Frankfurt, 24. März 2021
Konzerte haben wir schon lange nicht mehr gesehen. Aber wir können uns noch ganz gut erinnern wie das war, damals, in vollgestopften Clubs und Hallen bei lauter Musik und toller Atmosphäre. Und weil wir uns noch erinnern können (und uns außerdem ein bisschen langweilig ist) haben wir beschlossen, unser Special zu den kleinen Geschichten rund um die Konzerttickets (zur Erinnerung: Einige Folgen zu den Achtziger und Neunziger Jahren gab es schon) fortzuführen. Diesmal sind die Jahre von 2000 bis 2010 dran. Es wird wieder zwei Posts geben, diesmal mit je zehn Auftritten. Den ersten findet Ihr genau hier, der nächste folgt in ein paar Tagen. Viel Spaß beim Lesen und – beim Erinnern. Irgendwann wird es hoffentlich auch wieder neue Konzerte geben, die Ihr und wir besuchen und darüber berichten können.
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Reverend Horton Heat, September 2000
Im Jahr 2000 wohnte ich unter der Woche zur Untermiete in Gelsenkirchen. An einem Donnerstag im September bot sich mir dann die Gelegenheit, in die benachbarte Metropole Essen-Altenessen zu reisen und mir gemeinsam mit aus dem Rheinland angereisten Freund*innen ein Bild davon zu machen, wie genial REVEREND HORTON HEAT live ist. Denn ich hatte die Texaner noch nie gesehen, wohl aber von ihrem Ruf als Brett auf der Bühne gehört. Ich wurde nicht enttäuscht und weiß noch ganz genau (ich war übrigens mit dem Auto gefahren und somit nüchtern), wie mir die Kinnlade runterklappte, weil da Leute musizierten, deren Fähigkeiten die der meisten anderen in diesem Genre weit überstiegen. Der Laden war proppenvoll (einschließlich der Empore) und irgendwie herrschte eine Stimmung wie in der Oper. Die Reise hatte sich gelohnt. Zumal dies bislang mein einziges RHH-Konzert geblieben ist. Ich hatte zwar eine Karte für ein Konzert mit REVEREND HORTON HEAT und den DELTA BOMBERS im Mai 2020 in Manchester, doch das fiel wie so viele andere leider der Pandemie zum Opfer und wird auch nicht nachgeholt. Vorband damals in der Zeche Carl waren übrigens die deutschen Garagenhelden THE RAYMEN, die ich zum ersten Mal als Vorband der METEORS an meinem 16. Geburtstag gesehen hatte (das war nicht 2000). Ein Bonus. (jr)
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Deep Purple, Oktober 2000
Man kennt die Legenden über die Rivalität des Rockers wie Gitarristen Ritchie Blackmore sowie dem Klassiker und Keyboard-Virtuosen Jon Lord bei den britischen Hardrock-Urgesteinen DEEP PURPLE. Ersterer durfte seine Aggros ausleben bei „DEEP PURPLE in Rock“, Letzterer versuchte seine Ambitionen bei dem Orchesterwerk „Concerto For Group And Orchestra“ umzusetzen. Blackmore war schon eine Weile raus, als das 1969 komponierte Orchesterwerk 2000 auf europäische Bühnen gebracht wurde – mit Gästen wie dem Ex-RAINBOW- Sänger Ronnie James Dio im Vorprogramm. Dieser Abend in der Frankfurter Festhalle brachte erstmals seit 1969 nicht nur das Orchesterwerk PURPLEs zu Gehör, sondern ebenso die sonst von Dio nie gespielten Songs vom „The Butterfly Ball a. t. Grasshopper’s Feast”, die PURPLE-Bassist Roger Glover 1974 schrieb. PURPLE wiederum spielten DIOs “Rainbow In The Dark” bei diesem dreistündigen Event. War das legendär? Aber Hallo. (mt)
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Robbie Williams, August 2001
„You know: I’ve been in TAKE THAT and into the SPICE GIRLS – at least in two of them“. Sexistisch, größenwahnsinnig und ebenso witzig sprach das damalige Teen-Idol Robbie Williams in Köln, welches nach der Absenz von TAKE THAT erstmal kleinste Brötchen backen musste. Dann: Im Verbund mit Songschreiber Guy Chambers gelangen der Rampensau Williams Hits für die Ewigkeit zwischen Pop sowie Brit-Rock – sein Konzert in der Frankfurter Festhalle 2000 war ein Knaller, sein Nachtrag im Sommer 2001 in Köln absoluter Kult. Pro7 schnitt damals mit und verwurstete die Aufnahmen häufig geschnitten und gekürzt. Live war das, auch wegen der Vorbands ASH und NEW ORDER, ein Fest. Und danach? Noch ein gutes Album, dann die Trennung von Chambers aus (von mir vermutetem) Größenwahn. Anschließend künstlerischer Absturz, gefolgt von Pandemie-Schwurbelei. Aber Köln war die Macht. (mt)
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Lee Hazlewood, September 2002
Dem US-amerikanischen Songwriter und Sänger Lee Hazlewood eilte der Ruf voraus, dass er eher ungern toure. Lieber, so wurde kolportiert, liege er am heimischen Pool und genieße seine Tantiemen für all die Hits, die er anderen Künstler*innen auf den Leib geschneidert hatte. Eine der seltenen Touren führte ihn 2002 nach Europa, im September war er in der Darmstädter Centralstation zu Gast. Hazlewood nahm mit seiner Gitarre auf einem Stuhl Platz, auf einem daneben platzierten Hocker standen ein Glas (ich vermute mit Whisky) sowie
ein Aschenbecher. Der Künstler spielte sämtliche seiner Klassiker und ein paar unbekanntere Nummern und leitete fast jedes Lied mit einer kleinen Geschichte oder Bemerkung ein. Gut in Erinnerung geblieben ist mir, dass er zwischen zwei Stücken innehielt, Blickkontakt mit dem Publikum aufnahm und ganz langsam sagte: „And now: A Million, Million Dollar Song“. Sprachs und spielte unter dem Jubel der Fans „These Boots Are Made For Walkin'“. Ein Gänsehautmoment. Hazlewood war damals 73 Jahre alt. Drei Jahre später wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, fünf Jahre später starb er. (sm)
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Scotty Moore & His Band, Oktober 2002
Scotty Moore hat die Musikwelt verändert. Das kann man, glaube ich, schon so sagen. Er war immerhin von 1954 bis 1968 Elvis‘ Gitarrist. Insofern war ich im siebten Himmel, als ich im Oktober 2002 seine Hand schütteln durfte. Nach seinem Auftritt in Manchester hatte er sich in der Halle an einen Tisch gesetzt, damit alle Konzertbesucher*innen mit ihm plaudern und sich Autogramme holen konnten. Unvergesslich. Ebenso genial war sein Auftritt mit Paul Ansell (Euch vielleicht von NUMBER NINE bekannt) am Gesang, dessen Stimme mit der des Kings mithalten kann. Es wurden natürlich alte Hits der BLUE MOON BOYS dargeboten, das war aber kein nostalgischer Kitsch sondern musikalisch umwerfend. Gänsehautgefühl. Da Moore ein extrem schüchterner Mensch war, überließ er es Ansell, Anekdoten aus der Zeit mit Elvis zu erzählen. Aber das Beste war die Musik – und mein historischer Handschlag. RIP Scotty. (jr)
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Ryan Adams, Dezember 2002
Ryan Adams war einer der talentiertesten wie produktivsten Singer/Songwriter der USA, mit großer Liebe zum (auch heftigen) Rock’n’Roll. Der Auftritt im Capitol 2002 begann mit dem special guest Jesse Malin, ebenfalls ein Songwriter mit Punkvergangenheit, der Brian Fallon dieses Jahr (hoffentlich) beim mehrfach verschobenen Konzert in der Batschkapp unterstützen wird. Adams war stark erkältet, rauchte trotzdem Kette und fabulierte meist am Piano über tragische Gestalten des Rock’n’Roll wie zum Beispiel die von ihm verehrten Gebrüder Gallagher von OASIS, deren „Wonderwall“ er daraufhin in einer Version zum Dahinschmelzen vortrug. Auch mit Gitarre oder Dobro schleppte er sich zum Bühnenrand, keuchte, rotzte, jammerte. Nächstes Kippchen. Zwei Damen mit Cello und Geige souflierten das leidende Genie später noch, welches sich als beziehungskillender „Bastard“ outete. Man hätte Späteres also bereits ahnen können. Ein denkwürdiger Abend – so war er danach live nicht mehr zu erleben. 2019 sollten drei neue Alben von ihm erscheinen, Vorwürfe von u. a. Phoebe Bridgers oder Mandy Moore wegen emotionalen Missbrauchs stoppten fast alle seine Aktivitäten bis auf nebulöses Geraune auf Twitter. Ende 2020 dann der Comeback-Versuch, wieder als selbstmitleidiger Suizid-Casanova. Tragisch. (mt)
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The Lords of the New Church, April 2003
Dass Reunions nicht immer begeistern, musste ich im April des Jahres 2003 erfahren, als die legendären LORDS OF THE NEW CHURCH im Frankfurter Club The Cave auftraten. Der einstige Frontmann Stiv Bators (ehemals DEAD BOYS) war 13 Jahre zuvor an den Folgen eines Autounfall verstorben und hatte damit das Ende der Formation besiegelt. 2003 wollten es die Gründungsmitglieder Brian James (Gitarre, THE DAMNED) und Dave Tregunna (Bass, SHAM 69), die die Band 1981 mit Bators ins Leben gerufen hatten, noch einmal wissen. Als Ersatz für den verblichenen Frontmann standen gleich zwei Sänger auf der Bühne. Nun, das Ganze ging gründlich in die Hose, was vor allem an Shouter Steven Marque lag, der stimmlich und optisch wie ein Fremdkörper auf der Bühne wirkte und so gar nichts vom Charme eines Stiv Bators versprühte. Deutlich besser machte seine Sache der zweite Sänger und Gitarrist Adam Becvare (THE LUSTKILLERS, BLACK HALOS), der gesanglich aber nur selten zum Zuge kam, da Marque stets das Bedürfnis hatte, sich mit seinem exaltierten Gepose in den Mittelpunkt zu rücken. Fazit: Einzigartige Frontleute wie Lemmy, Phil Lynott und eben auch Stiv Bators sind schlicht nicht zu ersetzen. Es dennoch zu versuchen, endet meist im Desaster. (mm)
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Dixie Chicks, September 2003
Vive Le Rock, das britische Rock’n’Roll-Magazin mit den Schwerpunkten Punk- sowie Straßenrock, wies vor knapp einem Jahr darauf hin, dass genereller Dünkel gegenüber Country-Music und seinem vorherrschenden Weltbild nicht nur anmaßend, sondern schlicht falsch ist. Leser unseres Blogs wissen das – rebellischer Outlaw-Country kam hier schon öfter zur Sprache. Wie man es sich nicht nur mit großen Teilen seiner Fanbase verkackt sondern vor allem ganz konkret mit der eigenen Regierung – das machte Anfang der 00er-Jahre das Country-Bluegrass-Trio DIXIE CHICKS vor. Massiver Ärger bis hin zu Morddrohungen sowie vom Bulldozer geplättete CDs stoppten die Drei nicht vor weiteren, bei Konservativen unbeliebten Stellungnahmen, zum Beispiel zu Homosexualität oder Wahlregistrierungen. In der Frankfurter Jahrhunderthalle überzeugte das Trio die Kritiker nicht unbedingt – zu viel Pop, zu wenig Bluegrass. Genau diese Mischung macht die Ladies jedoch besonders. Seit 2020 in Bezug auf das BLM-Movement nur noch als THE CHICKS unterwegs. (mt)
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Grace Jones, September 2003
Wer mich und meinen (doch eher rauen) Musikgeschmack kennt, wird sicherlich verwundert sein, dass ich eine Sängerin schon seit jeher schätze: Grace Jones. Die skandalumwitterte Diva mit der markanten Stimme übte schon immer eine gewisse Faszination auf mich aus, sodass sich mit den Jahren auch einige Platten dieses bunt schillernden Chamäleons in meinen Regalen ansammelten. Im September 2003 hatte ich dann die Gelegenheit das Enfant terrible des Pop-Business live zu sehen. Miss Jones trat im Rahmen der eDit/VES-Gala (einer Veranstaltung der Filmbranche) als musikalischer Stargast im Frankfurter Metropolis-Kino auf. Die Show fand im oberen Foyer statt und die Jamaikanerin benutzte den Fahrstuhl, um auf die improvisierte Bühne zu den Mitgliedern ihrer (hervorragenden) Backing-Band zu gelangen. Nach ein paar Liedern
verschwand sie wieder im Lift, um nach kurzer Zeit in einem anderen, ebenso extravaganten Kostüm wiederzukehren. Während des Auftritts wechselte sie vier oder fünf Mal das Outfit, wandelte damit durch die Reihen der Zuschauer wie auf einem Laufsteg (auch direkt an mir vorbei – ganz schön groß, die Dame!) und schien das Spektakel ebenso zu genießen wie die Besucher: Wie in der November-Ausgabe 2003 des Stadtmagazins Frizz zu lesen war, war nur ein 45-minütiges Set vertraglich vereinbart. Letztlich dauerte die Show aber fast zwei Stunden. Außerdem soll die Künstlerin am Rande dieses Konzerts „voller Funk, Inbrunst, Sex und allem, was nicht von dieser Welt ist“ (Frizz) mit ihrer Entourage fünf Kisten edlen französischen Rotwein verköstigt haben. Es sei ihr gegönnt. Es war ein unvergessliches Erlebnis. (sm)
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The Darkness, Februar 2004
„Easter is cancelled“ – schon wieder! Wie wir jetzt wissen, fällt auch 2021 das Osterfest aus, aber THE DARKNESS wussten es schon länger: Das sechste Album der Engländer mit dem prophetischen Titel wurde im Oktober 2019 veröffentlicht. Bereits im Oktober 2003 spielte die Band in Frankfurt, als Vorgruppe von MEAT LOAF in der Festhalle. Nur wenige Monate später gastierten die Briten erneut in der Mainmetropole, aber nun als Headliner in der „guten alten“ Batschkapp. THE DARKNESS wurde auf der Insel nach dem Kracher „I Believe in a Thing Called Love“ förmlich gen Himmel gehypt und somit war das Konzert in Frankfurt blitzschnell ausverkauft. An dem Abend hatte ich allerdings noch eine Karte übrig und als ich auf dem Schwarzmarkt nach einem Ticket gefragt wurde und ich leise „50“ sagte, hatte ich wenige Sekunden später einen 50-Euro-Schein in der Hand. Die Band, die insbesondere wegen der Falsettstimme des Sängers Justin Hawkins immer etwas belächelt wird, lieferte eine wahnsinnige Show ab. Die Songauswahl beschränkte sich aber auf den aktuellen Longplayer „Permission to Land“ und nach etwas mehr als einer Stunde war Feierabend. Länger spielte die Formation im Februar 2020 in der „neuen“ Batschkapp. Und das war auch mein bisher letztes Livekonzert… (evr)
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Texte: Micha (mt/4), Stefan (sm/2), Jan (jr/2), Marcus (mm/1), Eric (evr/1)
Foto (Ryan Adams am 17.10.2006 in Das Haus, Ludwigshafen) : Micha
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Lust auf mehr Konzertkarten-Geschichten? Teil 2 folgt in ein paar Tagen!