Jahrhunderthalle, Frankfurt, 24.11.2015
In seinem JUDAS PRIEST-Bericht hat Kollege Marcus jüngst in diesem Blog kundgetan, warum ein PRIEST-Konzert für ihn einen Pflichttermin darstellt und eines von MOTÖRHEAD nicht. Seine Argumente sind nicht von der Hand zu weisen – Bandboss Lemmy Kilmister (rechts) wird kommenden Heiligabend 70, sein Zigaretten-, Schnaps- und Sonstwas-Konsum ist Legende und die Konsequenz daraus erleben er und seine Bewunderer seit einigen Jahren: Die Rock-Ikone wackelt gesundheitlich, bricht Tourneen ab, weigert sich aber in den verdienten Ruhestand zu gehen und prügelt weiter (kurioserweise) hochklassige Alben ein. MOTÖRHEAD sind auch den hippen H&M-Kids als Shirtmotiv bekannt, selbst, wenn diese deren Musik nicht kennen. Eine erstklassige Marke und saucoole Persönlichkeit, die sogar im fortgeschrittenen Alter noch akzeptabel musizierfähig ist – eine bessere Alternative als frühen Tod zum Kult gibt es nicht. Das wussten nicht nur die Massen von Menschen, die an einem saukalten Vorwintertag die Frankfurter Jahrhunderthalle füllten, sondern auch die Vorbands, die ebenfalls schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, mit MOTÖRHEAD befreundet sind und einem ähnlichen Kult vorstehen. Die erste, die um 19 Uhr auf der Bühne erschien, war GIRLSCHOOL.
Fairerweise hat das Damenquartett, welches landläufig als weibliche Version von MOTÖRHEAD erachtet wird, trotz ebenso langer Lebensdauer keinen ähnlichen Kultstatus inne wie der Headliner des gestrigen Abends – dazu haben sie in der Vergangenheit zu viele Schrottalben produziert. Auch das Aktuelle soll dazu zählen – ich habe es bisher nicht gehört, also keine Ahnung. Als Opener dieses Packages hatten sie aber sowieso nur 30 Minuten Spielzeit, was sollten sie denn schon groß machen? Also fingen sie an mit „C’mon Let’s Go“, dem legendären Reißer der 81er-Scheibe „Hit And Run“ und endeten mit „Emergency“ vom 1980er-Debüt „Demolition“, welches die Band auch schon als HEADGIRL mit MOTÖRHEAD zusammen aufgenommen hat.
Dazwischen ein bisschen was von Allem, gut gespielt, aber zuwenig, um Stimmung aufzubauen. GIRLSCHOOL waren schon zigmal als Vorband im Rhein/Main-Gebiet (ist eine Weile her, zugegeben) und so gut wie nie als Headliner. Bis auf diesen einen Auftritt im Frankfurter Sinkkasten (jetzt und vorher: Zoom), den die VENOM’s Legions veranstalteten und der ein jahrzehntelanges Metal-Verbot in diesem Club nach sich zog (13.10.1986 – Kult ist hier noch untertrieben!). So oder ähnlich würde ich diese Combo noch mal sehen wollen. VENOM haben einen Song über Bands wie sie selbst, GIRLSCHOOL oder MOTÖRHEAD geschrieben: „Long haired Punks“. Passt. Davon war in dieser halben Stunde aber nichts zu merken.
Nun ist die Halle ja auch nicht gerade eine Stimmungskanone, aber was soll man machen, wenn so viele Leute auf solche Bands steil gehen? SAXON, die MOTÖRHEAD-Buddies mit mehr Metal im Sound als das Rock’n’Roll-Trio, als das Lemmy seine Jungs gerne sieht, sind vielleicht weniger cool, aber in meiner Welt (fast) genauso anbetungswürdig wie der Headliner des Abends. SAXON verkauften schon die Offenbacher Stadthalle aus, spielten aber auch oft in Locations wie der Offenbacher Hafenbahn, dem Colos-Saal in Aschaffenburg oder der Antagon-Halle in Frankfurt-Fechenheim. Und die Konzerte waren immer – ich wiederhole: IMMER – großartig. Auch, wenn die Musik sich von der MOTÖRHEADs stark unterscheidet, weil sich SAXON mehr am keltischen Ritterleben orientieren und damit mehr Metal sind als die punkigen Schwermetallrock’n’roller. Beide eint jedoch ihre Bodenständigkeit.
