Batschkapp, Frankfurt, 16.07.2024
Nur ein einziges Konzert in Deutschland, und das quasi vor der Haustür: Selten, aber eben doch ab und an mal, hat man das Glück, sich nicht beim Blick auf Veranstaltungsseiten grün zu ärgern ob der nicht zu überwindenden Hürden zum Genuss einer favorisierten Formation. Obwohl: Trifft das überhaupt (noch) zu? Flashback in die Achtziger: Popkultur war reich an phänomenalen Sounds und Szenen, doch fast alles existierte neben- und nicht miteinander. Abgrenzung war Pflicht und wurde nicht selten physisch verdeutlicht. Am beknacktesten waren die Reibereien zwischen Punk- und Metal-Fans: Während die Musizierenden meist jede Menge Respekt voreinander hatten und sich sogar gegenseitig beeinflussten, gab es in den Clubs noch ordentlich auf die Mütze, wenn die Haare zu lang waren für die EXPLOITED oder zu kurz für MOTÖRHEAD.
Die wechselseitige Befruchtung war jedoch nicht aufzuhalten und mündete in Genres wie Thrash-Metal, Hardcore oder Crossover. Noch größer war die gegenseitige Abneigung zwischen sogenannter „weißer“ und „schwarzer“ Musik – während das Gros der Punks und vor allem Metaller ihr Anti-Establishment rüpelnd, saufend sowie kotzend auslebten und sich damit vorkamen wie Widerstandskämpfer, entstanden in New York City diverse Subkulturen, in denen mit neuartigen Sounds aus zum Teil komplett neuartigen Geräten musikalische Revolutionen stattfanden. Und mit Themen voller gesellschaftlicher Relevanz, bei denen es nicht selten um Leben oder Tod ging.
Von den privilegierten, weißen Rockfans wurden solche Klänge aus den schwarzen Stadtteilen meist verächtlich und ignorant als „Disco-Scheiß“ abgetan, bis sich der Blick über die Tellerränder auch hier nicht mehr vermeiden ließ: Der Begriff „Crossover“ wurde erweitert, respektive umgedeutet, harte Gitarren trafen auf Beats und Sprechgesang. ANTHRAX tourten mit PUBLIC ENEMY und die Fans gründeten Acts, in denen grenzenlos gefeiert wurde. Allerdings erledigte sich der Teil mit der gesellschaftlichen Relevanz damit auch flott, abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen. Irgendwann war zu Ende getanzt, die Sounds ausgelutscht. Die Crossover-Bands verschwanden. Bis sie ein paar Jahrzehnte später von der Nachwelt wieder entdeckt wurden.
LIVING COLOUR, bzw. ihr Gitarrist und Gründer Vernon Reid, kommen aus der New Yorker Jazz-Szene, die eng verwoben war mit der No Wave-Szene und in der Jazz noch freier und weniger elitär gespielt wurde als anderswo. Der Hendrix-Fan Reid spielte mit sämtlichen Könnern aus Rock & Jazz zusammen und gilt, laut Rolling Stone, als einer der „größten Gitarristen der Welt“. Zu der 1984 gegründeten Band gehören noch Sänger (sowie Schauspieler) Corey Glover, der mit GALACTIC noch dem Funk frönt und mit DISCIPLES OF VERITY dem Metal; Will Calhoun (der Kooperationen unter anderem mit B.B. King, Pharaoh Sanders und PUBLIC ENEMY vorweisen kann) am Schlagzeug sowie Bassist Doug Whimbish, der „erst“ seit 1992 mit an Bord ist. Er spielte den Bass bei legendären Hip Hop-Tracks wie „The Message“ von Grandmaster Flash ein und unterstützte live wie auf Platte häufiger die ROLLING STONES. Unter anderem.
Im September 1988 spielten LIVING COLOUR erstmals in der Frankfurter Batschkapp. Das Konzert war so schweißtreibend, großartig und ausverkauft, dass die New Yorker keine drei Monate später einen ebenso ekstatischen Nachschlag an gleicher Stelle gaben. Ich war bei beiden dabei, in zeitlicher Nähe zum zweiten fand dort ebenso ein Konzert von DAN REED NETWORK statt. Ich feierte das alles – damals war mir aber noch nicht klar, dass sich mit diesen Beispielen exemplarisch gut darstellen lässt, was LIVING COLOUR von ihren Mit-Protagonisten unterschied: Nicht nur der bereits beschriebene besondere musikalische Background machte sie besonders, sondern auch die Tatsache, dass LIVING COLOUR nicht wie ihre weit erfolgreicheren Kollegen von den RED HOT CHILI PEPPERS ausschließlich dem Hedonismus frönten, sondern mit der fast zeitgleich zum Bandbeginn gegründeten Black Rock Coalition (mehr dazu hier) zum Beispiel außerdem schwarze Rockmusiker empowerten und vor Rassismus im Rockbetrieb schützten. Die Texte von LIVING COLOUR behandelten soziale Themen auf ernste („Open Letter to a Landlord“, „Which Way to America?“, „Ausländer“) oder ironische Weise („Glamour Boys“). Und doch: Im Zuge des Crossover-Overkills verschwanden nicht nur die Bands aus den hinteren Reihen, sondern eben auch LIVING COLOUR 1995.
