Frankfurt, 29.12.2022
Der Knoten platzte im April. Wir erinnern uns: Im März 2020 erzwang diese verdammte Pandemie den live-technischen Stillstand. Über Monate hinweg besuchten wir für Rockstage Riot keine Konzerte mehr (bis auf einige wenige Abstands-Events in den Sommermonaten, 2021 etwas mehr als 2020). Stattdessen führten die Kollegen ein paar Interviews, wir erzählten in verschiedenen Formaten etwas über die Vergangenheit (Geschichten über Konzertkarten, Fotorückblicke, etc.) sowie über Schallplatten – wenigstens das war kein Blick zurück auf bessere Zeiten, sondern halbwegs aktuell (je nach Musikgeschmack). 25 Monate später schien alles wieder wie früher. Der Betrieb lief, wenn auch mit vorsichtigen Gästen, die teils maskiert Events besuchten sowie zum Teil der Lage noch nicht trauten und ihre Tickets verfallen ließen. Oder gezwungen waren, dies zu tun, weil auf einmal mehrere Veranstaltungen, für die in den Jahren zuvor ein Ticket besorgt wurde, am gleichen Tag stattfanden und die Frist zum Umtausch längst verstrichen war. Seit April 2022 sind wir jedoch wieder unterwegs, fotografieren und schreiben über das, was uns kulturell (mit) am Liebsten ist – mehr als 20 Konzertreviews sind bis zum jetzigen Zeitpunkt neu in diesem Blog entstanden. Also alles wieder gut? Jein.
Bild oben: Gene Simmons von Kiss, aufgenommen am 24.06.2022 in der Festhalle Frankfurt, bearbeitet 12/2022 (Klick zum Vergrößern)
(Die folgenden Fotos stammen alle vom KISS-Konzert in der Festhalle am 24. Juni 2022 – was es mit ihnen auf sich hat, wird später im Text erklärt.)
„…die komplette Szene steuert möglicherweise auf die nächste Katastrophe zu. Alle Indoor-Spielstätten, von den Liveclubs bis zu den Theatern, Hallen und Kleinkunstbühnen im ganzen Land berichten mehr oder weniger offen, dass es für ihre Hauptsaison ab Herbst kaum relevante Kartenvorverkäufe gibt.“ (Colos-Saal-Chef Claus Berninger am 24. August in seinem Newsletter). „Es ist offensichtlich, dass die aktuelle Post-Pandemie-Situation der Kreativwirtschaft Besorgnis erregend ist. Der Ticketverkauf für Projekte im Herbst/Winter 2022 und selbst für das Frühjahr 2023 ist desaströs und Quantensprünge von der Vorcorona-Situation entfernt“ (aus dem Newsletter von Art Nation Entertainment & Zoom Frankfurt zur Absage des chinesischen Nationalcircus ebendort, ebenso vom 24. August 2022).
Erstmals Klartext sprachen in diesem Zusammenhang MANTAR, die das Canceln der meisten ihrer Shows 2022 mit den Worten begleiteten: „Seit Jahren hoffen wir wie viele andere, dass sich die Lage beruhigt und wieder ‚Normalität‘ einkehrt. Leider sieht das jedoch nicht so aus. Gerade werden wieder massenhaft Konzerte abgesagt und wenn möglich wiedermal verschoben. Der Grund dafür ist einfach: Es werden viel zu wenige Tickets gekauft.“ So ergab sich die abstruse Lage, dass einige Konzerte, gerade die großen Events in Hallen mit einem Fassungsvermögen von mehreren Zehntausend, ebenso wie fette Festivals meist ausverkauft waren, während Tourneen durch Clubs und mittelgroße Hallen mangels Personal und logistischen Möglichkeiten undurchführbar, weil nicht finanzierbar wurden.
