Frankfurt, 6.12.2021
Ich werde es diesmal nicht tun. Nein, nein. Jedes Jahr kotze ich mich zu Beginn des Rückblickes auf diesem Blog aus über Dinge, die meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft schief laufen. Jedes Jahr bin ich wütender und mehr angewidert, genug Gründe dafür gab es auch 2021 (vor allem an den Außengrenzen der EU). In erster Linie bin ich inzwischen jedoch müde bis frustriert. Das könnte unter anderem daran liegen, dass ich in diesem Jahr (zum Zeitpunkt dieses Schreibens) nur auf fünf Konzerten gewesen bin. Zum Vergleich: 2019 waren es insgesamt 67. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Im Vergleich zu den an Covid Erkrankten sowie den Menschen, die sich um diese Erkrankten kümmern müssen oder ihren Verlust betrauern ist das ein völlig unwichtiges, privilegiertes Luxusproblem – das weiß ich selber.
Bild oben: Fleshsphere, aufgenommen am 5.11.2021 in der Live Music Hall in Mörlenbach, bearbeitet 11/2021 (Klick zum Vergrößern)
Und doch will ich jammern: Der altersbedingte, körperliche Verfall meiner Wenigkeit ist schon seit Jahren nicht mehr aufzuhalten – Covid-19 hat mir eine Menge an Aktivität, Leidenschaft, Lebensfreude wie Kreativität gestohlen. Aktuell (wieder zum Zeitpunkt dieses Schreibens, vielleicht ändert sich bis zur Veröffentlichung ja etwas) könnte man zwar so einiges nachholen an Live-Gigs, aber: Trotz explodierender Inzidenzen sowie deutlicher Warnungen aus dem Gesundheitswesen gibt es kaum Einschränkungen – die tatsächlich verhängten wie „2G“, „2G+“, „3G“ etc. mögen Normalität vorgaukeln und der Veranstaltungsbranche, so sie denn ihre brotlose Zeit überhaupt überlebt hat, endlich mal wieder ein paar verdiente Einnahmen bescheren. Angesichts der Tatsache, dass überprüfte Impfnachweise im Alltag des Autoren jedoch kaum eine Rolle spielen, obwohl sein Broterwerb eine Menge zu tun hat mit der Betreuung schuldlos ungeimpfter Menschen und dem unvermeidbaren Kontakt mit Impf- Test- sowie Solidaritätsverweigerern, hinterlässt jede Meldung, dass ein Lieblingskünstler im Club nebenan spielt, einen Stich neben einer Abwägung. Könnte ja gut gehen, wenn korrekt kontrolliert wird, die Gäste nicht mit gefälschten Impfnachweisen bescheißen und die Menschen vielleicht etwas Abstand halten (oder sogar einen MNS tragen. Über der Nase!) Kann aber auch schief gehen. Und ich verteile (als Geimpfter, der wohl heil aus der Sache raus käme) dann die Seuche an mein (noch) nicht impfbares Klientel. Komme ich leider nicht klar mit.
Die eine Ausnahmen-Club-Show gönnte ich mir Anfang November in Mörlenbach mit THULCANDRA und den lokalen Supports ROOTS OF UNREST sowie FLESHSPHERE (Bericht hier). Sie sollte eigentlich der Startschuss sein für ein paar kulturelle Highlights, die auch Kilometer rechtfertigen: DER WEG EINER FREIHEIT in Würzburg, der Heimatstadt der Band, zum Beispiel. Als die Tickets verkauft wurden galt das noch als eine Corona-kompatible Show, mit Sitzplätzen, Maske und
links: Thulcandra in der Live Music Hall
unten: Roots of Unrest ebenda
Abstand. Im Gegensatz zum anvisierten Auftritt im Frankfurter Nachtleben, der ganz normal angekündigt wurde und dann zu einem „2G“-Gig mutierte. Ich dachte, diese Show in Würzburg wird ja wohl stattfinden im Gegensatz vielleicht zu der in Frankfurt. Tat sie nun auch. In einer Posthalle ohne Stühle, jedoch mit Maskenpflicht. Hatte ja Bock, aber aus den oben beschriebenen Gründen war ich raus. Ebenso bei ULTHA im Kölner Gebäude 9, die nur noch wenige Konzerte im Jahr spielen und nun mal unfassbar endgeil sind. ULTHA selber beschränken ihre Zuschauerzahl mit 2G+ auf 350, während in Köln allerdings die Fußballstadien, die Weihnachtsmärkte und die Karnevalsveranstaltungen voll sind. Außerdem, und das hätte sowieso Schwierigkeiten gegeben mit der Anwesenheit beim Frankfurter Gig von DER WEG EINER FREIHEIT, bei der zeitgleich im ausverkauften Club Zoom performenden Arlo Parks. Warum die 21-jährige Londonerin für mich in diesem Zusammenhang von Interesse ist, beschreibe ich bald bei den „Platten des Jahres“ in diesem Blog.
Aber es gab, wie gesagt, fünf Konzerte für mich in diesem Jahr – vier davon an der frischen Luft, eines im Club. Logischerweise sind alle davon in meinen Jahres-Top-Ten. Erwähnenswert hier, weil ohne Bericht im Blog, sind letztlich nur zwei.
links und unten: Islandman vor dem Kunstverein Familie Montez
Das erste davon hätte ich ohne meine Freundin, die sehr gute Musik hört, nicht auf dem Schirm gehabt – obwohl ich im Sommer diesen Veranstaltungsort regelmäßig touchiere. „Holidays Deluxe“ hieß die Open Air-Reihe vor dem Kunstverein Familie Montez bzw. von den Veranstaltern „Jazz Montez“. Laut deren Definition versteht sich „Jazz Montez (…) als ein flexibles, organisatorisches Dach, das verschiedenen Formen musikalischer Darstellung mit Bezügen zu Jazz ein zu Hause bietet“ (Homepage), akustisch kann man dies auch hier überprüfen.