Mit MOTÖRHEAD waren SAXON oft auf Tour, hatten auch schon ähnliche Beleuchtungsgimmicks (MOTÖRHEAD den Bomber, SAXON den Adler) und einmal, auf der „Bombers & Eagles“-Tour 1992, da gab es sogar beide am selben Abend. Davon war dieses Jahr aber nichts zu spüren – SAXON waren Special Guest, kein Co-Headliner. Deswegen auch nur 45 Minuten Spielzeit und eine Konzentration auf die größten „Hits“ – Sänger Biff Byford ließ das Publikum entscheiden, ob es „Dallas 1pm“ hören wollte (ein Weltklassesong) oder das chartorientierte, langweilige „Crusader“. Naturgemäß war bei „Crusader“ das Gegröle größer, weswegen qualitätsbewusste Fans den Titel als Pinkelpause nutzten. Was sie dann vorfanden, sah so aus und war wieder Beleg dafür, dass es bei zwei Bands ratsam ist, die Toiletten zu meiden – bei MOTÖRHEAD und bei AC/DC. Da beide Combos aber mit alkoholischen Vorverstärkern noch geiler kommen, werden uns solche Anblicke auch in Zukunft nicht erspart bleiben. Und für „Dallas 1pm“ müssen SAXON halt nochmal wiederkommen, was bestimmt geschehen wird.
Bei MOTÖRHEAD kann man sich darüber weniger sicher sein, was einige, glaubt man den Gerüchten aus dem Netz, besonders zum Konzertbesuch zwang. Sei es, weil MOTÖRHEAD ihre „vielleicht letzte Tour“ spielen. Oder weil sich viele erhoffen, Lemmy tot umfallen zu sehen, um damit angeben zu können, auf seinem letzten Gig gewesen zu sein. Das ist perfide und widerlich, aber liegt wohl in der Natur des Menschen. Ausgefallene Shows in jüngster Vergangenheit heizten solch einen Konzertbesuchsmissbrauch weiter an; und kurioserweise fällt ein paar Tage nach Frankfurt tatsächlich der Auftritt des Trios in Berlin aus. Dieses Mal allerdings nicht wegen Lemmy, sondern weil Gitarrist Phil Campbell in eine Klinik musste. Warum, war zum Zeitpunkt dieses Schreibens noch unklar.
Wie war also das MOTÖRHEAD-Konzert? Liest man die Setlist, dann: formidabel. Hat man genau zugehört, wie Lemmy klang und gesehen, wie er aussah, dann: Oje. Vielleicht ist das unfair – im Country, im Jazz und in vielen anderen Musikstilen kann man in Würde altern und auch im harten Rock sollte das eine Option sein. Aber Lemmy wirkte alt nicht im Sinne von „erfahren“ sondern alt im Sinne von „Schluss. Schon Dich.“ Ein Ziehen der Reißleine, ähnlich wie es die JUDAS PRIEST-Frontröhre Rob Halford für sich in Anspruch nimmt und nur noch mit Pausen tourt, sei ihm hiermit derbstens empfohlen – auch wenn klar ist, dass er sich aus purer Langeweile nicht daran halten wird. Die Metalwelt würde sich aber wünschen, dass er noch eine Weile unter uns weilt und sich den Tourstress erspart. Und ich? Ich konnte die Einschätzung des Kollegen Marcus inzwischen teilen. Doch als ich die Halle verließ war die Vorfreude auf den nächsten Termin mit „Dr. Rock“ bereits wieder präsent. Schon im Februar 2016 in Offenbach, wenn nichts dazwischen kommt. Kreuzen wir die Finger.
Setlist: Bomber / Stay Clean / Metropolis / When The Sky Comes Looking For You / Over The Top / The Chase Is Better Than The Catch / Lost Woman Blues / Rock It / Orgasmatron / Doctor Rock / Just ‚Cos You Got The Power / No Class / Ace Of Spades // Whorehouse Blues / Overkill
Links: http://www.girlschool.co.uk/, https://www.facebook.com/girlschoolband, https://myspace.com/girlschool1, http://www.last.fm/music/Girlschool, http://saxon747.com/, https://www.facebook.com/saxon, https://myspace.com/planetsaxon, http://www.last.fm/music/Saxon, http://imotorhead.com/, https://www.facebook.com/officialmotorhead, https://myspace.com/motorhead, https://www.reverbnation.com/motorheadofficial, http://www.last.fm/de/music/Motörhead
Text, Fotos (GIR) & Clips: Micha / Fotos (MOT): Kai
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