Colos-Saal, Aschaffenburg, 16.04.2014
Wenn ich mal Revue passieren lasse, über welche Bands ich in diesem Blog bis jetzt geschrieben habe, dann wird mir bewusst, dass sich in den letzten Jahren mein Geschmack extrem verändert, bzw. erweitert hat. Brauchte ich früher immer auch die Abgrenzung zu diversen Genres als Teil meiner musikalischen Identifikation, so weichen ehemalige Feindbilder nun immer mehr auf und erlauben einen weitaus differenzierten Zugang zu Musikrichtungen, den ich mir vor Jahren so nicht gestattet hätte. Dabei gehörte ich nie zu den Hardlinern unter den Fans – ich mochte schon immer diverse Stile auf Rock’n’Roll-Basis, die für andere in den 80ern nicht zusammen gingen; auch noch zwei bis drei, die mit Rock’n’Roll wenig bis nichts zu tun haben – aber wichtig waren auch immer die Stile, die von vornherein oder größtenteils abgelehnt wurden. Bei mir war das, bis auf ganz wenige Ausnahmen, der Prog.
Klar, alte PINK FLOYD vor der „Wall“ gingen schon. Aber wenn ich mir vorstellte, welche Kids z. B. auf GENESIS oder YES steil gingen – da wollte ich musikalisch nicht dazu gehören. Schon gar nicht, wenn sogenannter Prog durch
sogenannten AOR verwässert wurde: „Prog“ wie progressiv, „AOR“ wie adult-orientated-Rock; „fortschrittlich“ und „erwachsen“ also. Bitte, wenn amerikanischer Kommerzrock wie KANSAS, STYX oder REO SPEEDWAGON das sein soll, dann bleibe ich gern unreif und fortschrittsfern und beim Metal, beim Punk und anderen musikalischen Ausdrucksformen der Straße. Soweit meine Weltsicht von vorgestern.Jahrelang existierte Prog-Rock für mich in einer Nebendimension. Selbst als Metalfan hielt ich mich von den Combos fern, die unter „Prog-Metal“ subsummiert werden – Bands wie DREAM THEATER etwa. Nicht, weil ich
allergisch auf Musikanten reagiere, die ihr Instrument beherrschen, sondern weil ich es schrecklich finde, wie uninteressant und nichtssagend solcherart beherrschte Instrumente klingen können. Eine erste Irritation erfuhr ich, als immer mehr junge Bands aus Musikrichtungen mit dem Prog flirteten, die für mich ursprünglich als bodenständig und einfach, aber mit größtmöglicher Relevanz galten – Richtungen wie Punk, Death- und vor allem Black Metal. Musiker, die meine Kinder sein könnten und mit dem Progfan an sich nicht den bebrillten, spaßfreien Nerd assoziierten, der in der Klasse neben mir saß und wahrscheinlich ein Vermögen in einer Computerfirma verdiente, später.„Prog is the new Punk“ hieß es sogar mal irgendwo – Bands wie AT THE DRIVE IN (proggiger Punk, bzw. Hardcore) oder SOLEFALD (proggiger Black Metal) offenbarten mit ihren mangelnden Scheuklappen ein Avantgarde-Bewusstsein,
das ich endlich auch mal selber an den Tag legen und mich vorurteilsfrei mit dieser Musik auseinander setzen sollte. Ich begann, das Magazin Eclipsed zu lesen und fand, obwohl ich die Hälfte der beschriebenen Bands immer noch blöd finde, stetig mehr interessante. Eine davon (und damit endet das Ego-Intro endlich) ist die polnische Formation RIVERSIDE.RIVERSIDE existieren seit 2001, sind seit 2002 auf Tour und gastieren seit 2005 auch in Deutschland, dabei in selbigem Jahr erstmals beim Eclipsed-Festival im Aschaffenburger Colos-Saal – Band, Heft und Location haben also schon eine
