Jahres-Roundup 2020 – Teil #2

Frankfurt, 24.11.2020

Thundermother ArtJedes Jahr attestiere ich dem zurückliegenden in diesem Blog, dass es politisch/gesellschaftlich/ökologisch eine ziemliche Murksveranstaltung darstellte und deswegen ruhig weg kann. Nur kulturell nicht. Aber sonst schon. Was zum Henker soll ich diesbezüglich über 2020 schreiben? Ihr kennt es, wart alle dabei. Murks-Overkill. Mutter wie Vater aller Drecksjahre nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem, unseren Kulturkreis. Nochmal im Detail drauf eingehen? Lieber nicht. Was dieses Jahr mit unserer Lieblingsbeschäftigung machte hat Kollege Stefan in Teil 1 unserer Rückblicks-Reihe bereits zutreffend aufgebröselt, das spare ich mir daher an dieser Stelle gerne. Dass Corona, bzw. der Umgang damit im Leben noch mehr zerstört hat wird anderswo bis zum Erbrechen ausgewalzt werden.

Bild oben: Guernica Mancini von THUNDERMOTHER, aufgenommen am 8.09.2020 im Batschkapp-Sommergarten, bearbeitet 11/2020 (Klick zum Vergrößern)

Was noch fehlt hat nur am Rande mit der Pandemie zu tun, offenbart sich jedoch fast täglich auf grausamere Art und Weise: Rücksichtslosigkeit, Egoismus sowie wachsender Faschismus sind allgegenwärtig, Gegenhalten wird immer schwerer: Jeder, der trotz sozialer Isolation nebst Abstand mit Menschen zu tun hat – sei es, weil man arbeitstechnisch eben unter welche muss, sei es mit Familienmitgliedern oder Freunden über Skype, in Zoom-Konferenzen oder eingehakt und rumgrölend vor dem Berliner Reichstag – ist gezwungen, sich zu positionieren. Nimmst Du die Situation ernst? Vertraust Du der Wissenschaft sowie den Medien und falls ja, dann welchen? Interessiert es Dich, dass Du Menschen gefährden könntest?

Fragen wie diese sind es, die den Bekanntenkreis schnell schrumpfen lassen können und auch unter Musikern Thema sind, wie u. a. „querdenkende“ Statements von Van Morrison oder Noel Gallagher beweisen. In der Masken- wie Corona-konformes Konzert im Batschkapp-SommergartenAbstandsfrage zum Beispiel gibt es keine Kompromisse – entweder man erachtet diese als sinnvoll oder eben nicht. Wenn jeder Viererplatz in der Bahn von nur einem Maskenträger besetzt ist und allein ein Verweigerer blökend und dabei Aerosole auskotzend von Abteil zu Abteil zieht, ist der Käse auch für die Maskenträger gegessen. Da könnte man selber ebenfalls den Abstand verringern und gleich zuschlagen – oder eben nicht mehr Bahnfahren.

oben: Corona-konformes Konzert im Batschkapp-Sommergarten, September 2020 / unten: Demonstration und Gedenken nach dem Anschlag von Hanau, Februar 2020

Der Faschismus zeigt sich jedoch nicht nur mit ausgestreckten Armen oder Hitler-Masken auf Schwurbel-Demos. Er zeigt sich auch in der ständigen Relativierung der Shoah durch das Gleichsetzen von Maßnahmen zum Infektionsschutz mit der Vernichtung von Juden im Dritten Reich. Er zeigt sich durch queerfeindliche oder homophobe Angriffe in den Innenstädten (mehr Demonstration Hanauhier). Er zeigt sich durch die Bedrohung, denen nach dem weitgehend unter dem Ausschluss der deutschen Öffentlichkeit stattgefunden Krieg im Südkaukasus (hier) Armenier durch die Grauen Wölfe in Deutschland ausgesetzt sind. Er zeigt sich durch den ständigen Alltagsrassismus der staatlichen Exekutive mit der schützenden Hand des deutschen Innen- und „Heimatministers“, etc. Und dadurch, dass, egal welche Höhepunkte rechter Gewalt auf unseren Straßen wieder zu erleben waren, keine fünf Minuten später „die bürgerliche Mitte“ via Social Media oder Springer-Presse das berühmte Hufeisen auspackt: „Aber Die Linken!“ (hier).