Seit 2001 gibt es die Band wieder, sie spielte seitdem drei Scheiben ein. Im Gegensatz zu einigen Gästen beim Konzert in der Batschkapp, die zum Teil aus Karlsruhe kamen und die Band immer mal wieder in Köln, Wien oder Zagreb aufsuchten, hatte ich in der Zwischenzeit weder die Reunion mitbekommen, noch die zwar erfolglosen, doch stets hochinteressanten Alben. Crossover und all seine von mir damals geliebten Protagonisten waren für mich Schnee von gestern, auf ein Revival konnte ich bei den Mengen an aktueller, spannender Musik gut verzichten. Das sehen Andere wohl anders, wie man am bereits ausverkauften Konzert der GUANO APES sehen kann, die am 8.11. die Batschkapp beschallen. Ausverkauft war das Konzert gestern nicht – ein Vorhang halbierte die Kapp, trotzdem blieb viel Luft zwischen den Gästen, die hauptsächlich männlich gelesen wirkten sowie etwa ein halbes Jahrhundert Lebenserfahrung vorzuweisen hatten.
Von der Kraft, Energie und Spielfreude des Quartetts auf der Bühne, welches in ihrem knapp 90-minütigem Set ausführlich in die Retro-Kiste griff und Songs der letzten drei Platten ausließ (schade, eigentlich), ließen diese sich jedoch anstecken und bewegten sich, soweit es ihr individueller Zustand eben zuließ, mal mehr und mal weniger. Neben den unvermeidlichen Hits der Band wie dem Opener „Middle Man“ oder dem Rausschmeißer „Cult of Personality“ offenbarte die Setlist (die auf setlist.fm, zumindest gegenwärtig, falsch ist) mal wieder diverse Coverversionen. Machten sich LIVING COLOUR in der Vergangenheit „Should I Stay Or Should I Go“ von THE CLASH zu eigen, so zollten die Vier diesmal den inzwischen komplett verblichenen MC5 Tribut mit einer heftigen Version von „Kick Out The Jams“ und vermischten „Hound Dog“ von Elvis Presley mit ihrem Stück „Elvis Is Dead“. Ein Highlight war für mich die auf der (richtigen) Setlist als „Doughop“ aufgeführte Collage von frühen Hip Hop-Basslinien von Doug Whimbish, in der er „The Message“, „Apache“ von der SUGARHILL GANG und „White Lines“ von Melle Mel fusionierte und zum Tanzen lud. Schlagzeuger Calhoun überzeugte ebenso mit einem Solo. Corey Glover war den ganzen Abend über lässig, farbenfroh sowie souverän – zeigte am Ende allerdings, zu welchen gänsehauterzeugenden Vokal-Performances er fähig ist. Und Vernon Reid? Er geht locker als einer der uneitelsten Performer mit maximaler Spielfreude durch und wäre allein schon ein Grund gewesen, diese Veranstaltung zu besuchen.
Hut ab vor diesen Herren, die ein überzeugendes Lebenszeichen offerierten mit vielleicht ein wenig zu viel Vergangenheitsverklärung. Dabei zeigen Songs wie „Who Shot Ya?“ (2016) oder „Program“ (2017), dass LIVING COLOUR im Hier und Jetzt leben und noch etwas zu sagen haben. Auch das unterscheidet sie von den anderen Kollegen ihrer Zunft, die demnächst mit ihren Sounds von Vorgestern die Clubs bereisen. Für ein Crossover-Revival bin zumindest ich noch längst nicht genug angespitzt – für einen herausragenden Konzertabend hat es allerdings auf alle Fälle gereicht. Und das ist ja schon mal was.
Links: https://livingcolour.com/home, https://www.facebook.com/LivingColour, https://www.instagram.com/LivingColourOfficial/, https://soundcloud.com/livingcolour, https://www.last.fm/de/music/Living+Colour
Text & Fotos: Micha
Alle Bilder:
Living colour.. und ich hab sie verpasst… aber ich kram gleich mal die CD raus
vielen Dank für den Beitrag hier