Frankfurt, 25.12.2022
Wieder einmal geht ein Jahr dem Ende entgegen. Wie ist es zu bewerten, verglichen mit denen der jüngsten Vergangenheit? Ich denke, wir sind uns einig, dass 2022 in weltpolitischer Hinsicht einen Tiefpunkt innerhalb der letzten Dekaden darstellt: Ukraine-Krieg, Klimawandel, Preisexplosion, Rechtsruck in diversen Ländern, usw – Ihr wisst Bescheid, wir müssen dazu an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Des Weiteren erlebten wir das dritte Jahr der Corona-Pandemie, wobei allerdings schon deutlich mehr kulturelles Leben möglich war als noch 2021. Und damit komme ich bereits zu dem Punkt, den wir als die Kernkompetenz dieses Blogs erachten: die Berichterstattung über Live-Musik. Was war 2022 los auf den Bühnen des Rhein/Main-Gebiets in meinen bevorzugten Genres Punk, Hardcore, (Vintage-)Rock und Artverwandtem? Was machte Spaß und was enttäuschte?
Bild oben: Craig Whittle von KING HANNAH, aufgenommen am 3.04.2022 in der Frankfurter Brotfabrik, bearbeitet 12/2022 (Klick zum Vergrößern)
Ich beginne mit dem letzteren Punkt: Enttäuschend waren in erster Linie die Absagen von zahllosen Konzerten. Darunter waren mindestens ein halbes Dutzend, die ich gerne erlebt hätte: GBH, THE URBAN VOODOO MACHINE, das Feinstaub-Soli-Festival und die LORDS OF ALTAMONT (diese wegen Krankheit), um nur einige zu nennen. Die meisten Shows fanden aus zweierlei Gründen nicht statt: Zum einen dem mangelnden Absatz von Tickets im Vorverkauf und zum anderen den gestiegenen Kosten für Energie und Transport. Beide Faktoren machten Konzerte für die Veranstalter und Clubs zu einem unkalkulierbaren finanziellen Risiko. Nun, zumindest was den ersten Punkt betrifft, muss man sich an die eigene Nase fassen. Natürlich ist es lästig, ein erworbenes Ticket im Falle einer (eventuell auch krankheitsbedingten) Absage rückabwickeln zu müssen. Aber Planungssicherheit muss her, sonst werden weiterhin viele Konzerte nicht stattfinden. Etliche Shows, denen ich 2022 beiwohnte – bis zum heutigen Tag 64 Auftritte an 34 Abenden – waren eher schwach besucht. Eine Menge Musikfans scheinen aufgrund der Corona-Lage noch immer mit dem Ausgehen zu hadern, andere bekommen nach gut zwei Jahren auf dem gemütlichen Sofa schlicht den Hintern nicht mehr hoch. Schade – denn auch 2022 gab es einiges zu verpassen.
Im Folgenden gehe ich im Countdown-Verfahren auf die zehn Veranstaltungen ein, die mir im abgelaufenen Jahr am meisten Freude gemacht und die besten Eindrücke beschert haben. Im Anschluss gibts noch ein paar Bemerkungen zu meinen persönlichen Club- und Kneipenfavoriten.
10 – Joseph Boys, 22. Oktober im Dreikönigskeller, Frankfurt
Das Quintett aus Düsseldorf hat es wieder getan und ein weiteres Album veröffentlicht: „Reflektor“ heißt das neue Baby, das im August zur Welt kam. Gut zwei Monate später wurde es auch den Frankfurter Freunden des subtilen, in deutscher Sprache gesungenen Punks im Rahmen einer agilen Bühnenshow vorgestellt. Die Lieder sind erneut kritisch-aktuell („#Demokratie“, „Reisen Teilen Posten“, „Brazilian Butt“) und spätestens zum Knaller „Allegleich“ von der Vorgänger-LP war im Keller dann sowieso die Hölle los.
09 – Backstage-Abschlussparty, 15. Juni im New Backstage, Frankfurt
Mit einer Träne nicht nur im Knopfloch nahmen wir Mitte Juni Abschied von einer Frankfurter Kneipen-Institution. Das „New Backstage“ schloss seine Pforten für immer, aber nicht ohne eine viertägige Party für alle (Stamm-)Gäste zu veranstalten. An zwei Abenden traten Musiker auf, die das Lokal zum Teil über Jahr(zehnt)e begleitet haben und in zwei weiteren Nächten zeigten die DJs der beliebten Motto-Abende noch einmal ihr Können. Es war eine tolle Sause, stellvertretend für alle Auftritte hier je ein Foto des Akustik-Punk-Rockers Øke aus Kopenhagen sowie vom Duett von Jason Fretz mit Betreiberin Silke Bernhardt. Wer das Team des „New Backstage“ wiedersehen möchte, der pilgert jetzt zum Nachfolgelokal namens „New Rose“ im Stadtteil Dornbusch, das im Oktober eröffnete.
