Tilburg/Frankfurt, 18. April 2021
Hier der dritte und letzte Teil unserer Berichterstattung zum Roadburn Redux 2021 über den Festival-Sonntag.
Wem das bisher alles nicht freaky genug war, durfte sich einen Teil der Nacht von Samstag auf Sonntag mit Unterstützung eines weiteren Kollektivs aus Belgien um die Ohren schlagen. Eines, gegen das die Band WOLVENNEST wie ein Haufen geerdeter Punks wirkte: NEPTUNIAN MAXIMALISM, laut dem britischen Künstler, Musiker und Autoren Genesis P-Orridge eine „Gemeinschaft kultureller Ingenieure“ um den Multiinstrumentalisten Guillaume Cazalet (zu hören hier) sowie dem freien Improvisateur am Saxophon Jean-Jacques Duerinckx (hier). Ihr mehr als zweistündiges Werk „Éons“ besteht aus drei Kapiteln, die der Erde, dem Mond und der Sonne gewidmet sind – beim Roadburn konzentrierte sich die Mannschaft mit neun Musizierenden wohl auf den Mond und addierte neues Material.
Ein Rezensent auf den Babyblauen Seiten, sowas wie die deutsche Online-Prog-Bibel, beschreibt das Konzept des Albums bzw. der ganzen Formation wie folgt: „es (geht) um das Ende des Anthropozäns, also des vom Menschen bestimmten Erdzeitalters (…), welches durch das Probozän abgelöst wird. In diesem neuen Zeitalter wird die Erde nach dem Untergang der Menschheit von superintelligenten Elefanten beherrscht“. Nun ja. Belege für die Interpretation fand ich sonst nirgendwo, aber nach den Preisungen an Mutter Erde bei TAU am Donnerstag und dem Treffen des „Aal im großen Wagen und der Bär im siebten Haus“ bei DIE WILDE JAGD am Samstag überraschte mich gar nichts mehr.
Während auf „Éons“ menschliche Stimmen nur als Soundkulisse am Rande vorkommen, begann die Roadburn-Performance der Gruppe aus einer gemeinsamen vokalen Lautmalerei, die man durchaus als Chor definieren kann. Anschließend wurde es tribalistischer, angepeitscht durch die Kraft der zwei Drumsets. Drones, Saxophon-Linien sowie Saiteninstrumente fügten sich zu einem fulminanten Samstag-Nacht-Trip, der obskur begann und irgendwann nicht mehr aufhören wollte zu faszinieren.
Liest man Rezensionen zu „Éons“ oder dem neuesten Werk „Solar Drone Ceremony“ (Ein Stück drauf. Dauert 53 Minuten.) scheint das für viele noch Metal im weitesten Sinne darzustellen – was für eine sehr offene Definition davon spricht, die mir persönlich zu weit gehen würde. Aber wer braucht solche Definitionen? Wer seine Irritationen überwand wurde mit einem fulminanten Trip belohnt, der den Samstag würdevoll wie beseelt am frühen Sonntag Morgen ausklingen ließ.
Ausschlafen, frühstücken, sogar duschen war am Sonntag durchaus drin, richtig los ging es erst um kurz vor 13 Uhr. Für mich nochmal zwei Stunden später. MIGHT wollte ich sehen. Kurz vorher gab es eine Video-Premiere zu bestaunen von den Schweden BLODET – „Noise/Post-Rock from Northern Sweden“, so die Selbstbeschreibung. Ursprünglich eine instrumentale Formation, verstärkt man sich inzwischen mit Vokalistin Hilda Heller und stellte kurz mal per Filmchen einen neuen Song namens „Vision“ vor. Die EP dazu kommt später im Jahr. BLODET klingen auch ohne Heller schon sehr ansprechend (hier) und waren passenderweise schon mit CULT OF LUNA unterwegs, mit Stimme addieren sie eine melancholische Klangfarbe, die ihren Sound noch mehr aufwertet.
