weil die sich nicht mit diesem Blog beschäftigen und der Tagespresse den Vorrang geben, die in der Regel keinen Bezug hat zum Rock’n’Roll. Im Club „Das Bett“ ist das alles locker easy, die Leute sind saunett, das Bier günstig und akzeptabel. In Aschaffenburg sind die Leute auch nett, das Bier ist jedoch noch weitaus besser (Bayern, halt.). Großartige Veranstaltungen nach meinem Gusto gibt es glücklicherweise in beiden Läden zuhauf.
Am Schlachthof in Wiesbaden und der Batschkapp in Frankfurt führt natürlich auch kein Weg vorbei,
Kesselhaus, Schlachthof Wiesbaden
wenn man sich gescheites Zeug anhören will, welches von mehreren Menschen goutiert wird. Das Frankfurter Zoom schätze ich wegen der Getränke-Auswahl ausdrücklich nicht, bin aber beeindruckt von der Programm-Gestaltung und dem Licht/Sound dort.
Stark nachgelassen haben meine Besuche in Clubs, die ich auch mag, deren Internetpräsenz aber kaum über den aktuellen Monat hinausgeht, was meine Konzertplanung erschwert. Beim Orange Peel ist das so, beim Elfer
Batschkapp, Frankfurt
in Sachsenhausen auch. Die hatten sich einen schicken neuen Internetauftritt gegönnt, bei dem nur der verschwisterte Ponyhof seine Daten regelmäßig einpflegt. Schaut man beim Elfer, heißt es nur: „Wir sind live“. Ja, Danke. Und sich dann wundern, dass nur sieben Leute zu ALPHA TIGER kommen.
Läden, in denen geraucht wird, werde ich auch in Zukunft nicht betreten, egal wie geil die Band sein mag, die da spielt. Macht nix, qualmt da ruhig weiter. Wenn in den Lokalitäten jedoch gequarzt wird, in denen das verboten ist, dann nervt mich das extrem. Vor allem, weil sich die meisten der Süchtigen dabei als „Rebellen“ vorkommen, wenn sie sich den Regeln nicht beugen. Zur Info: Ihr seid keine Revoluzzer, wenn andere unter Euch leiden. Seien es Musiker oder Konzertbesucher. Ihr seid nur kleine Spackos, die zu faul sind, zum Rauchen raus zu gehen. Scheiß Egoisten. Wie so viele weitere, die mich gerade ankotzen. Und jetzt, zurück zur Blase. Frohes Neues.
Micha / Rockstage-Riot-Team
Fotos: Micha
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Gude Micha,
wie immer ein kurzweiliger Jahresrückblick von Dir. Bei Alpha Tiger im Elfer waren jedoch zehn zahlende Gäste anwesend.
Beste Grüße
IRON-Guido