08 – Kaltfront, 25. September im Dreikönigskeller, Frankfurt
Ich räume es ein: Direkt am Tag nach dem Trashylvania-Wochenende (näheres dazu weiter unten) hätte ich auch gern mal die Beine hochgelegt. Aber um die Veranstalter an einem Sonntag zu unterstützen (und eine gewisse Neugierde war natürlich auch dabei) raffte ich mich dann doch auf. Es gab nichts zu bereuen: Der Post-Punk der KALTFRONT (gegründet 1986) aus Dresden übererfüllte als klasse Live-Act meine Erwartungen und begeisterte den gut gefüllten DKK. Eine Wiederholung im Jahr 2023 ist nicht ausgeschlossen, wie man hört.
07 – The Imperial Mustard, 7. April im Ponyhof, Frankfurt
In Frankfurt gibt es viele gute Bands. Eine der besten ist zweifelsohne THE IMPERIAL MUSTARD. Zumindest für all jene, die Psych-Kraut-Indie-Rock mögen, der – wie zum Beispiel Anfang April im Club Ponyhof – mit feiner Lightshow und reichlich Nebel präsentiert wird. Laute, sphärische Sounds und wunderbares Gitarrengegniedel – wer da nicht abhebt, ist selber schuld. Mitte September konnte ich das Quintett nochmals sehen, diesmal als Support für URLAUB IN POLEN im Nachtleben (was musikalisch gleichwertig war, in puncto Atmosphäre aber nicht mit dem Gig im Ponyhof mithalten konnte). Im Oktober hat die Formation ihren ersten physischen Tonträger, die CD „Room One“, fertiggestellt (bisher gab es den TIM-Sound nur via Bandcamp), zu erhalten bei den Gigs der Combo sowie über deren Homepage. Die offizielle Veröffentlichung ist für März 2023 geplant. Wer mehr über die Band erfahren möchte, der lese unser Interview hier.
06 – March, 16. Juni im Dreikönigskeller, Frankfurt
Wenn es im altehrwürdigen DKK zu Stage-Diving kommt, dann muss – im positiven Sinne – einiges vorgefallen sein. MARCH heißt die niederländisch-belgische Truppe, deren Sängerin sich von den alten (und vermutlich etlichen neuen) Fans der Band gern auf Händen tragen ließ. Ein fulminanter Auftritt des Hybrids aus Punkrock, Hard Rock und trashigem Rock’n’Roll, der kurz vor dem offiziellen Sommeranfang schon mal für vorgezogene Hitzewallungen sorgte. Einen Konzertbericht dazu gibt es hier.
05 – Primaboy, 3. Juni im Waggon, Offenbach
Die besten Jahre sind die, in denen man eine Band wie PRIMABOY gleich zweimal zu sehen bekommt. Sowohl Anfang Juni im Offenbacher Waggon als auch Mitte November im Frankfurter Dreikönigskeller (Foto) wurde das „Psycho-Bump“-Trio wieder seinem Ruf gerecht, fortgeschrittenen (und stets tanzbaren) Wahnsinn zu verbreiten. Frontmann Chris wandelt während der Shows eh stets auf dem schmalen Grat zum Aberwitz, seine beiden kongenialen Mitstreiter und die zahlreichen Jünger der Band sind nicht weit davon entfernt.
04 – Trashylvania 2022, 24. September auf Burg Frankenstein
Eine Kombination aus Gruseln und Musik? Das klingt schonmal gut. Zwei Engländer organisieren jedes Jahr eine Tour zu mehr oder weniger mystischen Orten in ganz Europa und lassen dort Bands aus dem Kosmos des trashigen Garage Rock Zombie Rock’n’Rolls auftreten. Diesmal fand das zweitägige Event fast vor unserer Haustür (Freitag in der Bessunger Knabenschule und Samstag auf der Burg Frankenstein in Mühltal nahe Darmstadt) statt und Dabeisein war keine Frage. Illustre musikalische Acts wie DEAD ELVIS & HIS ONE MAN GRAVE (oben) und das Ambiente des jahrhundertealten Gemäuers sorgten für eine launige Veranstaltung, die abseits gängiger Konzert-Konventionen viel Spaß machte. Einen vollständigen Erlebnisbericht findest Du hier.
03 – King Hannah, 3. April in der Brotfabrik, Frankfurt
Das Duo KING HANNAH aus Liverpool, bestehend aus Hannah Merrick (Foto) und Craig Whittle, gehört zu den Durchstartern des Jahres 2022. Es betourte im Frühling ihr kurz zuvor veröffentlichtes Debüt-Album „I’m Not Sorry, I Was Just Being Me“ (zuvor war nur eine EP erschienen). Anfang April betörte das Duo, live mit zwei Gastmusikern unterwegs, das Publikum in der Brotfabrik mit ihrem Indie-Rock der Extraklasse. Dazu gibt es eine Review meines Kollegen Micha hier. Nach der Show brachten Stagehands die zum Signieren erbetenen LPs in den Backstage-Bereich. Bis die Platten zurückkehrten, vergingen allerdings 15 bis 20 Minuten. Das einzige Manko an einem sonst perfekten Abend.
