Waldstadion, Merkers, 14.-16.06.2018
Jetzt schlägt‘s 13. Wenn das mal kein gelungener Auftakt war: Das Rock am Berg im thüringischen Merkers – nur knapp etwas mehr als zwei Autostunden von Frankfurt entfernt – ging in seine 13. Runde und legte einen Raketenstart hin, von dem selbst unser Mann im All Alexander Gerst nur träumen kann: Auch ohne Feiertag war es am Donnerstagabend schon rappelvoll, die besten Zeltplätze bereits am Nachmittag vergeben und von Beginn an herrschte beste Festival-Atmosphäre. Das hatte sich zwar durch den stärksten Ticket-Vorverkauf seit Bestehen des Events angedeutet, aber so richtig vorstellen konnte sich das das ebenso emsige wie rührige Orga-Team um Dirk und Sven wohl nicht. Hammer, wie die Stimmung gleich auf Festival-Temperaturen hochlief.
SCHNIPO SCHRANKE eröffneten den Reigen mit eher für das Rock am Berg-untypischen Keyboard und Piano-Klängen. Punk und Hardcore ist eigentlich die musikalische Grundausrichtung des Festivals. Aber Punk bedeutet offensichtlich für die Organisatoren auch, über den Tellerrand hinauszublicken
Waving the Guns
und mit Konventionen zu brechen. Und so treten immer wieder Bands auf, die man nicht unbedingt auf dem Rock am Berg vermuten würden: andere stilistische musikalische Ausrichtung ja, aber ganz gewiss korrekte Texte und Attitüde. Neben SCHNIPO SCHRANKE, deren Texte natürlich eher zum Zuhören anregen, waren das auch solche Acts wie WAVING THE GUNS, ein Rapper-Duo aus Rostock mit jeder Menge fetten Beats, chilligem Flow und intelligenten Rhymes
Le Fly
(selten angepasst und immer angepisst) oder LE FLY aus Hamburg, die beide am frühen Freitagabend auf die Bühne gingen. LE FLY machen St. Pauli-Tanzmusik im Big Band-Gewand mit Bläsern, Percussions und zwei Sängern. Ihr Stil: ein bunter Mix aus Rock, Reggae und Ska, der sofort ins Bein geht und absolut partytauglich ist.
Doch nochmal zurück zum ersten Festivaltag: Großen Anteil an der Sause am Donnerstagabend hatten DRITTE WAHL aus Rostock. Obwohl die Combo inzwischen auf eine 30-jährige Geschichte zurückblicken kann und gerade ihr zehntes Album veröffentlichte, war sie bis auf ein paar Sampler-Beiträge irgendwie immer an mir vorbeigegangen. Asche auf mein Haupt, denn mit ihrem Auftritt und einem Sound, der im Bereich des melodiösen Deutschpunks (in allerbesten Sinne)
Dritte Wahl
irgendwo zwischen Hamburger Formationen wie …BUT ALIVE und poppigeren Bands wie WIZO zu verorten ist, wussten sie zu begeistern. Bei ihren Hits zeigte sich das Publikum durchaus textsicher; „Fliegen“ wurde aus vielen Kehlen lauthals mitgesungen.
Nachdem sich DRITTE WAHL als erste Wahl entpuppt hatten, enterten die mit Spannung erwarteten KOTZREIZ die große Bühne. Drei Mann, drei Akkorde und Punkrock in your face: Schöne kurze 1-2-3-4-Gossenhauer und zu Musik gewordene Alltagswahrheiten wie „Montag=Scheißtag“, „Saufen“ und „Knüppelvoll“. Schön asi, aber mit Niveau und hohem Pogo-Faktor. Dass die Jungs ihre
Kotzreiz
Instrumente beherrschen, steht durch ihre Engagements in bekannteren Bands außer Frage, nur so schön rauskotzen wie bei KOTZREIZ können sie’s dort nicht. Meine persönlichen Gewinner des Donnerstags.
