Frankfurt, 28.12.2019
Hier der zweite von insgesamt drei Jahresrückblicken unseres Teams. Diesen verfasste Micha.
2019 ist (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Rückblicks) fast vorbei – und was soll ich sagen: Es war ein Scheißjahr. Mal wieder. Twitter (zum Beispiel) ist voller Hoffnung, dass 2020 alles besser wird. Hmmm… Nein. Denke nicht. Ganz im Gegenteil. Das meine ich natürlich nie kulturell, sondern immer gesellschaftlich – da kommt mir das Kotzen. Kultur und Gesellschaft interagieren jedoch, daher möchte ich anhand meines live-musikalischen Roundups diesmal nur auf zwei Dinge hinweisen, die uns Konzertgänger betreffen und darüber hinaus eine allgemeingültige Aussage haben.
Bild oben: Sara von MESSA, aufgenommen am 16. November 2019 in der Posthalle Würzburg, bearbeitet 12/2019 (Klick zum Vergrößern)
1. Lasst. Das. Mit. Dem. Scheiß. Müll.
Müssen wir noch ernsthaft über den Klimawandel diskutieren? Denke nicht. Über die Konsequenzen? Klar. Mal abgesehen von den „großen Dingen“ (keine Kohle mehr z. B. bedeutet nicht mehr Atomkraft, btw.), die am Wichtigsten sind und gesamtgesellschaftliche Veränderungen benötigen: Kann mal bitte jeder im Alltag sein müllproduzierendes Handeln überprüfen? Brauchen wir wirklich täglich einen „Coffee to go“ aus beschissenen Pappbechern mit noch schlimmeren Plastikschnäblern drauf, die so aussehen wie meine Lieblingstasse, als ich drei Jahre alt war? Jedes Mal wenn ein neuer Laden aufmacht, der „Coffee to go“ propagiert denke ich, als umweltbewusster Gastronom sollte „Coffee to stay“ eher das Maß aller Dinge sein. Oder Ihr kauft Euch einmal ein gescheites Gerät zum Wiederverwenden. Die Menge an Plastikdreck nach einem kurzen Schlürf zum Wachwerden ist abartig. Das folgende Bild zeigt einen Mülleimer am Frankfurter Hauptbahnhof, da stehen noch mehr rum, die so aussehen. Ebenso in München, Gütersloh, Paris, Butzbach, Madrid, sonstwo.
Mülltrennung und Recyclen läuft sehr oft schief und ist am Beispiel des „grünen Punktes“ sowieso eher Problem als dessen Lösung – Müllvermeidung ist eher angesagt. Richtig zum Kotzen ist diesbezüglich jedoch das Verhalten der Gastronomie in den fettesten Hallen Frankfurts, der Fest- sowie der Jahrhunderthalle: Im Unterschied zum (zum Beispiel) Schlachthof Wiesbaden werden da Weichplastikbecher mit Bier gefüllt, pfandfrei ausgegeben und am Ende der Show zu Tausenden weggekehrt. Um sie dann zu entsorgen. Bei den Hallen ist das richtig viel und das muss sich ändern, verdammt. Und ja, Eure Flugreisen solltet Ihr auch noch mal überdenken – und über „Metal-Kreuzfahrten“ sollte man diesbezüglich gar nicht mehr sprechen müssen: Sowas anzubieten sollte als kriminell gelten (interessanter Artikel dazu hier).
Klimawandel und so – da gab es mal den Spruch „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen“. Angeblich eine indianische Weisheit. Die Grünen trumpften damit auf bei ihrem Wahlkampf 1983. Weise Worte. Jeder, der Kinder hat, sollte sich in deren Interesse besonders dafür einsetzen, dass der Klimawandel verzögert bis gar nicht eintritt. Stattdessen wird eine junge Frau beschimpft, die sich das Überleben der Menschheit (von mir aus auch aus purem Eigennutz – völlig legitim) auf die Agenda geschrieben hat und den Herrschenden der Welt verbal in den Arsch tritt, weil diese ihre selbst formulierten Ziele nicht einhalten. Überzogen mit Vergewaltigungs-Fantasien und Morddrohungen reist sie per Boot von Europa in die Staaten oder durch Europa mit der Bahn, um sich kleinste Inkonsequenzen vorwerfen lassen zu müssen von Gestalten, die noch nicht mal ihren Müll trennen, zum Wochenende nach Ägypten zum Schnorcheln fliegen oder mit der fetten Karre ihre Kinder ums Eck zur Schule bringen. Geht’s noch?
Könnte jetzt noch weiter lästern über die Blödheiten der Konsumenten (und damit meine ich nicht arme Menschen, die auf Discounter-Angebote angewiesen sind sondern den Teil der Menschheit, der sich den täglichen Coffee To Go leisten kann) zum Thema „Deutschland 2019 – Deine Prioritäten und was dabei alles schief läuft“ – aber ich würde mich wiederholen, denn nichts ist besser geworden in den letzten Jahren (außer der Kunst). Beschränke mich aber auf folgende, dem Sujet hier angemessene Forderung:
2. Hört. Auf. Nazi-. Dreck. Zu. Unterstützen.
Leichter gesagt als getan, möchte man z. B. als Black Metal-Fan da meinen. Themen u. a. beim von mir extrem geliebten Black Metal können durchaus nationalistische Tendenzen sein, misogyne wie „fremdenfeindliche“. Das kann, muss sich aber nicht ausdrücken über eindeutig in solch Richtung weisende Texte – das geht auch gut „unpolitisch“ bei Bands, denen es komplett egal ist ob ihre Konzerte im Club um die Ecke stattfinden oder beim konspirativen Treff im Wald.
Foto links und folgende: BEHEMOTH in der Batschkapp, Frankfurt, 10. Januar
Habe mich diesbezüglich mit einem konkreten Beispiel hier in diesem Jahr schon auseinandergesetzt – das Jahr wurde diesbezüglich jedoch dominiert von den Diskussionen über die polnische Band MGŁA. Zweifelsohne musikalisch ein Knaller und deswegen auch auf allen möglichen Jahresbestenlisten bei den Metal-Schreibern. Eine kurze Zusammenfassung der Vorwürfe gegen die Combo findet man hier.
MGŁA sind so geil, dass Musikjournalisten, welche sich als Linke definieren, schnappatmend gegen jeden Kritiker beißen, der es wagt die geschäftlichen Beziehungen mit Fascho-Labels und -Musikern zu thematisieren, mit denen die Band vernetzt ist. Passt ja sonst nicht ins Weltbild. Haben antifaschistische Rap-Fans eigentlich das gleiche Problem mit dem flowtechnisch versierten Alphamännchen Kollegah? Der teilt verdienterweise das Schicksal, nicht mehr überall auftreten zu dürfen durch seinen offenen Antisemitismus; zockt darüber hinaus jedoch auch noch im großen Stil seine Fans ab (mehr dazu hier). Doch zurück zu MGŁA: Die werden aufgrund ihrer musikalischen Klasse auch supportet von Metal-Großverdienern wie Nergal von BEHEMOTH, die demnächst in der Festhalle für SLIPKNOT eröffnen dürfen. Ich weiß, ich bin Undergound-Metal-Mainstream wenn ich BEHEMOTH feiere – aber ich tu’s (bzw. tat’s). Ebenso Nergals Zweitprojekt ME AND THAT MAN, das neuerdings mit dem Sänger von HEXVESSEL sowie GRAVE PLEASURES auftrumpft, mit Mat „Kvohst“ McNerney. Nergal, bekannt neben seiner Sangeskunst als Co-Host von „The Voice Of Poland“ sowie als Barber-Shop-Inhaber, supportete MGŁA von Anfang an und nahm sie 2016 als Opener auf Tour mit, was eine Konzertabsage im Schlachthof Wiesbaden zur Folge hatte.
Die Resonanz der Fans in den pseudosozialen Medien darauf war so widerwärtig, dass die Absage sich als absolut korrekt offenbarte. Nergal sowie MGŁA performten daraufhin in Köln (Näheres dazu hier). Dass Nergal sogenannte Grauzonen-Bands supportet war eigentlich schon damals deutlich – aber was weiß man als Außenstehender von persönlichen Verflechtungen zu Leuten, mit denen man vielleicht einen Teil der Biographie teilt und welche sich später in ungute Richtungen entwickeln. Spätestens seit Nergal jedoch per Shirt die Antifa nicht nur disst, sondern zum Mord an deren Sympathisanten aufruft, sollte Schicht im Schacht sein (mehr hier). Denn nicht die Antifa ist es, die Menschen ermordet, tyrannisiert und bedroht auf der Welt; im Gegenteil: Antifaschismus ist Teil des Grundgesetzes, seine Ausübung gelebte Demokratie. Die Nazis, Identitäre, besorgte Bürger, Antisemiten, islamfeindliche, transphobe, queerfeindliche, misogyne, AFD- oder N-Wort-Supporter sowie völkische Gestalten, die immer mehr Spielraum bekommen in den von genau diesen Leuten gehassten öffentlich-rechtlichen Medien: Sie morden, verunglimpfen und bedrohen täglich. Da liegt unser kontinuierlich wachsendes Problem. Bin offen für Lösungsvorschläge.
BEHEMOTH starteten noch relativ unverfänglich mein Konzertjahr 2019 in der ausverkauften Batschkapp. Ein paar Kurzberichte nachschieben möchte ich an dieser Stelle noch zu einigen Highlights, die mangels Zeit und/oder Fotoqualität bisher unerwähnt geblieben sind, allerdings nicht über diesen Abend, dazu habe ich keine Lust mehr. Es bleibt genug Erlesenes übrig:
SOPHIE HUNGER im Schlachthof, Wiesbaden, 16. Februar
Die Schweizerin mit Wohnsitz Berlin gehört seit Jahren zu den Künstlerinnen, deren Platten ich schätze bis liebe und die mir live bisher immer durch die Lappen ging – ich war sogar mal auf einem Batschkapp-Konzert von ihr und musste wegen Übelkeit nach der (mutmaßlich das Gefühl auslösenden) Vorband den Saal verlassen. Ihr betourtes Album „Molecules“ war eines meiner Highlights 2018, die Live-Umsetzung wie erwartet erlesen, sympathisch wie mitreißend.
SUNN O))) im Mousonturm, Frankfurt, 28. Februar
Auch hier: Endlich mal live! Das Kollektiv mit der Kerntruppe um Greg Anderson und Stephen O’Malley veröffentlichte 2019 gleich zwei Alben und startete die Tour zum ersten in Frankfurt. Körperlich spürbare Drone-Sounds aus dem Nebel, gepaart mit spät sowie spärlich auftretenden Celloklängen von Hildur Guðnadóttir, sorgten für ein avantgardistisches Klangerlebnis der Extraklasse, das ich mir bestuhlt gewünscht hätte um schmerzfrei darin eintauchen zu können. Schmerzfrei passt aber so gar nicht zu SUNN O)))…
THE COMET IS COMING im Zoom, Frankfurt, 9. April
Ich hatte keinen Plan, was zu erwarten war an diesem Abend im Frankfurter Zoom – die frenetische Titelstory in der Jazzthetik erschien erst zwei Monate später. Als „Hardcore-Jazz“ wird da die Musik des Trios aus London bezeichnet, die Wut und die Körperlichkeit dieser Art von neuem Jazz beschrieben, der die alten Konzertbesucher aus den Veranstaltungsorten bläst sowie die Jungen auf die Tanzfläche zwingt. Wobei „Tanzen“ auch ekstatisches Auf-und Abspringen bedeuten kann. Nur Stillsitzen geht nicht bei dem, was Saxophonist Shabaka Hutchings, Keyboarder Dan Leavers und Drummer Max Hallett da fabrizieren. Die junge Jazzszene in GB fängt auch noch an anderen Stellen an zu boomen – TCIC gehören dabei auf den Schirm von jedem, der High Energy-Music mit sozialem Bewusstsein und heftigen Bewegungen schätzt. Punks, zum Beispiel. Hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.
JAYE JAYLE im Museum, Köln, 23. April
Fast schon wie ein Stalker verfolgte ich die diesjährigen Clubtouren des Ehepaares Emma Ruth Rundle und Evan Patterson soweit es ging – Patterson tourte um das Roadburn-Festival mit den YOUNG WIDOWS sowie mit seiner jetzigen Hauptband JAYE JAYLE. Neben dem hier besprochenen Berlin-Gig spielten JAYE JAYLE mit leicht veränderter Setlist auch noch in dem winzigen, urigen und liebenswerten „Museum“. Im Gegensatz zum Konzert in Berlin sorgte der Veranstalter George Noetzel für Unterstützung durch ein lokales Magazin inklusive Kartenverlosung – der Zuspruch war jedoch noch übler als der in der Hauptstadt. Patterson hatte Schwierigkeiten, sich unter der Empore bei seinem Spiel mal zwischendurch aufzurichten – unterm Strich schien den Beteiligten der Abend jedoch Spaß gemacht zu haben, wie mir einer der Multiinstrumentalisten, Keyboarder Corey Smith, beim After-Show-Bier versicherte. Klang aber ein bisschen nach Galgenhumor. Noetzel dagegen tat seine Verzweiflung kund und freute sich dafür auf die Konzerte von THE OBSESSED um Ex-SAINT VITUS-Shouter Wino. Dass dieser seine komplette Tour später wegen der obligatorischen „Zoll-Probleme“ absagen musste hatten böse Zungen zu diesem Zeitpunkt schon befürchtet…
ZODIAC im Nachtleben, Frankfurt, 26. April
Lange dauerte die Pause nicht, die sich die Formation um LONG DISTANCE CALLING-Schlagzeuger Janosch Rathmer auferlegte und ursprünglich eine Auflösung darstellen sollte – ein Wechsel des Bassisten schien auszureichen, um neu motiviert wieder die Clubs zu rocken mit ihrem bluesigen Sound, dem auch Neunziger-Einflüsse nicht fremd sind. Sprangen übrigens für THE OBSESSED beim Rock Hard Festival ein. Schön, dass ZODIAC wieder da sind, hab sie vermisst.
MUMFORD & SONS in der Festhalle, Frankfurt, 13. Mai
Mal wieder ein Stadionkonzert, welches durch die Bühne in der Mitte intimer anmutete, als es letztlich war. MUMFORD & SONS wollte ich sehen seit ihrem Debüt 2009 – eine Folk-Rock-Offenbarung mit Geigen und Harmoniegesang zum abwechselnden Niederknien wie ekstatischem Veitstanz. Das Quartett entwickelte sich allerdings weiter – prinzipiell ja sehr begrüßenswert. Im Fall der Engländer aber in Richtung „belangloser Pop-Rock“, der die Kritiker verzweifeln lässt und die Hallen mit Ed Sheeran-Fans füllt. Sei’s drum. Die Vorband GANG OF YOUTHS wusste schon zu beeindrucken, MUMFORD & SONS überzeugten auch mit ihren weniger ansprechenden Songs und rissen in kleiner Besetzung zum Ende hin sowieso alles ab. Die Aufstockung mit der GANG OF YOUTHS zur Big Band war ebenso große Klasse. Schöner Abend.
GOV’T MULE, KING CRIMSON sowie Thom Yorke wussten im weiteren Verlauf des Jahres zu gefallen, LAMB OF GOD eher weniger. Ein absolutes Highlight war dann jedoch
LA DISPUTE im Schlachthof, Wiesbaden, 8. Juli
„Panorama“ ist eines meiner Alben des Jahres, die Live-Umsetzung war nicht minder beeindruckend an diesem Abend, der mit feministischem Punkrock der PETROL GIRLS genial begann und jede Menge Informationsmaterial anbot zu den Themen Feminismus, Seenotrettung oder Antifaschismus. In der halbvollen großen Halle des Schlachthofs war das wohl weniger mitreißend als mit den PETROL GIRLS im Kesselhaus vor WAR ON WOMEN ein paar Wochen vorher – ein Pflichttermin eigentlich, wenn KING CRIMSON diesen Tag nicht blockiert hätten. „Touch Me Again And I’ll Fucking Kill You!“ von Frontfrau Ren fräste sich trotz allem wie ein Messer in die Gehörgänge – und so soll das wohl auch sein. Verstanden.
Nachdem MILK TEETH dem eher desinteressierten sowie diesbezüglich wenig überraschten Publikum noch versicherten, dass „Bullen Schweine“ sind, schafften LA DISPUTE später eine amtliche Konzertatmosphäre, bei der der Sprechgesang Jordan Dryers von den Anwesenden multipliziert wurde und endlich sowas wie Hardcore-Stimmung aufkam. 2020 dann in Karlsruhe, unbedingte Besuchsempfehlung.