Dass am 19. Februar in Hanau ein ehemaliger Sportschütze und damit „legal(er) Eigentümer von drei Pistolen“ (Wikipedia) ein rassistisches Blutbad anrichten konnte und diese Tat in einer ersten medialen Einschätzung weniger auf einer Gedenken an den Anschlag von Hanaurechten Ideologie, sondern auf sogenannten Verschwörungs-Mythen basierend sei, stellt in mehrfacher Hinsicht einen traurigen Höhepunkt dar und zeigt einmal mehr die vorherrschende Blindheit auf dem rechten Auge. Dass Verschwörungs-Mythen und Rechts wunderbar zusammengehen kann man fast jeden Samstag in den Großstädten der Republik bei Demonstrationen gegen die Corona-Gedenken an den Anschlag von HanauMaßnahmen der Regierung beobachten; farbig gewandete Esoteriker in deren Mitte stellen keine „bunte Mischung“ an Menschen dar sondern stehen in der Tradition ökofaschistischer Naturbewahrer, die individuelles Leben im Vergleich zur „ganzheitlichen“ Umwelt als nicht schützenswert erachten (ein Beispiel hier). Gedenkveranstaltungen zu Hanau wurden nebenbei seit Pandemiebeginn aus Infektionsschutzgründen untersagt und fanden nur dezentralisiert in kleinem Rahmen statt. Kritiker solcher Maßnahmen durften dagegen masken- wie abstandsfrei ihre angeblich nicht vorhandenen Grundrechte ausleben, immer wieder. 2020 hat also alle beschissenen Entwicklungen der letzten Jahre fulminant getoppt, Gratulation.

Konzerttechnisch hörte das Jahr für mich im März auf. Kurz vor geplanten Reisen zu Chelsea Wolfe mit Jonathan Hultén nach Bochum, gefolgt von Anathema TicketANATHEMA in Stuttgart. Wolfe hatte Glück, überhaupt noch aus Berlin zurück in die Staaten zu kommen – der Gig der Briten wurde, wie viele andere, erstmal optimistisch verschoben. Dann nochmal. Schließlich platzte nicht nur die Tournee, sondern ANATHEMA verkündeten eine Auszeit für einen nicht absehbaren Zeitraum. Verständlich.

Viele Musizierende sendeten Lebenszeichen aus der Isolation, einige interessante Werke sind auf diese Weise entstanden, mit denen vorher nicht zu rechnen war und von denen wir vielleicht welche in den Platten-Highlights 2020 vorstellen werden. Eine gewisse Ahnung ob der Endlichkeit der Live-Exzesse lag Evil Invaders im Schlachthofin der Luft, als ich der Einladung eines Kumpels folgte und mit ihm am 11. März die EVIL INVADERS in Wiesbaden aufsuchte – der Konzertbesuch wäre sonst gar nicht erfolgt. Ein schweres Versäumnis wäre das gewesen, nicht nur, weil mit Schlachthof-Gigs danach erstmal Sense war, sondern weil der Energiegehalt dieser Veranstaltung unter heutigen Maßstäben nur als surreal zu bezeichnen gewesen wäre. Springende, rempelnde wie Bierfontänen versprühende Headbanger schrieen voller Begeisterung alles zusammen und stachelten die insgesamt drei Bands zu Höchstleistungen an – Metal, wie er sein muss und ein deutliches Indiz für die Theorie, dass bei allem guten Willen nicht jede Musikart für Distanz-Konzerte taugt.

oben: Evil Invaders im Schlachthof, März 2020 / unten: Thundermother im Batschkapp-Sommergarten, September 2020

13 Veranstaltungen suchte ich bis zu diesem Event auf, über die meisten kann man in diesem Blog etwas lesen. Ein Abstandskonzert mit THUNDERMOTHER im Sommer bei Traumwetter unter Vermeidung des öffentlichen Nahverkehrs Thundermother im Batschkapp-Sommergartenfolgte noch. Die vier Schwedinnen entpuppten sich als fleißige Bespaßerinnen der eventlosen Deutschen und spielten gefühlt an jeder Steckdose, wenn es irgendwie erlaubt war, manchmal sogar coronakonforme Doppelkonzerte an einem Abend. Danke dafür. Nicht in diesem Blog erwähnt wurden lediglich die Festhallen-Sause mit SLIPKNOT neben BEHEMOTH am 29. Januar sowie der Auftritt von ALGIERS am 17. Februar im Frankfurter  Zoom, was ich hiermit kurz nachholen möchte.