Moshpit bei First Blood
Der zweite Festivaltag begann für mich mit den Oi-Streetpunk-Darlings von LOS FASTIDIOS aus Italien. Das Quartett aus Verona sorgte trotz seiner recht frühen Startzeit für mächtig Bewegung vor der Bühne und jede Menge „Alerta, Alerta, Antifascista“-Rufe zwischen den Songs – kein Wunder angesichts von Hymnen wie „Antifa Hooligan“ oder „Fetter Skinhead“. Von LOS FASTIDIOS zu den oben schon erwähnten LE FLY ist es musikalisch gar nicht so weit, wenn man Ska und Rocksteady als Schnittmenge nimmt. Auch vom Schriftbild her passt’s: Wer des Alphabets mächtig ist, stellt schnell fest, dass beide Bands mit L und F beginnen. Bingo. Und auch der Übergang von WAVING THE GUNS zu EGOTRONIC machte durchaus Sinn. Hatten mich EGOTRONIC bei ihrem Auftritt vor zwei Jahren an gleicher Stelle regelrecht geflasht (ich hatte sie damals eher als Lo-Fi-Electro-Punk auf dem Schirm und bekam das volle Bandbrett mit
Los Fastidios
Gitarre, Drums und stampfenden Synthi-Beats), so war es jetzt ein Auftritt mit jeder Menge Hits, die sich in der Zwischenzeit in meine Gehörgänge gefräst haben. „Beats für die Beine und eine Message für den Verstand“ heißt es in „Raven gegen Deutschland“, einem ihrer Klassiker, zu dem Sänger Torsun im sportiven „Still not loving Heimat“-Shirt über das Podest hüpfte. EGOTRONIC sind mit ihren Texten deutlich radikaler und punkiger als so manche Hardcore-Combo in diesem Land.
Bei so viel (Ag)groove und Beats sorgten STICK TO YOUR GUNS für Kontrast-Programm.
Stick to Your Guns
NYC-Hardcore im Stil von SICK OF IT ALL oder TERROR, mit immenser Power und Punch von Musikern, die mehr in der Luft als auf den Bühnenbrettern zu sein schienen. Da war jedenfalls so viel Action, dass es für meinen Geschmack schon fast aufgesetzt wirkte.
Alle Bilder vom ersten und zweiten Festivaltag:
Den gleichen Eindruck hatte ich seltsamerweise auch bei ihren amerikanischen Landsmännern von FIRST BLOOD, die am Samstag das Abendprogramm starteten. An den Instrumenten fit und immer wieder mit richtig guten Parts in ihren rausgeballerten Hardcore-Songs mit Metal-Sprengseln und gebellten Vocals wirkten sie manchmal over the top.
All for Nothing
Dass Hardcore dieser Prägung offensichtlich nicht so 100-prozentig meins ist, musste ich auch bei den holländischen ALL FOR NOTHING feststellen, die vor FIRST BLOOD auftraten. Die Rotterdamer hoben sich durch die Vocals von Frontfrau Cindy von ihren Genre-Kollegen ab, schlugen aber in die gleiche Kerbe: Schneller Metalcore, fette Gitarren und Breakdowns, was für reichlich Bewegung im Moshpit sorgte.
Mehr gepackt haben mich da die Combos, die am Samstag den Anfang machten. GLOOMSTER aus Eisenach, neben FUCKING FACES die Hausband des Festivals, legten mit ihrem Hardcore-Punk einen fulminanten Gig mit Pyro-Einlage zum Abschluss hin. Auf ES WAR MORD hatte ich mich im Vorfeld besonders gefreut
Gloomster
und das Quintett aus Berlin konnte voll überzeugen. Nicht nur, dass da eine geballte Kompetenz an deutscher Punk-Historie auf der Bühne stand. Den Szene-Veteranen ist es auch gelungen das Beste aus Bands wie RAZZIA, VKJ oder SLIME vor ’83 herauszukristallisieren und ihre ganz eigene, schwere und düstere Version von Deutschpunk zu brauen. Exzellente Gitarrenarbeit, eine treibende Rhythmus-Sektion und die großartige Mimik von Sänger Stunk, der mit Blicken und ein
Es war Mord
wenig Fingerzeigen alleine mehr Ausdruck versprühte als so mancher Bühnen-Derwisch. Mit der NOTGEMEINSCHAFT PETER PAN gab es danach ein Wiedersehen mit alten Bekannten, da sie schon mehrfach beim Rock am Berg aufgetreten sind. Sie schüttelten einmal mehr einen absolut korrekten Punkrock-Sound mit hohem Wiederkennungswert aus dem Ärmel.