METAL CHURCH & ARMORED SAINT im Colos-Saal, Aschaffenburg, 16. Juli
Gut, zu METAL CHURCH alleine wäre ich nicht nochmal hingefahren, obwohl mir deren Headliner-Gig an gleicher Stelle 2017 recht gut gefiel. In meiner Welt reicht das aber für eine Weile. ARMORED SAINT jedoch verpasste ich in der Vergangenheit mehr als ich sie erlebte, und wenn ich sie mal sah (Hafenbahn Offenbach, 2000) war ich betrunken. Nun war ich nüchtern und genoss eine Setlist mit Songs aus sieben Alben sowie 35 Jahren, bei der keine Spur von Abnutzungserscheinungen oder geringer Motivation sichtbar waren bei der Band, von der METALLICA in der Vergangenheit zwei Mitglieder abwerben wollten (was nicht gelang). Danke, war saugeil. Nur fair, anschließend bei METAL CHURCH für Ausgleich zu sorgen und sich mit Schlappeseppel zu betrinken.
GHOSTEMANE in der Batschkapp, Frankfurt, 21. August
Alles wie immer, solange man noch in der Schlange vor der Halle weilte. Schwarze Bandshirts oder Kajal deuteten auf ein Publikum zwischen Metal und Dark Wave hin – gegeben wurde jedoch HipHop. Beziehungsweise Trap. Eric Whitney ist Black Metal-Fan und Hardcore-Freak, die Bühnenbeleuchtung war voller Nebel sowie Gegenlicht wie bei den meisten Combos, die ich besuche. Nur noch krasser. Und gegen den Bass zum Entrümpeln des Magens konnten noch nicht mal SUNN O))) anstinken. Ich gehörte (mit zwei Anderen) zu den Ältesten im Saal – zieht man die ab, die an diesem Abend arbeiten mussten. Die, die mich vom Sehen kennen, rieben sich verwundert die Augen, fragten zum Teil auch „Was machst DU denn hier??“. Feiern.
THE CREEPSHOW im Nachtleben, Frankfurt, 30. September
THE CREEPSHOW gehen immer. Mehrmals bereits in diesem Blog besprochen sind die etwa alle zwei Jahre stattfindenden Gastspiele der Kanadier im Nachtleben ein Garant für feuchtfröhliche Parties unter der Woche, welche einem durchaus am nächsten Morgen leid tun können. Aber wenn Kenda und ihre Jungs sich hoch motiviert abrackern und man mit hocklassigem Rock’n’Roll irgendwo zwischen Billy, Punk und Schweinerock verwöhnt wird, dann muss man hin, meiner Meinung nach.
Das Vorprogramm bestritten die ebenso hochklassigen Punkrock-Ladies von den ANTI-QUEENS aus Toronto sowie eine Combo, die gefühlt im Nachtleben zu wohnen scheint, immer dieselben blöden Geschichten erzählt und gleichsam mit THE CREEPSHOW wie mit den Metallern von FATES WARNING auf Tour war: PSYCHO VILLAGE. Das mögen nette, sozial engagierte Jungs sein (Wikipedia lässt dieses Urteil zu), passten aber musikalisch mit ihrem 90er-Kommerzrock zero zu den anderen Formationen und ödeten übelst an. Egal. Im Januar touren THE CREEPSHOW im Vorprogramm von ANTI-FLAG – hoffentlich macht das ein paar Nasen mehr aufmerksam auf diese Band der rockenden Glückseligkeit. Hamse verdient.
MACHINE HEAD in der Posthalle, Würzburg, 11. Oktober
„MACHINE FUCKIN‘ HEAD“ gleich zweimal am gleichen Abend, bzw. in variierender Besetzung und mit unterschiedlichem Programm-Schwerpunkt: Erst kam die aktuelle (und erst sehr kurz vor der Tour bestätigte) Crew um Bandboss Robb Flynn auf die Bretter, um die Fans 90 Minuten lang mit den Highlights der letzten Jahre zu verwöhnen. Anschließend leitete „Davidian“ (ein Song, den Flynn eigentlich nach diversen Massakern in den Staaten nicht mehr spielen wollte) den Retroteil ein, in dem das Debüt „Burn My Eyes“ durchgespielt und für den Teile der Urbesetzung reaktiviert wurden. Eine dreistündige Tour de Force mit ordentlich Value For Money, erlesen dargeboten. Der zweite Teil der Tour führt im Mai 2020 u. a. nach Wiesbaden. Bin dabei.
EMMA RUTH RUNDLE in der Stadtmitte, Karlsruhe, 20. Oktober
Der Stalkerei zweiter Teil – diesmal war das Paar Rundle/Patterson wieder vereint unter ihrer Ägide. Das Konzert in Bochum war länger, das in Frankfurt teilweise emotional aufgeladener – Karlsruhe zum Abschluss der Tour (in einer schönen Location mit wunderbarem Außengelände) wirkte entspannter und lässiger. Trotz aller eingespielten Hingabe sowie „Danke schöns“ für das Publikum war dies jedoch zu faul zum Klatschen und brachte sich dabei um die Zugabe. Kretins. So gesehen ein schöner, aber auch blöder Abschluss der Konzertreise mit ihrer Band. Demnächst tourt ERR solo im Vorprogramm von CULT OF LUNA durch die USA.
OPETH im Schlachthof, Wiesbaden, 14. November
Die Schweden veröffentlichten 2019 mit „In Cauda Venenum“ ein Meisterwerk des sogenannten Prog-Rocks, das diese Bezeichnung wirklich verdient. Mit THE VINTAGE CARAVAN aus Island gab es erstmal eine großartige Retro-Rockband zu erleben, die gut ist, aber auf keinen Fall Prog. Gute Wahl. OPETH schließlich boten eine Lightshow, die ihrem Status als neue Prog-Götter mehr als angemessen zu sein schien und definierten ihre zufriedene Gegenwart durch das Spielen alter Klassiker, die dem Death Metal noch weit verwandter waren, Growls enthalten und seit langem nicht mehr live gegeben wurden. Fast oder ganz ausverkauft war der Abend. Ich wäre nicht überrascht, wenn der Schlachthof bei der nächsten Tour platzmäßig nicht mehr ausreichen würde.
MAYHEM im MS Connexion Complex, Mannheim, 21. November
Lag es am Film über MAYHEM („Lords Of Chaos“), dass das eine von zwei Mannheimer Metal-Mekkas so derbst vollgestopft war (wie wohl die ganze Tour übrigens)? Oder reicht die Ausnahme-Stellung der norwegischen Black Metal-Legende, die durch Selbstmord, Mord und Kirchenverbrennungen in die Schlagzeilen geriet in den Neunzigern, seitdem jedoch mehrere Besetzungs- sowie fast schon Stil-Wechsel durchmachte? Wahrscheinlich. Vor allem wenn mit Gaahl bzw. GAAHLS WYRD ein special guest aufgefahren wird, der durch seine Vergangenheit u. a. bei GORGOROTH ebenfalls zur Speerspitze des norwegischen Black Metals gehört. Wobei Black Metal 2019 bei diesen Formationen massive Einflüsse von Außen zulässt – GAAHLS WYRD sind ebenso Post-Punk wie BM, MAYHEM durch Sänger und SUNN O)))-Kollaborateur Attila Csihar schon Avantgarde und manchmal sogar Oper. Mit GOST als Opener gab es darüber hinaus Synth-Wave mit BM-Attitüde, der auch gut ins Vorprogramm von GHOSTEMANE gepasst hätte. Knaller. Die Location ist jedoch bei so vielen Gästen eine Zumutung und die Toiletten unterbieten noch diese Bezeichnung.
CULT OF LUNA im Bürgerhaus Stollwerck, Köln, 25. November
Heureka. Ich habe das schmerzlich vermisste Frankfurter Vobi wieder gefunden. Es steht (leicht geschrumpft) in Köln und beherbergte an diesem Abend die schwedischen Ikonen des doomigen Post-Metals (oder Hipster-Metals, wie böse Zungen behaupten mögen) CULT OF LUNA. Nur echt mit zwei Schlagzeugen sowie drei Gitarren. Eine derbe Macht und Soundwalze, kongenial eingestimmt durch die softe, aber eindringliche A.A.Williams mit ihrer Band sowie den belgischen Überfliegern BRUTUS. Drei absolute Kracher an einem Abend ohne miese Toiletten und ideologischen Mief. Zu Williams noch: Sie trat ebenso bei den SISTERS OF MERCY im Vorprogramm auf und spielt Gitarre, Keys und singt. Etwas morbide und traurig; ihre Version von Dolly Parton’s „Jolene“ bringt die verzweifelte Essenz des Songs noch eher ans Licht als das Original. Gespielt hat sie das leider nicht, aber vielleicht sieht man sie ja demnächst als Headliner. Würde mich freuen.
UNHOLY PASSION FEST IV im Gebäude 9, Köln, 7. Dezember
Dass die Kölner Post-Black Metaller ULTHA ihr viertes Festival mit der Ankündigung bewarben, dass sie sich danach auflösen werden, sorgte für mittelmäßige Bestürzung allerorten und natürlich für ein ausverkauftes, frisch renoviertes Haus. Das Festival wurde neben ULTHA bestritten von befreundeten Bands, bei denen auch gerne genrefremde Ausreißer dabei sein durften: Nach den FVNERALS 2018 oder ESBEN AND THE WITCH vorher war das 2019 GOLD aus Rotterdam – eine avantgardistische Hardrock-Band mit personellen Überschneidungen zu den verblichenen Okkult-Rock Meistern THE DEVIL’S BLOOD (Gitarrist Thomas Sciarone).
Außerdem: ENDSTILLE aus Kiel, deutsche BM-Urgesteine (seit 2000 am Start) sowie zwei mir vorher unbekannte Formationen: NAXEN aus Münster sowie TURIA aus den Niederlanden. Erstere wurden mit einem Besuch von ULTHA’s Chris Noir während ihrer Performance geehrt. TURIA schafften es, den Preis für die düsterste Bühnenbeleuchtung dieses Jahr abzusahnen – ein paar Kerzen auf dem Boden, das wars. Ein Ritual also, kein Konzert. Ein heftiges, bei dem der Schlagzeuger den donnernden Soundboden bereitete für die Gitarre und das heftige Kreischen der Sängerin T. Dann übernahmen GOLD, musikalische Ausreißer für manche – vor allem für die blöden ENDSTILLE-Fans, die direkt vor der Sängerin Milena Eva ihr Unverständnis zur Programmwahl zum Ausdruck bringen mussten. Respektlos nicht nur GOLD gegenüber, sondern auch ULTHA, die GOLD nicht ohne Grund eingeladen hatten. Im Januar im Colos-Saal.
ENDSTILLE waren mit ihrem Old-School BM und ihrer punkigen Attitüde die wahren Ausreißer des Festivals. Was man daran merkte, dass sich das Publikum vor deren Auftritt fast komplett auszutauschen begann. Nichtsdestoweniger ein überragender Auftritt mit räudiger Scheiß-Auf-Alles-Attitüde, bei dem bei allem Klamauk jedoch auch klar gemacht wurde, was von Nazis in der BM-Szene zu halten ist. Gar nichts.
Ins selbe Horn blies bei seiner Ansprache vor ihrem finalen (?) Gig ULTHA-Mastermind R(alph Schmidt) – die zunehmende Akzeptanz von braunen Umtrieben in der Szene scheint ihm sowie seinen Kollegen massiv zuzusetzen; die in der Vergangenheit geäußerten Vorwürfe, solche Bands „reinzuwaschen“, weil man mal mit ihnen eine Bühne geteilt hat, erst recht. Persönliche Probleme scheinen außerdem eine Rolle zu spielen bei den Plänen, die Band erstmal auf Eis zu legen. Mit gelegentlichen Ausnahmen, wie einen Tag später durch die Verpflichtung
Bühnendeko bei TURIA
beim nächsten Roadburn Festival offenbar wurde. Inzwischen haben ULTHA auf ihrer Facebook-Seite gepostet, im Schnitt eine besondere Show pro Quartal noch spielen zu wollen – da stehen die Chancen auf ein weiteres Unholy Passion-Fest ja gar nicht so schlecht. Mit ehemaligen Mitmusikern sowie Gästen von MORAST beim Intonieren des BATHORY-Covers „Raise the Dead“ feierte die BM-Institution, für die THE CURE oder NEUROSIS in ihrer musikalischen DNA ebenso wichtig ist wie EMPEROR oder MAYHEM, ein rauschendes Fest bis weit nach Mitternacht. Eine der Top-Shows 2019.
MONO im Gebäude 9, Köln, 9. Dezember
Ebenso. MONO hauten auf ihrer 20 Jahre-Jubiläumstour noch mal so richtig aufs Brett, mehr noch als ein paar Monate zuvor auf dem Dudefest in Karlsruhe (Bericht hier). Wieder mit Jo Quail als famosem, sympathischem sowie unfassbar beeindruckendem Opener am Cello – dieses Mal kurz vor der Zugabe MONOs auch wieder zusammen mit den Japanern am Start. Dicht gedrängt standen die Fans so nah wie möglich an der Bühne um genau zu begutachten, was die meist kauernden Gitarren-Virtuosen Takaakira Goto und Yoda da so anstellten mit ihrem Instrument oder den Pedalen am Boden – wer nichts davon sah (ab Reihe zwei) begnügte sich mit heftigem Ausdruckstanz.
