Brotfabrik, Frankfurt, 16.12.2024
Spotify Wrapped, kennt Ihr doch? Diese bunt animierten Jahresrückblicke, die immer viel zu früh kommen und einem mit quietschbunten Farben sowie ebensolchen Genre-Zuordnungen den einzigartigen Musikgeschmack beschreiben, den man nun mal hat und der deswegen millionenfach auf Social Media geteilt wird, obwohl es niemanden sonst interessiert? Klingt böse und ist auch so gemeint, wenn man sich vor Augen hält, wie viel bzw. wie wenig die Musizierenden aus aller Welt von dieser Firma für die Bereitstellung ihrer Kunst monetär so erhalten. Umso obskurer erscheint es, wenn die Musikanten, die man in den zurück liegenden elf Monaten am meisten auf dieser Plattform gehört hat, ein persönliches Grußwort übermitteln und sich für das Streamen
bedanken (Screenshot dazu rechts). Wie resilient muss man da sein, wenn man nicht gerade Taylor Swift heißt?
Dieses Jahr haben sich also KING HANNAH bei mir bedankt. Vielleicht haben sie finanziell inzwischen ja wirklich etwas davon, ein bisschen wenigstens. Öfter als 1000 mal wurden sie 2024 bestimmt gestreamt (weniger als 1000 Streams bedeuten: You are not worthy. Es gibt nichts. Niente. Nada.). Ihr zweites Album „Big Swimmer“ ist nicht nur in meinen Jahrescharts. Hannah Merrick, die Lyrikerin, Sängerin sowie zweite Gitarristin der Band, bemerkte bei diesem, ihrem zweiten Auftritt in der Frankfurter Brotfabrik (Bericht zum ersten hier), dass es damals nur halbvoll war und jetzt wohl ausverkauft. Das sorgte für gute Laune auf und vor der Bühne.
Bevor das Duo, bzw. live als Quartett, jedoch alle Anwesenden glücklich machte, betrat ein Herr namens Joe Gideon die Bühne. Dieser musizierte in der Vergangenheit mit BIKINI ATOLL. Er und seine vielseitig begabte Schwester Viva Seifert werkelten nach deren Ende musikalisch weiter als JOE GIDEON & THE SHARK. Inzwischen fungiert er als Solo-Künstler, dabei häufig flankiert von Hochkaräter*innen wie Gemma Ray, Ed Harcourt oder Jim Sclavunos (BAD SEEDS). Auch auf dieser Tour hatte er einen solchen zur Seite, nämlich John J. Presley an der/den Gitarre(n). 30 Minuten bot Gideon fantasievolle Erzählungen seines aktuellen Drehers „Altered Self“, über verformende Spiegel, Leidenschaft für spezielle Dinge (inspiriert von Werner Herzog) oder Träume von Spinnen. Das war alles sehr eigentümlich: „Wild and Free“ zum Beispiel – der Song, von dem Gideon selber sagt, dass es der letzte sei, den er je schreiben wird – wiederholt wie ein Mantra die Worte „Wild and free“ mit dem Zusatz „without fear“ ab und an, auf Platte neuneinhalb Minuten lang, während dort Sclavunos Rhythmus und leichte Ekstasen addiert.
Live wurde Letzteres fulminant von Presley erledigt, sein Gitarrenspiel war ebenso speziell wie der Vortrag Gideons, aber unterm Strich vielleicht ein wenig nachhaltiger. Joe Gideon – das war mal etwas, was man nicht alle Tage zu hören bekommt. Ich bin noch nicht sicher, was ich von der Musik, die teilweise klingt wie aus der Kinderstube von THE VELVET UNDERGROUND, halten soll. Das war auf alle Fälle interessant. Und ein paar Platten verkaufte Gideon auch.
Vergleicht man das Auftreten von KING HANNAH mit dem vor zweieinhalb Jahren, so bemerkte man am deutlichsten die Veränderung bei Hannah Merrick. Nicht nur wegen ihres knallroten Kleides, sondern auch an der kommunikativen Leichtigkeit, die sich zwischen ihren strengen Blicken immer mal Bahn brach. Sie scherzte und genoss sichtlich die Interaktionen mit ihren Mitmusikern, die offiziell ja nicht zur Band gehören (außer natürlich Partner Craig Whittle an der Gitarre) und deswegen namentlich nie erwähnt werden. Vielleicht ja mal, wenn KING HANNAH eine Live-Platte veröffentlichen. Dass der Schlagzeuger immer noch Jake Lipiec heißt ließ sich jedoch nicht verheimlichen – Merrick wies darauf hin, dass dieser diesmal Anhang im Saal hatte.
Die proppenvolle Brotfabrik bekam in einem 90-minütigen Set neun von elf Stücken des „Big Swimmer“-Albums kredenzt, welches eine weit stärkere Americana-Schlagseite aufweist als der Vorgänger „I’m Not Sorry, I Was Just Being Me“. Das ist allerdings keineswegs als Manko zu werten – das Album ist so beliebt, dass der Titelsong sogar (unaufgefordert!) vom Publikum komplett mitgesungen wurde. Hannah Merrick schien sichtlich angetan und meinte, dass sowas bisher noch nie geschehen sei.
Es ist allerdings trotzdem schade, weil die Platte zuvor sowie auch die erste EP „Tell Me Your Mind And I’ll Tell You Mine“ vor guten Songs strotzen, auf die man demzufolge fast komplett verzichten musste. Klar, ohne „Crème Brûlée“, kurz vor der Zugabe geboten, geht nix – dieses Stück brachte KING HANNAH auf die musikalische Landkarte. Dass es vom Debütalbum ausgerechnet „Go-Kart Kid“, was ich bis vor einiger Zeit noch als einzigen Stinker auf einem ansonsten perfekten Werk wahrgenommen hatte, in die aktuelle und scheinbar in Stein gemeißelte Setlist schaffte, betrübte mich aber schon ein wenig.
Auf der anderen Seite sind es ja nicht nur die Lieder, sondern ebenso die immer mehr an Neil Young gemahnende Gitarrenarbeit von Craig Whittle, die zwischen oder nach den Songgerüsten für offene Münder sorgte, die KING HANNAH zur Besonderheit machen; vor allem auch live. Mit am Großartigsten funktioniert das bei dem bereits von Vielen gecoverten Stück „State Trooper“ von Bruce Springsteen, das langsam zum KING HANNAH-Signature-Song mutiert. Als Merrick die Anwesenden fragte, ob sie Lust auf ein Cover hätten, war es klar, dass dieses Lied folgen würde – und nicht das (ebenso großartige) „Like A Prayer“ von Madonna, auf dem Merrick noch mal ganz andere stimmliche Facetten offenbart.
Aber egal: KING HANNAH können aktuell nichts falsch machen und sind nachhaltiges Lieblingsbandmaterial. Noch nahmen sie sich vor und nach der Show die Zeit für Autogramme am Merchtisch, solange eben Merch signiert wird „und keine Körperteile“ (Merrick). Beim nächsten Mal wird die Brotfabrik mit Sicherheit zu klein für uns alle sein.
Links: https://www.kinghannah.com/, https://www.facebook.com/kinghannahmusic, https://www.instagram.com/kinghannahmusic/, https://kinghannah.bandcamp.com/, https://www.last.fm/music/King+Hannah, https://joegideon.com/, https://www.facebook.com/joegideonmusic, https://www.instagram.com/joegideonmusic/, https://joegideon.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/joe+gideon, https://johnjpresley.bandcamp.com/music
Text & Fotos (13): Micha
Foto (1): Nicole, Fotos (8): Stefan
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