Zitadelle, Mainz, 7.08.2018
Als der 37-jährige Kamasi Washington kürzlich wohlverdient eine Titelgeschichte im Musikexpress bekam, schien der Autor Arno Frank dessen Eminenz für das eher Pop-affine Klientel des ME erklären zu müssen: „Wer sich im Pop auch nur halbwegs zu Hause fühlt, egal auf welcher Etage, dem liegt vermutlich sogar indonesisches Gamelan-Geklöppel noch näher als der Jazz. Wer hingegen im Jazz richtig aufgeht, der ist für alle anderen Genres fast verloren.“ Ein sehr guter Artikel (nachzulesen hier), dessen zitierter Eingangsthese ich gerne widersprechen möchte. Eigentlich spricht nichts gegen die friedliche Koexistenz beider (oder besser: aller!) Genres. Nicht nur, weil frühe Formen des Jazz Pop waren. Sondern weil es schon immer Musiker gab, die ähnliche Visionen auch bei Akteuren anderer Gattungen fanden, was oft zu spannenden Paarungen führte. Auch im lauten, heftigen Rock, der in diesem Blog an vorderster Stelle steht.
Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die Kollaborationen von NAPALM DEATH’s Mick Harris und Free-Jazz-Koryphäe John Zorn bei PAINKILLER. Die Zusammenarbeit von Carlos Santana mit zum Beispiel Alice Coltrane. Oder die Southern-Rock-Legende THE ALLMAN BROTHERS BAND, die maßgeblich vom Sound John Coltranes, dem Gatten von Alice, beeinflusst war. Dass hochklassige Jazzmusiker als Studiocracks Alben veredeln von unfassbar vielen Popmusikern wie Madonna, Elvis Costello oder Mariah Carey sollte eigentlich auch niemanden überraschen. Und was war mit Gurus „Jazzmatazz“? Meilenstein.
Und doch herrscht hier wie dort noch Standesdünkel vor. Die unsichtbare Grenze zwischen gedachter E- und U-Musik, oft ist sie noch spürbar. Nicht aber bei Kamasi Washington und seiner phänomenalen Begleitband, die ein exklusives Konzert in der Zitadelle zu Mainz gaben. Ein Freiluft-Areal mit Platz zum Schlendern und gut Sehen und Hören, umringt von einigen Weinschorle-Ständen und einem (!) Bier-Stand ohne Wartezeiten, was das Klientel auf diesem Konzert schon ganz gut auf den Punkt bringt. Alterstechnisch jedoch wohl gemischter als bei dem kürzlich in der Zitadelle stattgefundenen Gig von Norah Jones – das bedeutet, dass auch einige Anwesende weit unter 40 waren, wie der FR-Journalist Stefan Michalzik in seiner Review vom Washington-Auftritt korrekt anmerkte (hier).
Michalzik ist auch der einzige Pressevertreter, der in den mir bekannten Texten zum aktuellen Washington-Werk „Heaven And Earth“ darauf hinwies, dass inmitten des Doppelalbums noch ein weiterer Tonträger versteckt ist (danke, das hätte ich sonst wohl übersehen). Was den auf dem Konzert geforderten Verkaufspreis von 25 Euro ja schon fast nicht mehr überteuert wirken lässt. 35 Euro kam das Triple-Album „The Epic“, welches 2015 die Fachwelt Kopf stehen ließ, als CD – 65 Euro als Vinyl. Eine Menge Kohle in Zeiten, in denen jeder nur noch streamt und es uncool geworden ist, für Musik zu bezahlen. Und doch jeden Cent wert.
Vor „The Epic“ veröffentlichte der Saxophonist aus Los Angeles drei Scheiben in Eigenregie und schuf sich seinen Ruf durch die Mitwirkung am Hip Hop-Meilenstein „To Pimp a Butterfly“ von Kendrick Lamar. Hip Hop war sowieso seine erste musikalische Sozialisation, noch heute ist er dem Genre liebevoll verbunden. Seinen Releases hört man das aber nicht unbedingt an. Höchstens von der Attitüde her: Was die prägenden Musiker seiner Jugendzeit sampelten, das spielen Washington und seine Crew, die aus dem Kollektiv WEST COAST GET DOWN stammenden Musiker, eben live ein. Da hört man Sounds wie die vom Saxophon-Gott John Coltrane, mehr noch die seines Pianisten McCoy Tyner zu „Fly With the Wind“-Zeiten (1976), aber auch P-Funk und Psychedelic.