Meine Top-Shows 2019 insgesamt waren neben dem oben erwähnten Unholy Passion Fest, den Auftritten von JAYE JAYLE und Emma Ruth Rundle sowie denen von THE COMET IS COMING und Sophie Hunger noch folgende, über die ich in diesem Blog bereits detailliert berichtet habe:
CRIPPLED BLACK PHOENIX im Colos-Saal, Aschaffenburg, 1. April
Das Kollektiv um Justin Greaves spielte sich einmal mehr in einen Rausch und entzückte auch mit zwei geschmackssicher gewählten und leidenschaftlich vorgetragenen Coverversionen. Einige Bekannte von mir hatten die Erlaubnis, das Konzert mitzuschneiden als „offiziellen Bootleg“ und ich will das endlich haben, verdammt.
MESSA beim Dudefest, Karlsruhe, 3. Mai und beim Hammer Of Doom, Würzburg, 16. November
Das scharlachrote Quartett aus Padua in Italien kombiniert Doom Metal mit Drones sowie moderner Elektronik und schafft eine Atmosphäre zum Niederknien, eine „Messe“ eben. Supporteten Emma Ruth Rundle in Italien und ja, ich bin neidisch auf alle, die da waren.
BRUTUS im Nachtleben, Frankfurt, 22. Mai
Hochenergetischer, moderner Hardcore aus Belgien von einem Power-Trio mit Sängerin am Schlagzeug. Muss man sich live geben, wenn man die Möglichkeit hat. Ist auf Platte aber ebenso eine Wucht.
TRIBULATION im MS Connexion Complex, Mannheim, 21. Juli
TRIBULATION sind nicht nur eine schwedische Gothic/Death Metal-Band mit absolut originärem Sound – sie sind ein Gesamtkunstwerk mit großartigem musikalischem Output und hinreißender Optik. Das Gegenteil vom sonst so häufig anzutreffendem Testosteron-Overkill im Metal.
Norsk-Festival im Mousonturm, Frankfurt, 15-19. Oktober
MOTORPSYCHO, Jenny Hval, Arve Henriksen, Sandra Kolstad u. a.: Anlässlich des Themenschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse (Norwegen) wurde interdisziplinär begleitet in diversen Räumen des Mousonturmes sowie ordentlich gefeiert. Hatte was von einer Wundertüte und offenbarte sich als eine der kulturell wertvollsten Wochen des Jahres.
Bei meinen insgesamt 66 besuchten Konzerttagen in diesem Jahr waren noch viele wunderbare Abende mehr dabei – der, der mich jedoch am nachhaltigsten beeindruckte fand schon im Februar statt:
LOW im Sankt Peter, Frankfurt, 7. Februar
Hochgradig beeindruckender Gitarren-“Krach“ und zum Dahinschmelzen schöne Vocal-Harmonies – das sind LOW aus Minnesota, für die der Begriff „Slow-Core“ einst geschaffen wurde (den sie aber nicht mögen). Perfektioniert wurde der Abend von der ebenso beeindruckenden Hillary Woods im Vorprogramm (spielt auf dem nächsten Roadburn) und der mehr als stimmigen Lightshow in der Jugend-Kultur-Kirche.
Da mein Rückblick ziemlich lang geworden ist möchte ich auf das obligatorische Erwähnen wie Bewerten der hiesigen Clubs dieses Mal verzichten – viel verändert zum Vorjahr hat sich ohnehin nicht für mich. Ich persönlich freue mich über den Umstand, dass ich 2019 auch ein paar schicke Läden außerhalb des Rhein/Main-Gebietes kennenlernen durfte (vielen Dank in diesem Zusammenhang an Ralf Wagner, ohne den das in dieser Form nicht geklappt hätte) und hoffe, dass 2020 musikalisch ebenso spannend weitergeht. Sollte es eigentlich – schaffen beschissene Zeiten nicht immer die aufregendste Kultur? Eben. Frohes Neues.
Micha / Rockstage-Riot-Team
Alle Fotos & Clips: Micha
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