Ein weiteres Festival-Highlight gab es gleich anschließend mit DÜSENJÄGER: Flirrende Gitarren, treibender Bass, hypnotisches Schlagzeug, Akkordfolgen in Moll. Die Band steht für eine Riege von Combos, die modernen, intelligenten
Düsenjäger
Punkrock spielen, der gern auch mal als Emopunk bezeichnet wird und die ihre Wurzeln bei Formationen wie den WIPERS oder HÜSKER DÜ haben. Sehr gute Show und gelungene Einstimmung auf die Band, auf die ich mich mit am meisten gefreut hatte: TURBOSTAAT. Erfreulicherweise spielte der Fünfer aus dem hohen Norden viele ältere Songs wie „Vormann Leiss“, „Ja Roducheln“, „Nach fest kommt ab“ oder „Haubentaucherwelpen“.
Turbostaat
Dazu gesellten sich die aktuellen Nummern „Ruperts Grün“, „Abalonia“ und das uralte „Schwan“ – quasi Hit auf Hit. Dem musikalischen Feuerwerk auf der Bühne folgten echte Raketenkracher am Nachthimmel über Merkers. Insgesamt ein hervorragender Gig von TURBOSTAAT, der nur noch von ein paar Zugaben (wo waren die?) und einer Rampensau wie Monchi auf dem Podest hätten getoppt werden können. FEINE SAHNE FISCHFILET bescherten im vergangenen Jahr sicher einen der emotionalsten, stimmungsmäßig großartigsten Auftritte der Festival-Geschichte. Auch SLIME im Jahr davor brachte die Hütte zum Einsturz. TURBOSTAAT habe ich schon packender erlebt, aber das ist Klagen auf einem ganz hohen Niveau, denn es sind nur Nuancen, die aus einer sehr guten Show eine Mega-Sause machen.
Obwohl ich bei einigen Bands wegen der extrem frühen oder späten Auftrittszeiten leider passen musste, waren es drei tolle Konzertabende, an denen ich viele alte und neue Freunde und Bekannte getroffen, coole Mucke gehört und hunderte von Fotos gemacht habe. Das Drumherum mit kleiner Zeltbühne für die Aftershow-Parties, Filme, Vorträge und Acoustic-Auftritte sowie diverse Info-, Platten- und Merchandise-Stände mit Vokü und etlichen Biertheken machen das Festival zu einem der besten überhaupt. Anspruch und Attitude, Inhalte und Political Correctness (kein Platz für Rassismus, Fremdenhass, Sexismus und Homophobie), Spaß und Unterhaltung sind beim Rock am Berg im Einklang und das in einer Region, wo braunes Gedankengut öffentlich zur Schau gestellt wird, Thor Steinar-Klamotten zum Dresscode gehören und die AFD in vielen Kommunal-Parlamenten ihren Vogelschiss der Geschichte proklamieren kann. Da freut es umso mehr, dass sich das Festival eines immer größeren Zuspruchs erfreut und im vergangenen Winter mit dem Thüringer Demokratiepreis ausgezeichnet wurde. Der Temin für 2019 steht und man darf schon jetzt gespannt sein. Merkers? Merken.
Alle Bilder vom dritten Festivaltag:
Links: http://www.rockamberg-merkers.de/, https://www.facebook.com/rockamberg
Text & Fotos: Todde Sindel, https://www.flickr.com/photos/12633166
Clip: beim Festival aufgenommen von Cpt. Kiek
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