Colos-Saal, Aschaffenburg, 24.09.2013
Frankreich, Jordanien und Israel: Aus diesen drei Ländern kommen die vier Formationen, die gestern abend im Aschaffenburger Colos-Saal aufspielten. Alle sind im weitesten Sinne dem „Progressive-Metal“ zuzuordnen – und wer damit ambitionierten Songaufbau mit artistischen Griffbrettbearbeitungen assoziiert, liegt nicht ganz falsch. Auch nicht damit, dass das sogenannt „progressive“ in dieser Musik eigentlich ein alter Hut ist und bestimmt nicht mit Innovation verwechselt werden darf. Aber die Headliner ORPHANED LAND (Fotos rechts und unten) aus Israel sind ideologisch mehr als innovativ, dazu noch äußerst tanzbar und überhaupt eine ziemlich geniale Band.
Doch zuerst waren zwei Acts aus Frankreich am Start. Von denen verpasste ich allerdings einen komplett, weil er schon fertig war, als ich gegen 20 Uhr im Colos-Saal aufschlug. Die weiß getünchten THE MARS CHRONICLES, die sich zumindest nach einem tollen Buch benannt haben, blickten mich erwartungsvoll vom Merchstand an, als ich den Laden betrat und enttäuscht hinterher, als ich zuerst meiner Leidenschaft nach exquisitem Braugut frönte und ein Schlappeseppel orderte. Ach, ich liebe Aschaffenburg…
Nach einem kurzen Schluck standen schon die Landsmänner von KLONE auf der Bühne. Von denen hatte ich noch nie etwas gehört, musste mich also auf meinen Live-Eindruck verlassen, auch wenn ich das später vielleicht bereuen
sollte. Und dieser Eindruck lautete: verzichtbar. Die 1995 gegründete Combo, die auch schon mal einen Saxophonisten gehabt haben soll (den ich aber nicht gesehen habe) machte die Art von Prog-Metal, die sich mir nicht auf Anhieb erschließt – und zwar nicht, weil sie in ihrem Songaufbau so furchtbar diffizil ist, sondern weil ihre etliche Male gehörte Progressivität einen Anachronismus darstellt. Was radiotaugliche Hooklines mit Prog zu tun haben, wird wohl ewig ein Geheimnis der Freunde dieser Musikrichtung bleiben. Vielleicht sehe ich die Sache anders, wenn ich mir zu Hause mal ein paar Platten von KLONE antue – live haben sie mich aber so gelangweilt, dass das auf meiner Prioritätenliste weit unten steht.Der nächste Act des Abends, BILOCATE, wirkte auf mich schon origineller, allein schon aufgrund ihrer Herkunft aus Jordanien. Da lässt man sich nicht einfach so die Haare wachsen, näht Patches auf die Jacke und propagiert Anti – in Jordanien (wie in vielen muslimischen Ländern) ist alles, was wir hier bei Rockstage Riot bis zum Umfallen und voller Leidenschaft zelebrieren, verboten.
Der Satanismus-Vorwurf wird dort nicht konsequenzlos von gelangweilten Hausfrauen erhoben, sondern vom Staat, was Repressalien der übelsten Art einschließt. Dass der Vorwurf in fast allen Fällen absurd ist, steht dabei noch mal auf einem anderen Blatt: Die meisten Metalbands im arabischen Raum bekommen keinen Ärger, weil sie so drauf sind wie WATAIN, sondern schon wenn sie so drauf sind wie BLIND GUARDIAN.
Wenn eine Gruppe mit so einem Hintergrund Metal spielt, der keinen Innovationspreis gewinnt, ist das ganz anders zu bewerten als bei einer Band aus Frankreich, die vergleichbaren Einflüssen und Möglichkeiten ausgesetzt ist wie wir hier in Deutschland. Dabei fand ich BILOCATE nicht nur wegen ihres Exotenbonus sehr ansprechend, sondern weil mir ihre homogene Mischung aus Prog-, Death- und Gothmetal auch ganz gut gefällt. Allerdings vermisse ich bei ihnen die nur äußerst dezent vorhandenen orientalischen Einflüsse. Das ist zwar nicht deren Problem, sie können ja spielen was sie wollen, und wenn es Country wäre. Ich stehe aber auf arabische Musik und freue mich immer, wenn man einer Band aus diesen Regionen ihre Herkunft auch anhört.
Das funktioniert bei BILOCATE nur bedingt, dabei gaben sie aber ein sphärisches Düstermetal-Paket mit PARADISE LOST-Cover, welches durchaus ansprechend war. Sänger Ramzi Essayed signierte anschließend noch die einzig mitgebrachte CD, „Sudden Death Syndrome“ von 2008. Warum
das neueste Album nicht vor Ort war? Keine Ahnung. Ausverkauft? Würde mich wundern, wenn auf der ganzen Tour so wenig Leute waren wie in Aschaffenburg. Der Publikumszuspruch war mit „überschaubar“ noch freundlich bewertet, was für Bands und Veranstalter schade war, mir den Weg zwischen Bühne und Schlappeseppel jedoch sehr erleichterte.Wenn ORPHANED LAND in der Türkei auftreten füllen sie angeblich Stadien, weil die Israelis extrem viele muslimische Fans aus dem arabischen Raum haben, die nicht nach Israel reisen können und ORPHANED LAND nicht in
Syrien, Jordanien oder in anderen arabischen Ländern auftreten kann. Aschaffenburg scheint kein Reiseziel für Metalfreunde aus dem nahen Osten zu sein und anscheinend noch nicht mal eines aus der Nachbarschaft – die wenigen Gestalten, die altersmäßig trotzdem eine bunte Mischung darstellten, hätten noch nicht mal das Nachtleben gefüllt.Frontmann Kobi Farhi (links), barfüßig und mit einem Einteiler bekleidet, wies das Publikum darauf hin, dass er „nicht Jesus ist“, obwohl er so aussieht und auch ähnliche Inhalte predigt. Danke dafür, das hätte sonst ins Auge gehen können bei der Berichterstattung. Im Gegensatz zu BILOCATE hört man bei ORPHANED LAND viele orientalische Instrumente, die aber leider vom Band kamen oder sonstwie abgerufen wurden – auf der Bühne stand Metal as usual. Gerne würde ich die Band mal sehen, wie sie live alle Klänge fabriziert, die man von ihnen zu hören bekommt. Mit ihrer folkloristischen Ausrichtung würden sie auch sehr gut ins Paganfest-Billing passen, falls die Fans des dort vertretenen Folk-Metal auch Folk goutieren, der nicht keltischen oder nordischen Ursprungs ist.
Inhaltlich erzählen uns ORPHANED LAND etwas über die Gemeinsamkeiten der monotheistischen Religionen, was für einen Kirchenaustreter wie mich
überflüssig ist, in einer Region voller religiöser Fanatiker, die friedliches Zusammenleben erschweren bis unmöglich machen, jedoch ein nicht zu unterschätzendes Politikum darstellt. Darüber hinaus fördert Farhi orientalische Metalbands, indem er sie mit auf Tour nimmt oder Sampler produziert (Beispiel hier).Der Teufel macht ja angeblich immer die bessere Musik (und ich blicke mit Verzückung dem WATAIN-Konzert im Dezember entgegen), aber ORPHANED LAND sind gute Jungs mit einzigartiger Musik, die besonders live sehr gut funktioniert und Laune macht. Dass sie darüber hinaus nett und fanfreundlich sind bewiesen sie mit Smalltalk und Autogrammen nach der Show, die sich aus Songs der letzten drei Alben speiste. Toller Abend, gerne wieder. Wem das jetzt alles zu p.c. ist, noch mehr in den orientalischen Metal-Underground abtauchen und auch richtig fieses Zeug finden möchte, sollte sich mal hier umsehen.
Links: http://www.orphaned-land.com/, http://www.lastfm.de/music/Orphaned+Land, http://www.bilocate.net/, https://myspace.com/bilocate, http://www.reverbnation.com/bilocate, http://www.lastfm.de/music/Bilocate, http://www.klonosphere.com/klone/, https://myspace.com/klone, http://www.reverbnation.com/kloneofficialpage, http://www.lastfm.de/music/Klone
Text & Fotos: Micha
Clip: am Konzertabend aufgenommen von zusatzadresse
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