längere, gemeinsame Geschichte. Auch im Rüsselsheimer Rind gastierte die Gruppe schon oft, nur in Frankfurt selber war sie noch nicht. 2013 erschien ihr fünftes Studio-Album „Shrine of New Generation Slaves“ (S.O.N.G.S.), die dazu gehörende Rundreise startete ebenfalls – und da Menschen, die ich ernst nehme, die Band sehr empfahlen schaute ich mir RIVERSIDE letztes Jahr in der Central Station in Darmstadt an. Und war ziemlich begeistert.Deswegen musste auch der (Fast)- Abschluss der aktuellen Tour in Aschaffenburg besucht werden, knapp 13 Monate später (ein paar wenige Shows im Heimatland Polen folgen noch). Im Vorprogramm präsentierten sich die Landsleute von VOTUM (rechts), die einen ähnlichen konzeptionellen Ansatz verfolgen wie RIVERSIDE – sprich: Ein albumbeherrschendes, textliches Thema; diffizile, aber stimmige Arrangements und eine Dynamik, wie man sie auch vom melodischen Death Metal der schwedischen Schule her kennt. Bei VOTUM klang das sehr gekonnt, sehr atmosphärisch, sehr einlullend und damit auch ein wenig steril und zahnlos. Nicht, dass meine alten Animositäten wieder zum Vorschein gekommen wären (dafür haben mir und den meisten Anwesenden VOTUM zu gut gefallen), aber zwingend ist das für mich nicht, weder live noch auf Platte. Vom aktuellen, dritten Studioalbum „Harvest Moon“ wurden fünf Stücke gegeben sowie ein weiteres; am 3. Mai spielt die Band, die mit Bartosz Sobieraj einen neuen Sänger am Start hat, noch einen Headliner-Gig im Rüsselsheimer Rind.
RIVERSIDE beeindruckten mich 2013 und 2014 live weitaus mehr. In erster Linie, weil sich die Band um Styling überhaupt keinen Kopf zu machen scheint und sich auf das Entscheidende konzentriert, nämlich amtlich Musik zu fabrizieren.
Zum anderen, weil trotz aller komplexen Arrangements hier eine Spielfreude vorherrscht, die ihresgleichen sucht. Songs von 12 Minuten Länge aufwärts können eben, wie bei YES, in ermüdendes Griffbrettgewichse ausarten, so dass der doktorhut-tragende Connaisseur beeindruckt sitzend applaudiert, oder aber als eine bewegungsreiche Party inszeniert werden, bei der Kopf, Beine und Herz gleichermaßen angesprochen werden.RIVERSIDE rocken, meine sehr verehrten Leser. In Darmstadt wurde in Zitat und Sound öfter an DEEP PURPLE zu ihren besten Zeiten erinnert; in Aschaffenburg wurde der polnische Avantgardist Krzysztof Komeda mit dem
Leit-Motiv des von ihm komponierten Film-Scores „Rosemary’s Baby“ zitiert. Besonders Keyboarder Michał Łapaj war nonstop am Flirten und Faxenmachen, aber auch Sänger, Bassist und Bandboss Mariusz Duda und Gitarrist Piotr Grudziński wurden zunehmend lockerer und entspannter; scherzten, dirigierten den Lautstärkepegel im Publikum, schmissen sich in Discoposen und wollten gar nicht mehr aufhören zu spielen.Die Setlist unterschied sich leicht von der letztjährigen in Darmstadt (Schwerpunkt auf dem aktuellen Album, aber auch überlange Oldies wie „Second Life Syndrome“). Begeistert waren die Gäste am Ende beider Shows; doch war der Aschaffenburger Auftritt eine Spur entfesselter und großartiger. RIVERSIDE haben sich ihre Fangemeinde erspielt, es wird Zeit, dass Ihnen noch ein paar Leute mehr, außerhalb des eingeweihten Progzirkels, zuhören. Diese Band ist nämlich ziemlich großartig.
Links: http://www.votumband.pl/, https://myspace.com/votumband, http://www.reverbnation.com/votum, http://www.last.fm/music/Votum, http://www.riversideband.pl/en/, https://myspace.com/riversidepl, http://www.reverbnation.com/riversidepl, http://www.lastfm.de/music/Riverside
Text, Fotos & Clip: Micha
Mehr Bilder: