KISS & THE NEW ROSES

Festhalle, Frankfurt, 24.06.2022

KissSogenannten „Abschiedstouren“ ist ja in der Regel mit Skepsis zu begegnen. Denn schon oft entpuppten sie sich in der Vergangenheit als Startschuss einer nicht enden wollenden globalen Reise, bei der nicht nur die größten Hallen und Arenen angefahren werden, sondern vielleicht sogar noch ein Tonträger aus der wieder gewonnenen Lust am Performen entsteht. Ein Beispiel dafür wäre STATUS QUO, die ich erstmals 1984 auf ihrer „End Of The Road“-Tour sah und danach etwa weitere zwölf Mal (allerdings markierte diese Tour immerhin die letzte im klassischen Line-Up). Oder die SCORPIONS, die ich eigentlich schon gar nicht mehr hören mochte, als sie 2010 zur „Get Your Sting And Blackout“-Tour die Festhalle beehrten und danach Schluss machen wollten – die Vorstellung jedoch, noch ein (letztes) Mal auf Songs wie „The Zoo“ oder Kiss„Make It Real“ steil zu gehen war attraktiv genug um „Winds Of Change“ zu ertragen, ganz zu schweigen von den neuesten Songs. Seitdem waren die Hannoveraner noch ein paar Mal in der Nähe, haben den Ex-Drummer von MOTÖRHEAD assimiliert, eine neue Platte nachgeschoben, die einige Menschen mit Sachverstand sogar ganz gut finden und füllen demnächst die noch größere SAP-Arena in Mannheim. Macht mal, aber ohne mich. Gegenbeispiele sind BLACK SABBATH, was Tony Iommis KissKrebserkrankung geschuldet ist, oder SLAYER, deren Sänger massiv Rücken hat und als christlicher Fundamentalist sowieso jahrelang ein Glaubwürdigkeitsproblem mit den Songtexten oder dem Auftreten seiner Combo. Aber wer weiß, ob da das letzte Wort wirklich gesprochen wurde…

Enter KISS. Die maskierten Rock’n’Roll-Veteranen aus New York, von deren Gründung nur noch „The Starchild“ Paul Stanley sowie „The Demon“ Gene Simmons an Bord sind, äußerten sich bisher divers über eine Zukunft ihres Multi-Millionen-Dollar-Unternehmens. Dieses hat ein dermaßen umfangreiches Merchangebot im Kader, dass Live-Präsenz oder gar Plattenverkäufe trotz hoher Eintrittspreise wohl nicht zur Haupterwerbsquelle zählen und den Akteuren ihre wohlverdiente Rente darüber hinaus ansehnlich vergolden würde.

KissIm Alter von 70 (Stanley) bzw. fast 73 (Simmons) sowie 50 Jahre gemeinsamen Musizierens passt das schon mit der Rente. Stanley hatte über den altersbedingten Verschleiß hinaus häufig massive Stimmprobleme, Simmons langsam keinen Bock mehr Stiefel zu tragen, von denen jeder soviel wiegt „wie eine Bowlingkugel“ (Interview in Classic Rock). Alternativ könnten ja auch neue, frische Musikanten unter der Schminke in Zukunft weiterspielen, wurde von Simmons mal laut gedacht.

KissAber halt: Haben KISS nicht bereits eine Abschieds-Tournee hinter sich? Haben sie: 2000, auf dem amerikanischen Kontinent. Nach der Reunion mit den anderen Original-Mitgliedern Ace Frehley und Peter Criss 1996 sowie dem erneuten Ausscheiden der beiden ließ sich im Ausland jedoch nicht viel von „Abschied“ wahrnehmen. Wie zum Teil bereits zuvor übernahmen Gitarrist Tommy Thayer neben Schlagzeuger Eric Singer deren Identitäten als „The Spaceman“ bzw. „The Catman“ mit leicht Kissmodifiziertem Make-Up und tourten bereits zwei Jahre später mit den beiden Platzhirschen um die Welt. Dieses Line-Up ist seitdem unverändert – Singer spielt damit satte zehn Jahre länger bei den New Yorkern als Urmitglied Criss.

„End Of The Road“ – exakt wie 1984 bei STATUS QUO –  nennt sich die gerade stattfindende Konzertreise von KISS, die 2019 startete und durch COVID-19 heftig ausgebremst wurde. Simmons hat es erwischt, Stanley gar zweimal – und Hallen in der Größe der Frankfurter Festhalle haben in der Zwischenzeit bloß Impfwillige von innen gesehen. Seit April geht es nun wieder los mit Events. Die meisten der seit zwei Jahren verschobenen Konzerte werden in der (irrigen) Annahme in den Sommer gepresst, dass das Virus sich da eine Auszeit gönnt; Kissneue Events werden dazu geklatscht – der geneigte Fan weiß weder, wie er/sie das alles bezahlen soll, noch wie man sich klonen kann. Exakt an diesem Freitag zockten keine 100 Kilometer entfernt zum Beispiel noch METALLICA ihr einziges Deutschland-Gastspiel im Jahr 2022 – mit einer Setlist zum Niederknien nebenbei, allerdings mit meist abschreckendem Beiprogramm. Auch KISS touren nicht alleine, und zu deren Support möchte ich jetzt ein paar Worte verlieren, bevor ich auf die Show von KISS eingehe.

Im Gegensatz zu 2017 (unser Bericht dazu hier) gab es nur eine Vorgruppe, und die hat (noch?) nicht das Renommee wie seinerzeit IN EXTREMO. Die Rede ist von den seit 2007 existierenden THE NEW ROSES, die aus Wiesbaden kommend keinen langen Anfahrtsweg hatten und deren Sänger wie The New RosesGitarrist Timmy Rough sichtbar Spaß in den Backen hatte. „80 Euro Gage, zwei Gäste und danach ’nen Deckel über 250 Euro“ – so beschreibt er seinen ersten Frankfurter Gig im Spritzehaus, einer inzwischen leider nicht mehr existenten Musikkneipen-Institution.

Und nun: Die Festhalle, genannt „Gud Stubb’“. Die NEW ROSES spielen klassischen Hardrock und damit eine Musik, die alles andere als zeitgemäß ist – im Vorprogramm von Altmeistern wie MOLLY HATCHET, THE DEAD DAISIES oder SAXON erfuhr das Quartett aus der Landeshauptstadt jedoch so viel Achtung, dass es zuhause die große Halle des Schlachthofs inzwischen ausverkauft, ein Rockpalast-Special vorzuweisen hat oder Truppen in Afghanistan bespaßen durfte. Warum ausgerechnet dieser Band der rote Teppich so über Gebühr ausgerollt wird entzieht sich meiner Kenntnis. The New RosesHandwerklich ist das astrein, aber eben alles schon mal dagewesen.

Aus Gründen, die zu beschreiben das Format hier sprengen würden, war ich gezwungen den Saal der Festhalle nach nur drei Liedern der ROSES zu verlassen, ich kann über deren Auftritt in Gänze also nicht detailliert berichten. Zwei der drei von mir gehörten Stücke schienen neue zu sein vom demnächst erscheinenden Tonträger namens „Sweet Poison“, mit dem der Vierer auch sofort wieder auf Tour geht und in unserer Nachbarschaft im Colos-Saal Aschaffenburg (24. Oktober) sowie im Hometurf Wiesbaden headlinen wird (Schlachthof, 19. November).

The New RosesSong Nummer drei war die, hoffentlich mit Augenzwinkern gemeinte Nummer „Life Ain’t Easy For A Boy With Long Hair“. Ein Stück, musikalisch so vollendet roots-rockig performt, dass man Augen wie Ohren reiben muss bei der Vorstellung, dass dieses Werk nicht aus dem trockenen Süden der USA stammt – vor allem Rough’s Stimme erzeugt dabei fast Gänsehaut, so whiskey-veredelt und den Blues verströmend es da aus den Boxen schallt. Inhaltlich, falls das Stück nicht vor Ironie strotzen The New Rosessollte, wäre es dagegen schon gewagt, mittelalte, weiße, heterosexuelle CIS-Männer aufgrund ihrer Haarlänge zu einer marginalisierten Gruppe erklären zu wollen.

Aber vielleicht ist das, neben der handwerklichen Klasse der Formation, ja ein weiterer Grund warum sie vor einem ebensolchen Publikum, welches nun mal die Majorität in diesem Land stellt, gerade so gnadenlos durchstarten. Eskapistisches Ausblenden eigener Privilegien und das Negieren gesellschaftlicher wie ökologischer Probleme haben in Krisenzeiten bekanntlich Hochkonjunktur. Bisschen zwiespältig allerdings, wenn sich solche Menschen dann in Kleidung/Texten/Gebaren etc. als „Rebellen“ gerieren. Das Gegenteil davon trifft es eher. Aber lassen wir uns von solchen Gedanken den Spaß nicht verderben.

Vor allem wenn wir uns auf einer Veranstaltung befinden von einer Band, die den Eskapismus zur Perfektion getrieben hat. Lyrisch sind KISS natürlich erst recht von gestern – im besten Fall eskapistisch, im schlimmsten aufs Übelste sexistisch, wie die meisten Rocker ihrer Generation. Aber KISS sind Kinder einer anderen Zeit und eckten ebenso durchaus an in der Vergangenheit: Ihr Ausflug in die Disco-Ära – von einigen abgöttisch geliebt – wird von der Rock’n’Roll-Taliban, die nicht verstanden hat, Kissdass die Selbst-ermächtigung der Protagonisten der Disco-Welle revolutionärer war als der pseudorebellische Hardrock und auch als der provozierende, doch dabei ebenso elitäre wie exkludierende Punk, immer noch als indiskutabel deklariert. Nun, wer zu KISS geht sieht zumindest das anders: „I Was Made For Loving You“ bleibt ein unverzichtbarer Fanfavorit. Ohne dieses Stück geht nichts, obwohl die Auswahl an Klassikern bei einem KISS-Gig unfassbar groß ist.

KissDas Album, das regelmäßig die am meisten von KISS gespielten Nummern präsentiert, ist aber „Destroyer“ von 1976. Frankfurt bekam davon fünf Stücke auf die Ohren, angefangen mit „Detroit Rock City“, für den Kollegen von Regioactive.de deren bestes (mehr dazu hier). Dazu gab es en masse Feuerfontänen und Donnerschläge, Ohrstöpsel waren im Front-of-Stage-Bereich nicht nur empfehlenswert, sondern vonnöten. Nach „Shout It Out Loud“ dann der erste Song vom Debüt, das häufig als Konzert-Opener eingesetzte „Deuce“ – „Kiss“ von 1974 steuerte am Abend vier Stücke zur Setlist bei.

„Neues“ – also Songs, die später als in den Siebzigern veröffentlicht wurden, spielten wie immer eine untergeordnete Rolle. Unverzichtbar dabei jedoch „Lick It Up“ (1983) aus ihrer unmaskierten Phase sowie „Psycho Circus“ (1998) aus der Zeit der Reunion mit den Original-Kollegen. „Animalize“ (1984) wurde mit Kiss„Heaven’s On Fire“ bemüht; „Asylum“ (1985) mit „Tears Are Falling“ – keine sicheren Nummern auf einem KISS-Gig und ein Beweis dafür, dass bei dieser Institution durchaus mit Überraschungen zu rechnen ist. Am erstaunlichsten –  neben der Kondition der vier Akteure, deren jüngster Tommy Thayer in diesem Jahr immerhin auch schon 62 wird – ist allerdings, wieviel Bock auf Rock die Herren immer noch auf ihren Shows verströmen.

KissIm Unterschied zu den drei KISS-Auftritten, die ich bisher von ihnen in der Festhalle gesehen habe, war ich diesmal ziemlich nahe am gnadenlos überteuerten FOS-Bereich, der im Vergleich zum hinteren Innenraum äußerst luftig besetzt wirkte. So luftig, dass ein Ordner etwa während „I Love It Loud“ das hintere Publikum dahingehend inspizierte, wer die Lücken vorn füllen könnte. Junge, attraktive oder bandkonform geschminkte Menschen gehörten zur Zielgruppe – ich also eher nicht. Dass Kissich ohne Anhang unterwegs war vergrößerte meine Chancen auf Hochstufung jedoch, so dass ich mir ein Herz fasste, fragte, belohnt wurde und tatsächlich wenig später Augenkontakt mit den Herren auf der Bühne hatte, die sich da so vortrefflich einen abschafften. Paul Stanleys Stimme hielt, Gene Simmons‘ Sabber floss, Eric Singer jonglierte bei seinem Solo, welches ohne optische Untermalung eher als zweitrangig einzustufen wäre und Thayer spielte sich entspannt ’nen Wolf und addierte ein Kisspaar wirklich großartige Gitarrenmomente. Stanleys Ausflug zum hinteren Teil der riesigen Halle mit einer Seilbahn sowie Simmons‘ Trip unter das Hallendach bei „God Of Thunder“ waren obligatorisch, aber deswegen nicht minder beeindruckend.

Zwei ganze Stunden dauerte die Sause diesmal und damit länger als vor fünf Jahren an gleicher Stelle, wenn ich mich recht erinnere. Sie vergingen wie ein Wimpernschlag und boten Entertainment für mindestens die doppelte Zeit. „The hottest band in the world“ halt, wie sich KISS unbescheiden, doch immer zutreffend ankündigen ließen. Es war mir eine Ehre sowie ein großes Vergnügen. Ihr werdet fehlen.

Links: https://www.thenewroses.com/, https://www.facebook.com/TheNewRoses/, https://soundcloud.com/the-new-roses, https://www.last.fm/de/music/The+New+Roses, http://www.kissonline.com/, https://www.facebook.com/kiss, https://myspace.com/kiss, https://www.last.fm/music/Kiss

Text & Fotos: Micha
Clip: am Konzertabend aufgenommen von press360

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