Gleichzeitig jedoch wandern Tickets ungenutzt in die Tonne – teilweise aus der oben beschriebenen Vorsicht (die wöchentlich weniger zu werden scheint), zum anderen aber auch, weil die großen Veranstalter wie Eventim oder Ticketmaster (also die, die die meisten ausverkauften Tourneen absolvieren), Stornieren wegen Doppelbelegungen z. B. enorm erschweren oder gar unmöglich machen. Seit 2020 bekam ich zig Emails mit folgendem Inhalt von Eventim: „Ihre Eintrittskarten sind auch für den neuen Termin gültig. Bewahren Sie Ihre Tickets einfach auf, Sie müssen nichts weiter tun. Falls Sie den neuen Termin nicht wahrnehmen können, erhalten Sie von uns in Kürze weitere Informationen.“ Falls dann überhaupt eine solche Information kam, so war diese zeitlich begrenzt, ebenso wie die Möglichkeit, die Tickets per Einschreiben zurückzusenden. Nach 14 Tagen hatte man halt Pech, selbst wenn es bis zur Veranstaltung noch Monate dauerte und man so früh vielleicht noch gar nicht abschätzen konnte, ob man letztlich Zeit hatte.
Wesentlich stressfreier agiert Reservix/ad ticket in so einer Lage. Zum Retournieren schickt man denen online ein Foto vom zerrissenen Ticket bzw. dem unkenntlich gemachten Barcode. Porto zahlen oder zur Post rennen entfällt.
Unseren Lieblingsclubs haben wir 2020 gern was gespendet und uns auch nicht verrückt gemacht, wenn Tickets für den Colos-Saal, den Schlachthof, „Das Bett“, das Zoom oder die Batschkapp verfallen sind. Geht es jedoch um Größenordnungen ab der Jahrhunderthalle Frankfurt, die weit weniger Einbußen hatten sowie zum Teil Preise aufrufen, die mit „unverschämt“ noch niedlich bezeichnet sind, hört es zumindest mit meiner Solidarität auf. Beispiel KISS in der Festhalle: Der Nachschlag zum Nachschlag der „Abschiedstour“, 2023 z. B. in Mannheim oder Köln, kostete 180 Euro im (inzwischen ausverkauften) sogenannten „Golden Circle“ vor der Bühne – der Bereich, der in Frankfurt so schlecht besucht war, dass Ordner kostenlose Updates im proppevollen Innenraum spendierten (wovon ich auch profitierte, siehe meinen Bericht hier).
Für Ozzy Osbourne, an dem der Zahn der Zeit schon vor der mehrmals verschobenen „Abschiedstour“ heftig nagte, gibt es aktuell noch für Mannheim „Ultimate Tickets“ zu erwerben, bei denen man zum Stehplatz ein Armband bekommt und kurz in Ozzys Garderobe darf. Kostenpunkt: ab 1.467 Euro. Hier muss man sich keine Sorgen machen, dass das Konzert abgesagt wird, wenn nicht die Musikanten selbst krank werden oder Schlimmeres. Das bleibt Musizierenden vorbehalten wie MANTAR, THE JEREMY DAYS, THY ART IS MURDER, NASTY, (DOLCH) u.v.m., um für 2022 ein paar Beispiele zu nennen. Nicht nur wegen mangelnden Ticketabsatzes nebenbei, sondern ebenso, weil sie selber, genau wie die Konzertbesucher*innen, ja auch noch ständig krank werden. Und ja, das macht ebenso psychisch etwas mit ihnen, wenn sie gezwungen sind ihren Lebensunterhalt durch Touren während einer Pandemie zu verdienen (Leseempfehlung dazu hier). Anders als im oben zitierten Zoom-Newsletter formuliert, sind wir von einer „Post-Pandemie-Situation“ noch weit entfernt.
Nicht nur wegen des Retour-Stresses überlegt man es sich also mehrmals, Tickets ewig vorher zu erstehen – für die meisten werden Konzertkarten, auch günstigere, zum Luxusgut, wenn man nicht mehr weiß ob man in den nächsten Monaten noch die Miete oder die Energiekosten bezahlen kann. Alles vorher Beschriebene sind Luxusprobleme aus privilegierter Sicht, aus der wir Rockstage-Autoren aus diversen Gründen nun mal immer schreiben. Wir fürchten den Verlust von Lebensqualität, andere müssen in erschreckendem globalen Ausmaß um ihr Leben fürchten. Ihr wisst selbst, wovon ich spreche.
Der Zahn der Zeit nagt jedoch nicht nur an Ozzy, sondern an uns allen. Die bisherigen Pandemie-Jahre kosteten mich physisch Einiges; darüber hinaus: kein Event ohne die darauf folgende rote Kachel in der Corona-App. Kleine Auswahl an Tickets, die ich wegen gesundheitlicher Unzulänglichkeiten habe verfallen lassen oder die ich kurzfristig abgab, falls ich Interessierte dafür fand: ZEAL & ARDOR, 070 SHAKE, BOY HARSHER (Zoom), MONO, Sevdaliza (Köln), CLEOPATRICK, ROME (Nachtleben), CAVE IN, FRANK TURNER, WHISPERING SONS, plus sechs weitere in Wiesbaden und acht darüber hinaus sonstwo. Das sind letztlich genauso viel wie die, die ich im Jahr 2022 einlöste. Die oben beschriebenen Schwierigkeiten gibt es also nicht nur auf Seiten der Künstler*innen und Veranstalter*innen, sondern ebenfalls bei den potentiellen Gästen. Aufrufe wie „Kauft mehr Tickets!“, bei Herzensveranstaltungen auch von mir getätigt, sind unterm Strich daher etwas vereinfachend.
Nach all dem Gejammer möchte ich mich, wie immer, hier aber noch ein wenig auslassen über die von mir besuchten Veranstaltungen, die ich fast ausnahmslos sehr genoss. Über die meisten habe ich bereits detailliert geschrieben, auch über KISS. Dass hier nochmal Bilder auftauchen, die bisher nicht im Blog zu sehen waren, hat folgenden Grund: Erstmals in meinem Berichterstatter-Leben durfte ich in der Festhalle fotografieren. Ein ehemaliger Print-Kollege, der inzwischen jede Menge für das Magazin Rocks schreibt, bat mich, für eine Kollegin einzuspringen. Was ich sehr gern tat, erstens wegen Festhalle, zweitens wegen KISS, für die ich mir bereits ein Ticket besorgt hatte. Zum Glück.
In kleineren Locations, in denen ich sonst fotografiere, ist es selbstverständlich, dass ich nach drei Stücken im Fotograben meine Ausrüstung verschließe, anschließend jedoch das Geschehen weiter verfolge. Das scheint bei dieser Größenordnung nicht Usus zu sein – was mich verwirrte, aber wegen meines gekauften Tickets nicht ins Gewicht fiel. Letztlich blieben eine Menge Bilder unveröffentlicht, weswegen hier noch ein paar nachgeliefert werden können. Das Konzert wie den Job habe ich genossen, ich verließ die Halle euphorisiert sowie armen Mitmenschen auf dem Weg zur Bahn das Ohr abkauend. KISS sind live großartig. Doch auch, wenn der endgültige Abschied von ihnen nicht durchgezogen wird: Von mir aus war’s das jetzt. Der Preise sowie des Aufwands wegen, weiter entfernte Spielstätten aufsuchen zu müssen.
Ohne bisherigen Bericht auskommen mussten folgende Veranstaltungen 2022: WIEGEDOOD am 2. Juni im Kesselhaus des Wiesbadener Schlachthofs, zum Beispiel. Knapp eine Stunde lang frontale Riffs und Krächzgewitter, das
Wiegedood im Schlachthof Wiesbaden
sich hauptsächlich aus Folterinstrumenten der Neuerscheinung „There’s Always Blood at the End of the Road“ speiste und nur zwei Stücke der Trilogie „De doden hebben het goed“ enthielt, welches 2019 an gleicher Stelle komplett aufgeführt wurde (Bericht dazu hier). Da war auch noch Zeit für eine Vorband diesmal, DEPRAVATION aus Gießen, die ebenso auf ganzer Linie überzeugten. Leider war das schon mein einziger Besuch im Schlachthof in diesem Jahr.
Neben all den Events, die ich ausfallen lassen musste, wurde mir diese Entscheidung in einem besonders tragischen Fall abgenommen: Dass CONVERGE zusammen mit der von mir inbrünstig verehrten Chelsea Wolfe neben Berlin ausschließlich Wiesbaden als Spielwiese für ihr gemeinsames Projekt „Bloodmoon“ auserkoren hatten, war für mich wie ein Sechser im Lotto. HEXVESSEL im Vorprogramm war die ebenfalls gewonnene
Converge Tourplakat 2022
Zusatzzahl. Doch dann fiel der Wiesbaden-Gig den vielbeschworenen „logistischen Problemen“ zum Opfer, eine Formulierung, wie sie bis zum oben erwähnten MANTAR-Statement für miesen Vorverkauf benutzt wurde. In Zukunft wundere ich mich nicht mehr darüber, wenn Formationen mit Roadburn-Potential Rhein/Main großzügig umfahren. Verdammter Mist.
Trösten musste ich mich im Juni mit zwei Großkonzerten in Frankfurt: WILCO waren am 16. Juni im Großen Saal der Alten Oper. Ich saß auf der Empore und hatte unfassbar viel Platz um mich herum – beim letzten Mal ebendort waren WILCO ausverkauft, diesmal war der Olymp (die Empore ganz oben) gar nicht freigegeben. Über die Klasse des Auftritts hat unser Kollege Gérard Otremba hier in seinem Blog detailliert geschrieben, für den er aus seiner Homebase Hamburg anreiste. Hat sich gelohnt, sagt er.
Genauso wichtig wie ihm WILCO und mir Chelsea Wolfe war mir übrigens der Auftritt von Billie Eilish in der Festhalle am 19. Juni, die mit Jessie Reyez auch noch ein mehr als passables Vorprogramm am Start hatte. Die 31-jährige
links und unten: Billie Eilish in der Festhalle
Kanadierin im „Kill Bill“- Shirt sprach über ihre Missbrauchserfahrungen am Anfang ihrer Karriere, spielte ihren für Dua Lipa geschriebenen Hit „One Kiss“ und ließ eine Konzertbesucherin ihre Aussagen auf Deutsch übersetzen, damit sie auch jede(r) versteht. „Wenn wir Veränderung wollen brauchen wir mehr Männer, die für Frauen sprechen“ gab sie kund. Die gegenwärtige Situation im Iran bestätigt, wie Recht sie hat.
Die zehn Jahre jüngere Billie Eilish betreibt ihr Empowerment subtiler – die ganze Historie ihres Erfolgsalbums „When we all fall asleep, where do we go?“ ist eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte, in der Billie sowie ihr Bruder und Produzent Finneas (der sie als Gitarrist und Duettpartner begleitete) gegen alle Konventionen in der Popmusik ein zutiefst eigenständiges Werk auf den Markt brachten, das vielen jungen Frauen sowie Anderen aus der Seele sprach. Das Erstaunliche ist, dass Eilish, selbst im Kontrast zu ihrem Vorprogramm, nicht so wirkt wie ein Popstar mit einer ausgeklügelten Show, was z. B. ihre Moves angeht. Klar waren Licht und Inszenierung atemberaubend, aber Eilish trumpft weder mit besonderer Stimmgewalt auf noch braucht sie eine Choreo mit gar zusätzlichen Hupfdohlen auf der Bühne. Im Gegenteil. Im Schlabberpulli und mit Micky Maus-Friese hüpfte sie wie ihre Fans, zum Teil fast ungelenk anmutend, und ließ keine Gelegenheit aus, vielen in der fast 14.000 Menschen fassenden Halle so nah wie möglich zu kommen. Dabei haucht und flüstert sie eher beim Singen und erzielt dabei trotzdem, bzw. gerade deswegen eine maximale Wirkung bei den Zuhörenden. Wenn jemand verdient hat, als Identifikationsangebot wahrgenommen zu werden, dann sie. Die Spielzeit von 100 Minuten ließ keine Wünsche offen – bloß, dass ihr James Bond-Song fehlte enttäuschte den hier schreibenden Boomer mit Schwäche für den spezifischen „Bond-Sound“ etwas.