Uns verschlug es bei Bombenwetter zu ISLANDMAN aus Istanbul, für die sowieso keine stilistischen Grenzen bestehen und die uns mit einem Cocktail aus Psychedelic, sogenannter Worldmusic sowie Elekronik zwischen Ambient, Chill-Out und Deep House faszinierten (zu hören hier). Die „Bühne“ war ebenerdig in der Mitte des Montez-Geländes – bei ISLANDMAN konnte man die mit Kissen verzierte Treppe hoch zur Honsell-Brücke zum Zuschauen nutzen, wenn man sich nicht der extrem tanzbaren Soundkulisse ergab.
Zum folgenden, nächtlichen Gastspiel von NIKITCH & KUNA MAZE aus Frankreich bzw. Belgien brauchte man bloß auf die andere Seite der Bühne, um weiter zu feiern. Oder einen Tag später auf die andere Seite des Mains, wo ebendiese noch den Hafen 2 bespaßten. Beschränkungen wegen der Lautstärke scheint es nicht zu geben auf dem Montez-Areal zwischen Hafenpark und Industriegelände, welches wegen der stattfindenden Kunstausstellungen sowie überhaupt der gesamten Lebensfreude dort einer der schönsten Orte ist, wenn man den Sommer in Frankfurt verbringt.
oben: Nikitch & Kuna Maze vor dem Kunstverein Familie Montez
unten: Kadavar auf der Sommerwiese an der Jahrhunderthalle
„Habt Ihr Bock oder was?“ Die Ansage von Christoph „Lupus“ Lindemann, einer der drei Frontsäue der Berliner KADAVAR, war in der Tat eine. Wenn Konzert, dann im Sitzen galt erst als Devise, wegen des Abstands – auch, wie in diesem Fall, an der frischen Luft. Genauer: Auf der Sommerwiese an der Frankfurter Jahrhunderthalle, wo Markus Gardian ein sommerliches Programm voller Highlights verschiedenster Musikgattungen präsentierte. Für die Begriffsstutzigen erklärte Lupus später nochmal genauer, was er wollte: „Wir spielen normalerweise nicht vor sitzendem Publikum,“ gab er sinngemäß zu Protokoll, „wir spielen uns in der Regel den Arsch ab. Da muss aber auch was vom Publikum kommen.“ Als Geh- und Steh-Behinderter waren die Sitzplätze vor den Bühnen während der Pandemie noch das Beste an der ganzen Misere meiner Meinung nach, aber ich verstehe natürlich, was er meint. Der Rest der Anwesenden ebenso, ab nun wurde fast überall gestanden. Eskaliert ist trotzdem nur das Trio unterm Scheinwerfer, wie sie es immer tun – was den Gig aus KADAVARs Sicht eventuell zu einem weniger gelungenen macht. In meiner Welt war dem jedoch nicht so, obwohl ich bloß mit dem Oberkörper eskalierte und sitzen blieb. Zeigten KADAVAR unlängst im Studio mit den „Isolation Tapes“, dass man sie schon lange nicht mehr straffrei als „Retro-Band“ titulieren sollte, hauten sie der Menge an diesem Sommerabend ein Old School-Set vor den Latz, dass es eine Art hatte. Ich hatte bei ihrem letzten Wiesbaden-Besuch (Bericht hier) schon mal erwähnt, dass KADAVAR eine der besten Live-Bands sind, für die man Tickets kaufen kann – nicht nur im Vergleich zu anderen heimischen Combos. Sondern weltweit. Das bewahrheitete sich einmal mehr. Und der vorgestellte neue Song lässt Großes für die Zukunft vermuten.
Zur Einstimmung gab es an diesem Abend WIGHT aus Darmstadt, die man keinesfalls verheimlichen darf. Mit vier Studioalben, diversen Sampler- wie Livebeiträgen sowie Split-LPs kann man das Quartett schon als Institution bezeichnen, vor allem wenn man mit einbezieht, in wieviel weiteren Formationen drei von vier der Musizierenden noch schwermetallisch zocken. Von doomigen Stoner-Rock hat sich die Combo im Lauf der Jahre vom Trio zum Quartett entwickelt und offenbart auf Platte zunehmend die Leidenschaft des Sängers, Gitarristen und Produzenten René Hofmann für Funk, Soul oder Progrock. Live performt die Band tighter und mit ansteckendem Bock – WIGHT-Bassist Peter-Philipp Schierhorn lebensbejahend von Kollege zu Kollege springen zu sehen war dabei eine interessante Abwechslung zu seiner Aggro-Performance beim Black Metal-Trio FALLEN TYRANT, die wir in besseren Zeiten mal vor TRIBULATION erleben durften (Bericht hier). Fronter Hofmann dominiert mit selbstbewusster Kompetenz an Stimme und Klampfe jedoch das ganze Set – hier könnte man
oben und rechts: Wight auf der Sommerwiese
leicht von einem „internationalem Standard“ faseln, wenn solch eine Bemerkung nicht ebenso etwas tendenziell Abwertendes hätte. Machte auf jeden Fall eine Menge Spaß wie Bock auf mehr Begegnungen mit der Gang aus der Nachbarschaft. KADAVAR allerdings untoppbar und damit mein Live-Event des Jahres. ULTHA hatte sich, nachdem Corona nun auch meinen Arbeitsplatz okkupiert hat, sowieso letztendlich erledigt.
Micha / Rockstage-Riot-Team
Fotos: Micha
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