Behemoth in der FesthalleJeder Metal-Fan von 30 bis 40 Jahren scheint SLIPKNOT zu lieben, einige alte Säcke tun das ebenfalls. Ich nicht. Die hingebungsvolle Begeisterung steckte jedoch ein wenig an, außerdem war ich ja mal Fan der Vorband BEHEMOTH. Dass sich das geändert hat, liegt nicht an deren Musik (siehe meinen letzten Jahresrückblick). 20 Gehminuten von meinem Bett entfernt trafen diese Formationen aufeinander – wäre blöd gewesen, das zu verpassen. Mit ein bis drei Bier in der Hand der Slipknot in der Festhalle„Jugend“ beim Ausrasten zusehen, das hat ja schon was; eine Urgewalt ist der maskierte Haufen aus Iowa live darüber hinaus durchaus schon.

oben: Behemoth, rechts und unten: Slipknot, beide in der Festhalle, Januar 2020

Die polnischen Glamour-Satanisten im Vorprogramm wirkten mit ihrem Mummenschanz in einer Halle dieser Größe im besten Fall bemüht und in keinstem Fall bedrohlich, das war vergangenes Jahr in der Batschkapp noch anders. Dass Black Metal, selbst so kommerzieller wie der von BEHEMOTH, in einer gewissen Hallengröße jedoch nicht gegen die Prollgewalt von hardcore-igem New Metal anstinken kann, sollte klar sein. Stolz berichteten Slipknot in der Festhallemeine Bekannten von den eingesammelten blauen Flecken und Wunden aus dem Pit, ohne den eine SLIPKNOT-Show keine echte sein kann. Auch nix für Soziale Distanz, also bin ich für diese Erfahrung relativ dankbar. Die Vorstellung, die Festhalle oder ähnliche Riesenstätten in Zukunft zu besuchen (ganz egal bei wem), tendiert inzwischen stark in Richtung „utopisch“.

Als ALGIERS mal wieder das Zoom beehrten, wollte ich eigentlich zu Nathan Gray in die Batschkapp. Dessen Gig 2019 in Wiesbaden war wunderschön und schrie nach einer Zugabe – dasselbe Vorprogramm plus noch mehr (für mich!) Esya im ZoomUninteressantes war jedoch auch in der Kapp gebucht, während bei ALGIERS Esya eröffnete. Esya, eigentlich Ayşe Hassan, ist die Bassistin der Londoner Post-Punk-Sensation SAVAGES – und damit entschieden dann am Ende die Vorbands, welchen Gig ich besuchte. Ich hatte das Glück, dass mir jemand aus Krankheitsgründen sein Ticket verkaufte – ich hätte an dem ausverkauften Abend sonst frustriert vor der Tür gestanden oder wäre doch noch zur Batschkapp gedüst. Das zweite Glück bestand darin, mit diesem Auftritt einen erlebt zu haben, der auch bei weiteren 50 Konzerten in 2020 zum Gig des Jahres getaugt hätte. Esya mit ihrem stark elektronischen Set mit Gesang sowie gelegentlichem Bassspiel faszinierte schon extrem.

oben: Esya, unten: Algiers, beide im Zoom, Februar 2020

ALGIERS lieferten anschließend ein fulminantes, unbequemes Brett ab und offenbarten sich mal wieder als eine der interessantesten Formationen mit tagespolitischem Bezug in ihrer Musik. Rassistische Polizeigewalt in den USA wie im UK, aber eben auch im Rest der Welt sind dort Thema, was sich ebenso in Algiers im Zoomkakophonischen Sound-Eruptionen äußerte sowie in einem Brückenschlag zu John Coltranes „A Love Supreme“. Obwohl ich ALGIERS‘ Support für die BDS-Strömung mehr als kritisch sehe, bleibt sie in allen anderen Beziehungen eine wichtige Stimme und eine hervorragende Band, die zwischen Soul, Post-Punk sowie elektronischer Avantgarde changiert und ihr Publikum nicht nur zum Tanzen bringt, sondern u. U. auch hochgradig verstört. ALGIERS verticken ihre Gigs für schmales Geld bei Bandcamp, der Auftritt aus dem Zoom ist hier zu finden. Ein absolutes Highlight in diesem sonst so überwiegend beschissenen Jahr. Im Nächsten gibt’s dann wenigstens mal wieder Black Metal live, sitzend, maskiert und in Kleinstgruppen. Oder? Mal schauen. Bleibt gesund.

Micha / Rockstage-Riot-Team

Fotos: Micha

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