Mein zweiter und bisher letzter Besuch in diesem Jahr in Wiesbaden führte mich einmal mehr zu Emma Ruth Rundle in das dortige Museum. 2018 spielte sie da schon mal, ebenfalls solo. Damals mit Gitarre, 2022 hauptsächlich
Emma Ruth Rundle (rechts) und Jo Quail (unten) im Museum Wiesbaden
Klavier. 2018 am Anfang einer Liebesbeziehung, 2022 nach dem Ende. Vier Jahre, die sie und ihre Kunst sehr verändert haben, wie ihr aktuelles sowie während des Konzerts komplett dargebrachtes Album „Engine Of Hell“ eindringlich zeigt. Rundle sagte zu Beginn ihrer Performance, dass sie sich „unwohl fühle“ wegen der Erinnerung an diesen Ort und ihrer damaligen Gesellschaft. Im Vorprogramm die britische Cellistin Jo Quail, ebenfalls solo aufspielend. Einen gemeinsamen Song gab es später von den beiden Ladies („Citadel“), die sich bei und nach der Tour gegenseitig mit Liebeserklärungen auf Social Media überschütteten. Ich hatte eine Fotoerlaubnis und wollte größer über diesen Abend berichten, doch der Auslöser meiner SLR-Kamera war so laut, dass mich Emma höflich, aber bestimmt darum bat, das Fotografieren vorerst zu lassen, da sich sich sonst nicht auf ihre zutiefst persönlichen Texte konzentrieren kann. Ich durfte am Ende allerdings nochmal mein Glück versuchen. Nach 65 Minuten dann Überwältigung und weinende Fans. Die wahre Magie dieser Musik offenbart sich beim Live-Genuss. Wie kraftvoll die Wirkung gerade der zunehmend leiser werdenden vokalen Performance Emmas dabei ist, kann man nur schwer ermessen, wenn man das Album zu Hause hört.
Der Sommer präsentierte uns Live-Events in stattlicher Anzahl an der frischen Luft,
Jazz Montez
einige wurden hier bereits mit einem Bericht vorgestellt. Wie im Jahr zuvor gab es auch wieder die fulminante Veranstaltungsreihe „Jazz Montez“ neben der Honsellbrücke, die über mehrere Wochen hochklassige Acts für lau zwischen Freitag und Sonntag präsentierte – ich war fassungslos über die Güteklasse der dort aufspielenden Formationen, die man dort entdecken konnte. Konzeptionell bietet „Jazz Montez“ vieles, was Puristen eventuell verstören könnte – dieses Jahr ging die Spannbreite über sogenannte
Derya Yilderim beim Jazz Montez
Worldmusic oder House bis zu Hip-Hop. Eines von vielen Highlights war der Auftritt von DERYA YILDIRIM & GRUP ŞIMŞEK am 19. August. Die Saz-Spielerin wie Sängerin Yildirim vereinigt mit ihrem Ensemble traditionelle anatolische Folklore mit Psychedelic-Rock und clubtauglichen Grooves, verdammt damit zum Tanzen und beschert eine sorgenarme Zeit unter „Dost“s (türkisch für „Freund“ oder „Genosse“).
Auch im Palmengarten wurde im Sommer musiziert, ebenfalls mit sorglosen Grooves. Allerdings noch weit esoterischer. RY X ist ein Publikumsliebling, wie der ausverkaufte Musikpavillon bewies. Seine 70 Minuten unterschieden sich nicht wesentlich von seinem letzten Auftritt in der Frankfurter Batschkapp, über den wir hier berichteten. Anders war allerdings die etwas verschwurbelte Sandrayati, die mit einem Kumpel an der E-Gitarre den Abend eröffnete. Sie sprach vom „Mut, nach (?) der Pandemie“, wieder zu interagieren, während Räucherstäbchen um die
Ry X im Musikpavillon des Palmengartens
nackten Füße der Akteure dufteten. Ihr glockenklarer Gesang und ein entrücktes Dauergrinsen machten den Auftritt fast unerträglich, wenn es nicht so schön geklungen hätte. Das ist das verdammte Problem mit der Esoterik; und ja, leider klingen die bisher erschienenen Tonträger toll. Und RY X? Baute langsam Stimmung auf, brachte die Anwesenden langsam in Richtung Ekstase und brach dann wieder ab, als man sich gerade so schön eingegroovt hatte. Wie üblich.
Das kleinste feine Festival fand nach zwei Jahren Pause mal wieder vor meinem Schlafzimmer-Fenster am Rottweiler Platz im Frankfurter Gutleutviertel statt. Ich muss daran also in irgendeiner Weise teilnehmen, außer ich würde flüchten. Dass es ausgerechnet an diesem Tag permanent schüttete schmälerte den Genuss natürlich und ließ auch dementsprechend weniger Menschen aus der Nachbarschaft mitfeiern, aber es gab gutes Bier und leckeres Essen vor dem Fenster und dazu einen Headliner, der im Sommer 2022 fast an jeder Steckdose draußen spielte: MATE POWER, die „Cumbia-Ska-Reggae-Band aus Frankfurt“ (Selbstbeschreibung) spielen drei Musikrichtungen, die
oben und rechts: Mate Power beim Straßenfest am Rottweiler Platz
mich in der Regel komplett kalt lassen. Aber die Stimmung war ausgelassen und so fand ich mich inmitten netter Nachbarn auf einmal groovend vor der kleinen Bühne, auf der „der Gitarrist aus Schweden, der Drummer aus Argentinien und die Posaune aus Brasilien kommt“ (Bandboss Diego Iriarte). MATE POWER, wie GASTONE ebenfalls eine Formation, um die man in Frankfurt und Umgebung im Sommer kaum drumherum kommt. Die beide höllisch Spaß machen. Das war dann auch die letzte Frischluft-Veranstaltung für mich in diesem Jahr.
Von den bisher noch nicht besprochenen Indoor-Events war zum Beispiel der 29. September ein interessanter Tag. Dank eines bereits vor zig Monaten erworbenen Tickets war der Besuch in der Batschkapp beim Vltima Ratio Fest gesetzt – das Timing war jedoch höchst suboptimal, spielten am selben Tag doch im bisher noch nicht von mir besuchten, neuen Zoom Club die STRANGLERS sowie in „Das Bett“ ein hochklassiges Metal-Package mit OBSCURA neben den gerade durchstartenden Leipzigern DISILLUSION. Mir war eher nach Bett hüten, aber ich schleppte mich in die Kapp um ein bisschen Nordic-Melodic-Death Metal-Atmo
oben und rechts: Hinayana in der Batschkapp
zu schnuppern – die von mir auf dem Billing des Festes favorisierten MY DYING BRIDE hatten leider abgesagt und wurden von INSOMNIUM ersetzt; MOONSPELL war der mich eher nur semi ansprechende Headliner. Aber es gab Platz und die Stimmung war gut, als die Texaner HINAYANA gezwungen waren bei Beginn des Einlasses loszulegen – Resultat einer 45-minütigen Verzögerung im Handlungsablauf zuvor. Die Band zockte sympathisch die ubiquitäre Mischung aus Growls und Prog/Goth-Synthies vor melodischen Gitarrenspielereien, die niemandem weh tun und eigentlich kein bisschen hart
Wolfheart in der Batschkapp
sind. Zwanzig verzichtbare Minuten. Die anschließenden WOLFHEART aus Finnland waren da schon ein anderes Kaliber und weitaus geiler mit ihrem Black Metal-Touch zum muskelbepackten Wikinger-Stampf, plus neoklassizistischer Einschübe vom Band. „We wouldn’t mind a little headbanging“ musste noch ein wenig animiert werden, dann flutschte es.
Das tat es noch mehr bei den proggigeren Norwegern BORKNAGAR, welche mit Hymnen wie „Up North“ das Publikum weitaus mehr abholten. Deren Mischung aus Vintage-URIAH HEEP-Sounds und modernem Prog
Borknagar in der Batschkapp
mit Ausbrüchen in folkloristische, nordische Black Metal-Gefilde trifft Nerven bei verschiedenen Subszenen. Eine Setlist-Kundige in der ersten Reihe verdiente sich den Respekt der Band, als sie nach „Up North“ anfing, „There Are Voices In The Air“ lautstark vorzutragen, welches prompt danach folgte. Feine Sache, aber ich baute ab und schenkte mir die anschließenden Programmpunkte.
Für Prog-Fans wird das Highlight des Jahres die Tour der wieder vereinten PORCUPINE TREE gewesen sein. In der Stuttgarter Porsche-Arena wohnten mein Kumpel und ich nach nervenaufreibendem Verkehrschaos sowie irritiertem, fälschlichem Anstehen bei der im selben Haus (!) stattfindenden Motocross-Sause der (mit Pause) dreistündigen Veranstaltung bei, bei der das neue Album neben alten Highlights komplett durchgespielt wurde und Steven Wilson ungewohnt viel scherzte und schwätzte – wohl ziemlich wortgleich wie auf dem Rest der Tour,
Porcupine Tree in der Stuttgarter Porsche-Arena
wie man durch diverse Rezensionen inzwischen erahnen darf. Musikalisch hochklassig, aber auch ein wenig versnobt. Dass für beide Großveranstaltungen im selben Haus nur ein Getränkestand angeboten wurde (Props an die mega-effektiven Angestellten dort) war genauso dubios wie die Begründung, dass das an dem „hohen Krankenstand“ der Bediensteten dort lag. Klar, dann zentrieren wir die über 20.000 maskenlosen Anwesenden halt alle an einem Punkt, was soll da schon schiefgehen.
Noch enger wird’s jedoch im Club, wenn dort das „Ausverkauft!“- Schild prangt. Endlich, am 27. November, habe ich das neue Zoom in den Räumen des ehemaligen Cocoon-Clubs besuchen können. Beim – ohne Übertreibung – Abriss des Jahres. Little Simz vierte Platte „Sometimes I Might Be Introvert“ war für viele das Album 2021, die Live-Umsetzung mit ihrem Beatmaster OTG (der auch das halbstündige Vorprogramm bestritt) eine Sternstunde des Live-Hip Hop. 90 Minuten wurde das neue Album fast durchgezockt, ein neuer Song vorgestellt sowie am Ende bei „Venom“ sogar ein Circle-Pit evoziert. Was die Lyrics der 28-jährigen Rapperin wie Schauspielerin bei ihrem Publikum auslösen, vermag ich als alter, weißer Mann nur zu erahnen – die Liebe
oben und links: Little Simz im Zoom Club
der alles mitsingenden Crowd war jedoch mit Händen zu greifen, die viel beschworene „Energy“ im Zoom für alle Beteiligten (einschließlich der beiden auf der Bühne) atemberaubend. Trotz einiger noch ausstehender Events in diesem Jahr sowie vergangener Perlen, die an Perfektion grenzten (allen voran THE AFGHAN WHIGS hier oder AMENRA da) war der Auftritt der Londonerin für mich der Gig des Jahres, Punkt. Prove me wrong, Rest-2022. Danke an Euch fürs Lesen. Bleibt gesund und stabil.
Micha / Rockstage-Riot-Team
Fotos (27): Micha
Foto (Emma Ruth Rundle): Nicole
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