02 – Face Up!, 4. Juni beim Au-Sommerfest, Frankfurt
Das erste Sommerfest in der Au seit 2019 – und am Start gleich sechs Acts. Die beiden besten waren für mich die bekannte Wiesbadener Formation FRONT, über die wir in diesem Blog schon berichtet haben, sowie die Briten FACE UP!, die ich erstmals live sah. Ein Action-Paket sondergleichen, dass ich sowohl in puncto Sound als auch Bühnenshow sofort ins Herz schloss. Beim Sommerfest musste die Combo schon an Position drei spielen, für mich hatte sie absoluten Headliner-Status. Siehe unsere Review hier.
01 – Shawn James, 22. April im Nachtleben, Frankfurt
Shawn James – „Ausnahmetalent, Troubadour und Road Dog“ (Facebook) des Blues und Folk – lieferte Ende April mit einer hervorragenden Begleitband im vermutlich ausverkauften Nachtleben ein denkwürdiges Konzert ab. Die Stimme des Mannes aus Chicago ist eine Naturgewalt, seine Songs haben einen hohen Gänsehautfaktor. Nach dem Auftritt nahm sich der Multiinstrumentalist noch zwei Stunden (!) Zeit, um mit jedem (da wurde wirklich niemand übersehen) der sich geduldig vor dem Merchstand anstellenden Fans in aller Ruhe ein paar nette Worte zu wechseln, die fair gepreisten Tonträger zu signieren und Fotos zu machen. Respekt und Hut ab. Das macht nicht jeder Künstler nach einem langen, schweißtreibenden Auftritt. Und schon gar nicht während einer Corona-Pandemie. Für die Show und das herzliche (und darüber hinaus völlig kostenlose) Meet & Greet vergebe ich meine imaginäre Goldmedaille für das beste Event des Jahres.
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Das waren die zehn Konzertabende, die mir am Nachhaltigsten im Gedächtnis geblieben sind. Die mit Abstand meisten Shows sah ich auch 2022 wieder im Sachsenhausener Dreikönigskeller – 16 an der Zahl. Drei davon schafften es
Impression aus dem Dreikönigskeller
in die Jahres-Top-Ten. Der wunderbare kleine Club, an dem eigentlich nur das rote (zum Glück nicht immer eingeschaltete) Bühnenlicht nervt, weil dann ungeblitzte Fotos nichts werden, brachte wieder zahlreiche feine Bands unter Tage. Danke dafür. Überdurchschnittlich häufig war ich im Hafen 2 in Offenbach, mehrfach in der Frankfurter Art Bar (ja, manchmal darf es auch Jazz sein), erstmals seit 2004 wieder im Rüsselsheimer Club „Das Rind“ (bei NO MORE) sowie erstmals in der „HfG-Kapelle“, dem Veranstaltungsraum der Hochschule für Gestaltung in Offenbach (bei SUCK). Andere, von mir früher oft frequentierte Plätze wie das Kesselhaus des Wiesbadener
SUCK in der HfG-Kapelle, 14. Oktober
Schlachthofs (KING BUFFALO), „Das Bett“ (RUTS DC) und das Café ExZess (DER REST) konnten mich im fast abgelaufenen Jahr nur je einmal anlocken. Das waren allerdings alles klasse Shows. Gleiches gilt für das erste Konzert, das ich selbst mitveranstaltete: Der deutsch-finnische Singer/Songwriter MÄKKELÄ gastierte Ende Mai im DKK. Ein toller Auftritt (eine Review dazu gibt es hier), nur leider schlecht besucht – wie so viele Clubshows dieser Tage. Womit wir wieder bei der zu Beginn geschilderten Problematik wären…
Meine meisten Besuche, um lediglich dem Tranke anheimzufallen, verbuchte wahrscheinlich das Feinstaub. Konzerte dort sind leider selten geworden, aber faire Preise, ein tolles Thekenteam und gute Musik vom Band oder DJ ziehen mich auch weiterhin in die sympathische Nordend-Kneipe. Die genannten Vorzüge hat über die Jahre auch vermehrt junges Gemüse spitzgekriegt (die Location wird inzwischen vielleicht in irgendwelchen Studentenführern erwähnt), was natürlich gut für das Lokal ist, aber schlecht, wenn man nach halb Neun einen Sitzplatz bekommen möchte. Den man als Mittfünfziger ja eigentlich
oben und links: Halloween-Deko im Feinstaub
dringend braucht. Nun ja, der frühe Vogel fängt den Wurm. Zu Halloween gab es eine nette Deko und Gäste, die verkleidet einkamen, durften sich über Gratis-Schnäpse freuen. Ich wusste nichts von der Aktion, was wohl daran lag, dass ich nicht bei Facebook bin. Da ist man dann schnell mal abgehängt. Macht nichts, ein prima Abend wars allemal. Ein Schnäpschen werde ich in ein paar Tagen auch trinken, um das alte Jahr zu verabschieden und das neue willkommen zu heißen. Kommt auch Ihr gut ins neue Jahr, bleibt uns gewogen, passt auf Euch auf und was immer Ihr auch tut, denkt daran:
Stefan / Rockstage-Riot-Team
Fotos: Stefan (12), Micha (2), Marcus (1), Kai (1)
Foto (Kaltfront): Boris, http://www.borisschoeppner.de/
Foto (Suck): Tom Huber
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