Batschkapp, Frankfurt, 6.03.2020
So schnell kann es gehen. Eben noch von einem Event zum nächsten gejettet, mehrmals die Woche Live-Musik gefeiert und Dystopien höchstens gelesen oder auf Netflix gestreamt. Und bums, sind wir selber in einer. Wegen der Corona-Krise wird es von uns in nächster Zeit keine aktuellen Konzertkritiken geben. Bevor es angesagt war, sich sozial von Allen zu distanzieren, waren wir jedoch so heftig unterwegs, dass wir gar nicht mit der Berichterstattung über besuchte Gigs hinterherkamen. Das holen wir jetzt nach, denn es wäre schade über diesen, ohnehin viel zu lausig besuchten Abend zu schweigen. Er war hochinteressant und sogar witzig (Letzteres war eventuell nicht beabsichtigt), wurde von kultigen Gestalten fabriziert und eröffnete neue Interessenfelder, die auch in Zeiten von Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen Beschäftigung lohnen. Sprechen wir also über den Abend in der Frankfurter Batschkapp mit dem ENSEMBLE MODERN.
Falls es Unkundige darüber geben sollte, wer zum Henker das überhaupt ist: Das in Frankfurt ansässige Ensemble existiert bereits seit 40 Jahren. Längst hat es das kleine Orchester, in welchem sich zur Zeit 19 Musiker basisdemokratisch organisieren, mit Gastspielen auf dem gesamten Globus zu internationalem Ruhm gebracht. Frankfurt als Basis darf sich freuen über regelmäßige Reihen von Events in der Oper sowie der Alten Oper. Einmal im Jahr veranstaltet die Formation, die sich maßgeblich um sogenannte „Neue Musik“ kümmert und dabei zahlreiche Projekte und Veröffentlichungen mit Hochkarätern wie beispielsweise Frank Zappa oder Heiner Goebbels vorzuweisen hat, zusammen mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks (hr) das Festival Cresc-Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main an verschiedenen Orten sowie mit diversen illustren Gästen.
In diesem Jahr ging es unter dem Schlagwort „Human Machine“ um den Umgang und das Zusammenspiel mit künstlichen Intelligenzen. Nachdem zuvor in der Jahrhunderthalle Samy Deluxe auf die Theremin-Virtuosin Carolina Eyck mit dem hr-Sinfonieorchester getroffen war, wurde nun die Batschkapp unter dem Motto „Metal vs. Ambient“ Schauplatz des Aufeinandertreffens des ENSEMBLE MODERN mit dem österreichischen Komponisten Bernhard Gander – ein Metal- sowie Horrorfilm-Fan, der in einem sehr lesenswerten Interview hier Metal als die „einzig wahre Musikrichtung“ preist. Scherzhaft übertrieben, ein ganz klein wenig, eventuell. Gander lieferte die Uraufführung eines Stückes namens „Oozing Earth für Stimme, Extreme-Metal Drummer und Ensemble“.
Da „Stimme“ und „Extreme Metal Drummer“ durchaus prominent besetzt waren, tauchten kurz vor dem Event noch werbende Nachrichten auf, zum Beispiel auf Metal-Blogs wie Hell Is Open aus Mainz oder auf Plakatwänden in ganz Frankfurt. Selbst der veranstaltende hr verloste unter seinen Mitarbeitern noch großzügig Tickets, weil der Vorverkauf wohl miserabel lief. Trotz Zugpferden wie dem „Extreme Metal Drummer“ Flo Mounier von CRYPTOPSY (den wir kürzlich noch in Mannheim als Teil der Allstar-Combo VLTIMAS erleben durften, Bericht hier) und der „Stimme“ Attila Csihar – legendärer Performer von MAYHEM, häufiger Gast bei SUNN O))) sowie veredelndes Organ bei Einspielungen von u. a. KEEP OF KALESSIN, SHINING (S), SKITLIV, ULVER, WATAIN oder NUNFUCKRITUAL.
Ein paar wenige Shirts solcher Formationen konnte man in der halbierten Batschkapp entdecken – zum großen Teil jedoch stand ein Publikum im Saal, das eher aus der Musiktheaterecke zu kommen schien und daher ebensoviel Crossover-Potential auslebte wie die wenigen Headbanger am Start. Interessante Gespräche offenbarten sich da beim Getränke holen, etwa wenn nach dem Studium des Kapp-Programms zugegeben wurde, dass man außer Moses Pelham darauf eigentlich niemanden kenne – und selbst bei dem war man sich nicht sicher: „Ist das nicht dieser Sänger aus dem Fernsehen?“ Schnell aufkommendes Augenrollen meinerseits wurde augenblicklich wieder bekämpft. Hatte ich vor diesem Abend von Bernhard Gander gehört? Eben.
Letztlich konnte niemand ahnen, was nun auf alle zukommen würde – weder das Feuilleton-Publikum noch die Avantgarde-affinen Metal-Fans. Csihar saß am linken Bühnenrand, wie üblich maskiert – diesmal mit einer Gesichtshaube, welche keine Schlüsse auf mimische Verrenkungen zuließ. Kabel, Platinen sowie andere Bausteine aus dem Elektromarkt erinnerten an eine moderne Version des Geschöpfes von Frankenstein – einer der Klassiker aus der literarischen Geschichte der künstlichen Intelligenz. Neben ihm das zueinander geneigte Ensemble. Hinter diesem der „Extreme Metal Drummer“ Flo Mounier mit seiner gigantischen Batterie hinter einer enormen Plexiglaswand – vergleichbar denen, die man gegenwärtig an Supermarktkassen und noch besetzten Serviceschaltern findet. Ein Schutz für die Streicher und Bläser des Ensembles, damit die sich noch selber hören können, ließ ich mir erklären.
Vor allen stand der Dirigent Brad Lubman, der ebenso wie das ENSEMBLE MODERN weltweit agiert und darüber hinaus auch als Komponist bekannt ist. Etwa eine Stunde lang wurden dynamische Riffs von den Streichern rausgehauen, vor kraftvoller Rhythmik und lieblichen bis hektischen Bläsern. Faszinierendes Zeug, welches sich (zumindest mir) nicht in der gedachten Form offenbarte, aber erstmal ziemlich cool klang.
Und dazu Attila, der erst sitzend, im Laufe der Darbietung jedoch immer extrovertierter am Bühnenrand herumwuselnd Geräusche von sich gab, Wortfetzen sowie Beiträge aus dem Evangelium des Johannes. „Apokalyptische Zitate aus der Bibel und endzeitliche Gedanken“ vermerkt das Programmheft dazu, letztere aus dem Schädel Csihars kommend. Mit seinen Pommesgabelgrüßen an den MAYHEM-Fan in der ersten Reihe sowie seinem teilweise zum Schmunzeln animierenden Gebaren sorgend für Gesichter, denen die Frage ebendort stand, ob der Typ das da gerade wirklich ernst meint. Und das bezieht sich nicht nur auf die Gäste im Saal, sondern auch auf die Mitstreiter des ENSEMBLE MODERN.
„Im Ergebnis ist Oozing Earth Ganders Entwurf eines klanglichen Endzeit-Panoramas“, beschreibt das unerlässliche Programmheft. Klang fantastisch und machte ebenso Novizen wie mir extrem viel Spaß. Außerdem fast schon prophetisch, wenn auch ohne „KI“. Exakt eine Woche nach dieser Premiere schlossen die Schulen wegen der andauernden Pandemie. Fans der Johannes-Offenbarung wie die Zeugen Jehovas hörten den ersten Engel die Posaune blasen und verschwanden dabei wenigstens dankenswerterweise aus dem Stadtbild. Auf Tonträger wird dieses Werk erst zum Ende des Jahres zu hören sein, bei YouTube und am Ende dieses Berichts gibt es jedoch einen vollständigen Mitschnitt.
Metal vs. Ambient hieß die Chose jedoch, und der halbstündige Ambient-Part folgte noch. Helge Sten, bekannter vielleicht unter seinem Alias DEATHPROD, war der Elektroniker des Abends und vereinigt Fame unter anderem durch seine Mitwirkung bei den norwegischen Improvisationsmeistern SUPERSILENT (mit Arve Henriksen) und als Produzent von MOTORPSYCHO und Jenny Hval. Er ist verheiratet mit der Sängerin Susanna Wallumrød und produzierte 2013 mit ihr sowie dem LED ZEPPELIN-Bassisten John Paul Jones eine EP. Außerdem komponiert er Neue Musik mit Instrumenten, von denen ich bisher noch nie gehört habe. Stens Komposition für ein verkleinertes ENSEMBLE MODERN nennt sich „Utopias“ und bot ein faszinierendes Klangschauspiel mit Streichern sowie Sten selbst am „modularen Buchia-Synthesizersystem“. Im Gegensatz zu den auch in der Rockmusik zahllos auftretenden Moog-Synthesizern wird dieses nicht mit klavierähnlichen Tasten gespielt, sondern durch „berührungsempfindliche Sensorfelder“.
Ehrlich gesagt klang das in meinen Ohren noch viel geiler als das vorher lautstark vernommene – als eher leises, atmosphärisches Stück trieb es aber die Kuttenträger nach kürzester Zeit aus der Kapp, in der ich mir bei dieser Art des Musikgenusses einen Stuhl gewünscht hätte. Optisch machte es nicht viel her, wie Sten über seinen Sensoren kauerte und mit den Streichern interagierte. Dabei ist DEATHPROD der Krach nicht fremd – sein letztes Werk „Occulting Disc“ ist zum Teil noisy as fuck und laut eigener Aussage ein „anti-fascist ritual“ vom teilweise Derbsten (mehr dazu hier). So gab auch ich mich der Müdigkeit hin und verließ kurz vor dem Ende den Riederwälder Kulturtempel, der den Begriff diesmal zu 100 Prozent ausfüllte. Hätte ich geahnt was auf uns zukommt – ich wäre gern noch länger geblieben.
Links: https://www.ensemble-modern.com/, https://www.facebook.com/EnsembleModern, https://www.last.fm/de/music/Ensemble+Modern, https://www.bernhardgander.at/, https://www.facebook.com/people/Bernhard-Gander/, https://www.last.fm/de/music/Bernhard+Gander, https://deathprod.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Deathprod
Text & Fotos: Micha
Clip: am Konzertabend aufgenommen von Ensemble Modern
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