Kommen wir zu MIGHT. Das Hannoveraner Duo spielte sein zu Beginn der Pandemie veröffentlichtes Debüt-Album komplett durch, welches bisher nicht live beworben werden konnte. Somit stellte der zugespielte Online-Auftritt ihren ersten Gig dar. Die Musik des Paares klingt schwer wie betörend gleichzeitig und baut Brücken zwischen Doom und Post-Rock. Bass und Gesang steuert Ana bei, Gitarre wie Schlagzeug Gatte Missu. Er wurde als Drummer aufgezeichnet und als Schatten an die Wand projiziert, während er sich selbst live an den Saiten begleitete. Das engt natürlich etwas ein – sollte es hoffentlich mal zu einer Tour kommen, verschafft ja vielleicht zusätzliches Personal mehr musikalischen Bewegungsspielraum.
MIGHT, die man aufgrund ihres von vielen Kolleg*innen gleich oder ähnlich benutzten Namens nicht auf Anhieb im Netz findet (hier), haben den Roadburn-Slot trotz ihres Debütanten-Stadiums mehr als verdient. Nicht nur, weil das Album eine zähe bis rasende Extravaganz offenbart, sondern auch, weil ihnen bereits medial übelst mitgespielt wurde: Ein (Ex-)Rezensent des Ox zerriss ihre Scheibe ohne sie gehört zu haben, worauf Ox-Boss Joachim Hiller regulierend eingriff, den Schreiber feuerte und dem Duo eine Dreiviertelseite Platz zur Selbstdarstellung gab. Gut so, auch wenn diese letztlich der Musik leider kaum Platz anbot. Das ist mit dem Roadburn nun glücklicherweise geschehen, den Auftritt kann man komplett auf YouTube nacherleben:
Coming Up: „…the most transcendental sounds to ever grace the festival“ (Dom Lawson/Metal Hammer). Der Belgier Dirk Serries war schon häufig zu Gast beim Roadburn, als Teil oder Hauptverantwortlicher von Bands oder Projekten wie YEAR OF NO LIGHT, MICROPHONICS, FEAR FALLS BURNING sowie einigen anderen. 2020 sollte er mit dem KODIAN TRIO vorstellig werden, 2021 wurde es schließlich die Auftragsarbeit „Epitaph“. Mit seinen Mitstreitern sowie engen Vertrauten Tom Malmendier am Schlagzeug und Rutger Zuydervelt (aka MACHINEFABRIEK) an der Elekronik wurde dabei vor den Augen der interessierten Welt auf der Basis einiger neuer Kompositionen aus dem einmal mehr betörend illuminierten 013 live improvisiert.
Serries, der als Berufsanfänger noch derbe Industrial-Tapes fabrizierte, erweiterte sein musikalisches Spektrum im Laufe der Jahre mehr und mehr; erforschte die Gitarre als ein Medium um Stimmungen zu transportieren und widmete sich zunehmend Ambient-Klängen sowie freien Strukturen, wie man sie im Avantgarde-Jazz um Musiker wie Derek Bailey kennt. Das Zusammenspiel der Drei war traumhaft schön, wer bei „Improvisation“ nur an kakophonische Eruptionen denkt konnte hier eine faszinierende Alternative dazu erleben.
Townes van Zandt (1944-1997) war ein einflussreicher Singer/Songwriter aus den USA, der vor allem von Musizierenden der Bereiche Folk, Country oder Americana verehrt wird. Legendär ist das Zitat von Steve Earle („Townes Van Zandt is the best songwriter in the whole world, and I’ll stand on Bob Dylan’s coffee table in my cowboy boots and say that“), der sogar seinen Sohn Justin Townes Earle nach van Zandt benannte. Dylan selbst mag die Songs von van Zandt und spielte zum Beispiel „Pancho and Lefty“. Doch auch alternativere Künstler*innen als die des „Alternative Country“ schätzen die Lieder des depressiven Meisters: Musiker wie Steve von Till (NEUROSIS), John Baizley (BARONESS) und Mike Scheidt (YOB) sind ihnen ebenso verfallen. Unter dem Titel „The Songs of Townes van Zandt“ erschienen unter deren Mitwirkung bereits zwei Alben mit Cover-Versionen aus dem Werk des Texaners, ein drittes wird bald folgen.
Während des Roadburn-Wochenendes wurden daraus erste Häppchen präsentiert, am Sonntag gab es ein Gespräch mit den am dritten Teil beteiligten Colin H. van Eeckhout (AMENRA) und Marissa Nadler, die den Klassiker „Waiting ‚Round To Die“ zum Sampler beisteuert. Technische Schwierigkeiten erheiterten die Beteiligten, beispielsweise als der Interviewer Nadler fragte, was van Zandts Songs für sie bedeuten. Als Folge war nach einem langen „Ääähh“ nur noch zu sehen, wie sie den Chat unfreiwillig verließ und der sonst weniger wegen seines Frohsinns bekannte Eeckhout fast einem Lachflash erlag. Ein schöner Kontrast zum Thema. Van Zandt selber einmal auf die Frage, warum er so traurige Lieder schreibe: „“I don’t write sad songs. I write hopeless songs.“ Ein Beispiel dafür hier. Marissa Nadler wird sich an der Version der BE GOOD TANYAS messen lassen müssen (hier), ich bin gespannt.
Noch mehr Folk, noch mehr von Svart: Zehn Jahre alt ist das Debüt der Finnen HEXVESSEL, „Dawnbearer“. Gegründet von dem hier bereits erwähnten Mat McNerney vereinigt die Band mit ihrem Stamm an Kollaborateuren britische wie skandinavische Folk-Traditionen mit weirdem Psychokram – HEXVESSEL vergleichen sich diesbezüglich auf ihrer Homepage mit COIL oder CURRENT 93. Gewandet wie die Menschen von damals, versehen jedoch mit moderner Instrumententechnik neben altertümlichen Zupfinstrumenten stehen HEXVESSEL für einen Folk-Sound, der selten gestrig anmutet.
Zugeschaltet ins Kämmerchen, in dem der fünfköpfige Nukleus der Formation agierte, wurden die wie Mat McNerney aus der Black Metal-Szene bekannten Andrew McIvor (CODE) sowie Carl Michael Eide (aka Agressor von AURA NOIR, u. a.), die passgenau ihre Einsätze tätigten. Wirklich „live“ kann das kaum gewesen sein, eindrucksvoll geriet die Session dennoch, bei der einige Stücke des Debüts erstmals unter solchen Umständen gezeigt wurden.
Einen Tag nach dem neuen Ritual als THE NEST durften WOLVENNEST noch einmal ran, um ihren gegenwärtig überall abgefeierten Longplayer „Temple“ komplett zu geben. Hier konnten vor allem die Stimmen besonders glänzen, die sich am Vortag zugunsten der Gäste vornehm zurückhielten – die faszinierende Shazzula, die mit ihrem Theremin zusätzlich zu den von ihr gespielten Keys eine besondere Atmosphäre um die ohnehin schon eindrucksvolle Psycho-Wand kreierte, sowie der musikalisch extrem umtriebige Déhà, der mit seinem ungewöhnlichen Auftreten zuweilen ungewollt komisch wirkte.
Der strenge Blick, seine mit vollem Körpereinsatz illustrierte Leidenschaft sowie die eher semi gespielte Verzweiflung bis zur Lethargie auf dem Bühnenboden wirkte manchmal wie des Guten zuviel, hatte aber auch was sehr Eigenes. Der als Olmo Lipani in Belgien Geborene hat ein Gesamtwerk vorzuweisen, das schwindelig macht – Metal Archives listet zur Zeit 24 aktive Projekte mit ihm, von denen einige jedoch ausschließlich aus ihm selbst bestehen.
Allein als Déhà stehen da 20 Veröffentlichungen zu Buche. Mit seinen sechs Mitstreiter*innen bei WOLVENNEST kreiert er einen zähflüssigen Strom aus beschwörender Heavyness zwischen okkultem Hard-Rock, psychedelischer Spulerei sowie meditativer Einkehr. Auf Platte veredelt das sonore Organ von King Dude das Stück „Succubus“, welches bei der Performance vom Band dazu gemischt wurde. Großes Kino und ein weiteres Highlight des Wochenendes.
Wie so viele. Einiges Wertvolle entging mir, welches ich nicht mehr nachschauen konnte – Stöbern auf YouTube hilft vielleicht im Einzelfall. Ob die Auftritte aus dem 013 nochmal zugänglich gemacht werden, entzieht sich bisher meiner Kenntnis. Auch die ganzen Mitmachfunktionen wie Chatten, Kommentieren oder Nachfragen ignorierte ich zugunsten einer intensiveren Beschäftigung mit den Musizierenden, bedeuteten für viele jedoch einen adäquaten Ersatz zum ausgefallenen Live-Happening (mehr oder weniger).
Ich war an diesem späten Sonntag kulturell mehr als gesättigt wie befriedigt, als DEWOLFF gegen Mitternacht noch mal für einen fröhlicheren Ausklang sorgten. Die Youngster aus den Niederlanden räumen unter Classic Rock-Fans gerade schwer ab, waren vorher noch nie auf dem Roadburn und passten nach meiner Wahrnehmung auch nicht da rein – als erste und einzige Band von denen, die ich sah. DEWOLFF sind in meiner Welt eher Rockpalast als Roadburn – das Grenzüberschreitende der anderen beschriebenen Acts geht ihnen komplett ab.
Auf solide gespielten Hardrock hatte ich nach diesem bewusstseinserweiternden Wochenende keinen Bock mehr und auch allgemein gesehen eigentlich immer weniger. Das Alter, am End‘. Bleiben zum Schluss die von den Roadburn-Machern veröffentlichten Zahlen zum Festival, wonach 78.937 Besucher sich insgesamt 247.872 Videos anschauten. Über 2000 Menschen spendeten 56.143,49 Euro, was eine Wiederholung im nächsten Jahr vereinfacht. Nach den USA und den Niederlanden schauten die meisten Menschen aus Deutschland zu (8000 +).
Roadburn Redux bot unter dem Strich einen fast schon adäquaten Ersatz für das ausgefallene Live-Event, zumindest wenn man wie ich nach 14 Monaten fast komplett vom Konzert-Geschehen abgekoppelt ist und im echten Leben gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, das Festival zu besuchen. Der Aufwand, dieses Happening zu stemmen, muss enorm gewesen sein – die technische Umsetzung war ausgezeichnet, das Angebot formvollendet und das Line-Up, wie die Band KNOLL auf Twitter anmerkte, „sick“.
Dass man auch komplett andere, äußerst interessante Schwerpunkte bei der Berichterstattung setzen kann, beweist eine Review hier, bei der der Rezensent jedoch zu dem von mir geteilten, korrekten Fazit kommt: „And for every single set shown, you could probably find a handful of commenters enthusiastically declaring that it was THE BEST OF THE WHOLE FESTIVAL. They were right only if they awarded that honour to SOLAR TEMPLE“ (Owen/Echoes & Dust). Indeed.
Da wir bei einem Online-Konzert logischerweise nicht selbst fotografieren können, verwenden wir für diesen Post Footage aus den Live-Streams der Veranstaltung. Wir veröffentlichen das Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Roadburn Festivals. Alle Fotos können durch Anklicken vergrößert werden.
Link: https://roadburn.com/, https://www.roadburnredux.com/
Text: Micha