Der Fotograf im Graben mit Original-GRATEFUL DEAD-Shirt von der Euro-Tour Mitte der Achtziger Jahre wusste schon, was ihn zum Konzert verschlagen hatte. Und doch, zu Zeiten von „Black Lives Matter“ und immer offener auftretendem Rassismus nicht nur in den USA nicht nur ein Relikt, sondern politisch höchst aktuell. „Diversity is nothing to be tolerated – it’s something to be celebrated“ sprach der trotz schweißtreibender Schwüle in afrikanische Gewänder gekleidetete Washington an einer Stelle zum Publikum, nachdem er beschrieb, wie wohl er sich auf seinen Touren fühlt, wenn er in den unterschiedlichsten Gegenden des Globus spielt. Ja, ein Hippie. Sollte es gegenwärtig viel mehr von geben, meiner Meinung nach.
Etwas nervig an diesem Abend, bei dem man ob der Schwüle sekündlich mit einem Gewitter rechnen musste, war die Tatsache, dass die Show nicht wie angekündigt 90 Minuten nach dem Einlass begann sondern weitere 40 Minuten später. Die etwas betagteren Gäste, zu denen ich mich auch zählen muss, hatten Schwierigkeiten so lange auf den Beinen zu bleiben. Eine Bestuhlung hätte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht verkehrt gefunden. Alles war jedoch vergessen, als das erst als Septett fungierende Kollektiv die Bühne betrat. Zwei Schlagzeuger, Tony Austin und Ronald Bruner Jr., markierten die Eckpunkte auf der Bühne: Ersterer arbeitete bereits mit Carlos Santana, den Soul-Ladies Erykah Badu und India Arie sowie dem Trompeter Roy Hargrove; letzterer hat eine unfassbar lange Kooperationsliste mit zahllosen Jazz-Giganten, spielte aber auch bei den SUICIDAL TENDENCIES.
Der Posaunist Ryan Porter durfte beim Konzert eines seiner Stücke spielen, bei dem Washington als Sideman fungiert. Bassist Miles Mosley, von der SZ aufgrund seiner Expressivität mit Jimi Hendrix verglichen, zupfte sein Instrument, schlug es an oder bearbeitete es mit dem Cello-Bogen. Nicht wahrnehmbar für mich, aber für den Journal Frankfurt-Redakteur Detlef Kinsler, zitierte Keyboarder Rusian Sirota mal eben den halben Kanon der Klassik in einem seiner Soli. Vom Chor der Platte hatte es nur Sängerin Patrice Quinn nach Mainz geschafft: Ihre stimmliche Klangfarbe sowie ihr, anfangs auf mich etwas verspult wirkender Ausdruckstanz ließen jedoch kein größeres Arrangement vermissen. Und ab Stück Nummer Zwei betrat auch noch Kamasis Vater Rickey Washington die Bühne, um Querflöte und Sopransaxophon-Klänge zu addieren. Der Mann, der einst mit Diana Ross spielte, ließ laut ME seine Karriere schleifen „um seinem Sohn ein besserer Vater sein zu können, als er selbst einen hatte.“
Die Schmerzen vom langen Stehen waren passé, im Gegenteil: Neben verzücktem Lauschen war das Gebotene, welches in der Zeitung Eclipsed auch Jazzmuffel überzeugte, auch noch extrem tanzbar. Besonders beeindruckte mich „Truth“ von der EP „Harmony of Difference“. Ein Werk, das mehrmals auf unterschiedliche Art beginnt und am Ende alle diversen musikalischen Wege in einem großen Finale vereinigt – welches nicht schräg klingt, sondern fulminant beweist, wie erlesen sich diese Wege ergänzen können. Muss höllisch anstrengend zu spielen sein – klanglich war das aber eine Extase, wie man sie selten zu Gehör bekommt. Mit der Bruce Lee-Hommage „Fists of Fury“ (deutscher Titel: „Todesgrüße aus Shanghai“) endeten knapp zwei Stunden faszinierender Live-Musik, bevor Washington den geneigten Plattenkäufern noch anbot, seine Alben in Kürze zu signieren. Die Blitze zuckten bereits im Westen, doch das Gewitter blieb aus. Hatte wohl seinen Meister gefunden, hier in der Zitadelle zu Mainz.
Links: https://www.kamasiwashington.com/, https://www.facebook.com/kamasiw/, https://kamasiwashington.bandcamp.com/, https://www.last.fm/music/Kamasi+Washington, https://livelistnation.stream/Kamasi-Washington-At-Zitadelle-Mainz
Text & Fotos: Micha
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