Schlachthof, Wiesbaden, 20.11.2019
„Wer an seine Band glaubt und das auch den Leuten zeigen will, muss spielen, spielen, spielen.“ So gab es KADAVAR-Schlagzeuger Christoph „Tiger“ Bartelt dem Metal Hammer unlängst zu Protokoll. KADAVAR tun exakt das – seit der Gründung 2010 ackern sie sich durch die Clubs des Landes, um nun Hallen einer Größenordnung mehr oder weniger zu füllen, die sonst eher den großen Publikumsmagneten vorbehalten sind, sie supporten Ozzy Osbourne oder bespaßen das Wacken Open Air. Nicht schlecht für eine Horde exaltierter musikalischer Neo-Hippies, die den Sound von Kult-Bands wie BLUE CHEER, BLACK SABBATH, HAWKWIND oder den GROUNDHOGS kongenial in die aktuelle Zeit transportieren. Auch in diesem Blog wurde ihnen bereits mehrfach gehuldigt – schon, als sie noch im winzigen Frankfurter Ponyhof auftraten (Bericht dazu hier).
In den vergangenen Jahren gastierten die Berliner bei ihren Herbst-Touren in unserer Region wechselweise im Wiesbadener Schlachthof und in der Frankfurter Batschkapp – im Gegensatz zu einigen ausverkauften Shows im Rest der Republik klappt es in Rhein/Main jedoch leider nie ohne raumtrennenden Vorhang. Mal wieder ein Beweis für die Ausgehfaulheit des Rhein/Main-Volks, das selbst Legenden wie SAINT VITUS im Club die kahle Schulter zeigt? Oder eher für das abschreckende Konzert-Überangebot im November? Beides denkbar. Wer gestern im Schlachthof nicht dabei war verpasste einmal mehr etwas, nämlich eine der motiviertesten Live-Formationen, die es überhaupt gibt. Unfassbar hoher Standard und abartig vorherrschende Entzückung allenthalben, das sind KADAVAR live.
Wie immer gab es auch Vorbands zu bestaunen – und wie immer waren das Vorbands, die selbst schon das Eintrittsgeld rechtfertigen. Oder? Bei dem jungen Trio PABST (ebenfalls aus Berlin) mag man das anders sehen. Hauptsächlich, wenn man Schwierigkeiten hat anzuerkennen, dass man nicht zwangsläufig durch die Siebziger Jahre sozialisiert sein muss um zu rocken, sondern vielleicht, wie in diesem Fall, durch die Neunziger. „Grunge“ ist für viele in meiner Generation nach wie vor ein Schimpfwort und das Publikum bei den Shows der wenigen verbliebenen Protagonisten aus diesem Umfeld ist mit Sicherheit nur zum Teil deckungsgleich mit dem bei der Abschiedstour von BLACK SABBATH. Na und?
PABST tourten 2019 bereits mit den LEONIDEN und dürfen im Dezember CASPER sowie KUMMER auf dem ausverkauften Zurück Zuhause Festival unterstützen. Andere Generation halt, aber trotzdem Rock’n’Roll. Die live zum Teil als Quartett agierende Truppe, die anfangs wirklich vor fast leerem Haus auftreten musste, addiert als scheuklappenbefreites Sozialisationsprodukt der Neunziger Jahre Prisen von allem möglichen, darunter auch mal einen Robert Smith-Gitarrenlauf und eine Schippe Pop. Den von PABST selbst erwähnten „Noise-Rock“ vernahm ich nicht, aber Einsatz gab es sowie anerkennenden Applaus auch jenseits der anvisierten Zielgruppe im Saal. 30 Minuten zum Warmwerden, respektable Leistung, man sieht sich wieder.
Wen ich vor dem gestrigen Abend nicht sehen wollte und dann wegen der obligatorischen Gegenlicht-Düsternis auf der Bühne auch schlecht sehen konnte waren HÄLLAS aus Schweden. Vor knapp einem Jahr, HÄLLAS hatten gerade das Hammer Of Doom in Würzburg bespielt, stopfte mir Spotify ständig die Hardrock-Truppe in die Playlisten – einen Song, der mit hoher Vocal-Performance startete und mich so sehr nervte, dass ich umgehend ausschaltete. Länger als 30 Sekunden ertrug ich das nicht. Keine guten Voraussetzungen für den Gig also, doch ach, was war da los: Das optisch an meine Schweden-Faves TRIBULATION erinnernde Quintett verzauberte mich mit einer Gitarrenarbeit, die zur Abwechslung wirklich mal an WISHBONE ASH erinnerte; mit Vocals, die auf einmal gar nicht mehr so aufdringlich sondern eher etwas ungewohnt und eigen daherkamen; mit Synthies, wie man sie von sogenannten progressiven Bands der Siebziger kennen mag sowie einer kompositorischen Klasse (inklusive dem Erzählen von Fantasy-Geschichten), die leicht gestrig, aber nie verstaubt anmutet. Dazu eine Black Metal-Ästhetik sowie den Lemmy-Gedächtnis-Mikrohaken.
Falls KADAVAR auf einen Platz auf dem Retro-Thron überhaupt noch schielen sollten in 2019 (Zweifel sind erlaubt), so ist das zu vergessen, wenn HÄLLAS am Start sind. Extrem fluffig und mitreißend, was da auf der Bühne geschah und auch den Rezensenten von metal.de schockverliebt zurückließ (mehr dazu hier). HÄLLAS funktionierten in der Vergangenheit wohl perfekt auf Black Metal-Festivals, auf Tour mit GRAVEYARD sowie auf dem Roadburn Festival, was sollte es da noch zu meckern geben. Überzeugender Gig. War das überhaupt zu toppen?
War es. KADAVAR, meine Güte. Mein siebtes Mal. Nach einer stressbedingten Pause im vergangenen Jahr war mir nicht mehr gewahr, was dieses Trio live abreißt. Der „neue“ Bassist Simon „Dragon“ Bouteloup (seit 2013 dabei und damit länger bei KADAVAR als sein Vorgänger, Gründungsmitglied Philipp „Mammut“ Lippitz, der noch immer auf vielen KADAVAR-Seiten im Bandfoto zu sehen ist und inzwischen mit den LORANES rockt) performt fast schon ebenso offensiv wie der am Schlagzeug zentral postierte Tiger sowie Sänger und Gitarrenderwisch Christoph „Lupus“ Lindemann, fletscht die Zähne und gibt breitbeinig den lässigen Bass-Guitar-Swinger. Tiger Bartelt kann eigentlich nur noch aus Sehnen und Muskeln (und Haaren) bestehen, so wie der allabendlich seine Felle verdrischt.
Lupus‘ Nackenmuskulatur muss rekordverdächtig stark sein bei all dem exzessiven Gebänge, während er Riffs und Soli nebst dem Gesang raushaut. Dabei klingen die Songs erlesen – auch die des neuen Albums „For the Dead Travel Fast“, dem nunmehr fünften Studiowerk (neben diversen Live-Mitschnitten), das mit sechs Nummern den Löwenanteil der Setlist bestimmte. Dabei ging es straight auf die Zwölf – leisere Zwischentöne, wie sie inzwischen durchaus auf Platte zu finden sind oder experimentellere Darbietungen, wie sie das Trio neulich in größerer Besetzung in Berlin feilbot (DVD-Release wohl noch in diesem Jahr), hatten da keinen Platz.
KADAVAR schaffen das Kunststück Retro-Fans zu begeistern, nehmen dabei Indie-Publikum wie Extrem-Metaller mit und äußern sich in ihren Texten (anders als HÄLLAS) dabei noch zunehmend gegenwartsbezogen. Wiesbaden war zwar nicht so gut besucht wie andere Konzerte der Tour, für die Anwesenden jedoch ein rauschendes Fest. Falls ich im kommenden November wieder durch das herbstliche Live-Überangebot gestresst sein sollte, dann möge man mir nochmal stecken dass alles verzichtbar sein kann, KADAVAR aber nicht. Was für eine Band.
Links: http://pabstrules.com/, https://www.facebook.com/pabstband, https://pabstband.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/PABST, https://www.hallasband.com/, https://www.facebook.com/haellas/, https://haellas.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Haellas, https://www.kadavar.com/, https://de-de.facebook.com/KadavarOfficial, https://soundcloud.com/kadavar, https://www.reverbnation.com/kadavar, https://www.last.fm/de/music/Kadavar
Text & Fotos: Micha
Alle Bilder: