Rödelheim, Frankfurt, 25.05.2024
Acht Jahre sind ins Land gegangen, seit ich das letzte Mal – in diesem Blog dokumentiert durch Text und Bild – durch den nördlichen Frankfurter Stadtteil Rödelheim zog und einigen Protagonisten der dort stattfindenden Musiknacht lauschte. Acht Jahre, in denen viel passiert ist – unter anderem eine Pandemie, der das beliebte Event natürlich ebenso zum Opfer fiel wie viele andere Veranstaltungen. Inzwischen hat sich das Konzept der Musiknacht ein wenig verändert: Das Motto heißt zum nunmehr dritten Mal „Musik am Fluss“ und alle Konzerte finden an 15 Plätzen entlang der Nidda statt. Früher waren die Auftrittsorte über den gesamten Stadtteil verteilt, was zum Teil recht lange Wege und damit einen erhöhten Zeitaufwand bedeutete. Jetzt ist (fast) alles fußläufig zu erreichen und am Ufer des Flusses konzentriert – eine gute Idee, auch wenn nun die ein oder andere interessante Location ausgespart werden muss.
oben & rechts: Kitchen Sound am Blauen Steg
Im Line-Up der diesjährigen Ausgabe befinden sich diverse jedes Jahr auftretende Künstler, ein paar „alte“ Bekannte fehlen. Dafür ergänzen neue, noch zu entdeckende Formationen das Programm. Die Musiker müssen – das ist keine Neuerung – einen Bezug zum Stadtteil Rödelheim haben und verzichten wie gehabt auf eine Gage. Alle Organisatoren und Helfer der Festivität engagieren sich ehrenamtlich. Eintritt wird nicht verlangt, die Kosten werden über Sponsoren und städtische Zuschüsse aufgefangen.
„Umsonst und draußen“ also, was könnte es an einem sonnigen, trockenen und warmen Frühlingstag Schöneres geben? Bei mehr als 50 (!) zwischen 16 und 21.30 Uhr überwiegend im Stundentakt parallel stattfindenden Gigs gilt es
Jack Corrigall an der Tankstelle im Hausener Weg
eine gute Auswahl zu treffen: Welche Bands passen zum eigenen Musikgeschmack, welche Stationen lassen sich nacheinander abklappern, ohne aufgrund der Entfernungen zuviel zu verpassen? Das habe ich mir zuhause anhand des im Internet bereitgestellten Lageplans überlegt – Rödelheim 2024, es kann losgehen. Meine Wahl zum Einstieg um 16 Uhr fällt auf den Folk- und Americana-Musiker Jack Corrigall.
Er tritt an der am weitesten von allen anderen entfernten Stelle auf, nämlich einer stillgelegten Tankstelle im Hausener Weg. Praktischerweise liegt der Platz aber nah an der gleichnamigen U-Bahn-Station und der Bushaltestelle, sodass ich aus Richtung Innenstadt kommend bis fast vor die Tür gebracht werde. Nur noch kurz die viel befahrene Ludwig-Landmann-Straße überqueren und einmal nach rechts abbiegen, dann ist man schon da.
Im Innenhof einer Werkstatt ist eine richtige Bühne aufgebaut worden; ein paar Meter entfernt locken Speis und Trank an einem Stand zum Kauf. Die Station Nummer Eins ist einer der wenigen Punkte, an denen die Besucher während der Musiknacht umfänglich verpflegt werden, was die schon zu dieser frühen Uhrzeit bereits anwesenden etwa 30 Menschen gerne nutzen. Mister Corrigall erklimmt um 16.15 Uhr das Podest und hängt sich eine seiner Gitarren um, später wird eine Mandoline folgen.
Der Multi-Instrumentalist, der in Hongkong geboren wurde und aufwuchs, wohnt laut Programmheft seit elf Jahren in Deutschland und erst seit Anfang 2024 in Rödelheim – willkommen! Unter der auf den Bühnen-Hintergrund gemalten Blondine samt Schriftzug „Blues & Gasoline“ (so heißt die am Abend zuletzt dort auftretende Bluesrock-Band) intoniert Jack mit rauer Stimme mir unbekannte Folk-Songs, zum Teil aus seiner eigenen Feder, und das sehr eingängig. Ab und zu erklärt der Künstler, der seine Brötchen als Übersetzer, Texter und Lektor verdient, die Herkunft der Lieder. Gerne hätte ich diesen Gig bis zum Ende verfolgt, doch nach ein paar Stücken gibt mein Zeitplan vor, den Weg nach „Downtown Rödelheim“ anzutreten.
Ich steige erneut in den Bus, den ich wenig später an der Station Parkweg wieder verlasse. Durch den Rebstöcker Weg geht es am Gelände der FTG Frankfurt vorbei zum Clubhaus des Sportvereins TGS Vorwärts 1874. Für 17 Uhr stehen dort THE PROKRASSTINATORS auf meinem Zettel. Ich kenne die Truppe bisher nicht, angelockt hat mich ihr origineller Name (prokrastinieren = als unangenehm Empfundenes aufschieben, sich mit etwas Zeit lassen).
The ProKRASStinators bei der TGS Vorwärts
„Rock, Pop, Folk“ gibt die Musiknacht-Infoseite zum Schaffen der Combo etwas unverbindlich an. Ich bin gespannt. Nach einem langen Soundcheck geht es endlich los: Die Gruppe hat sich, soweit ich das beurteilen kann, den eher sanfteren Klängen verschrieben. Lieder wie „Nothing Ever Happens“ (DEL AMITRI), „Have You Ever Seen the Rain“ (CCR) und „True Love Will Find You in the End“ (Daniel Johnston) gibt das Quintett zum Besten und unterhält damit ein überwiegend älteres Publikum, das sich während der Darbietung an Bier, Brezeln und Bratwurst labt. Ein paar Meter neben der Vereinsheims-Terrasse spielen ein paar gut durchtrainierte junge Leute zu diesem Soundtrack in der prallen Sonne Beach-Volleyball. Mit diesen Eindrücken verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zur nächsten Station. Schließlich habe ich gleich am Blauen Steg in der Kurt Halbritter-Anlage eine (imaginäre) Verabredung.
Dort soll von 18 bis 19 Uhr die Gruppe CORDUROY (nicht zu verwechseln mit den namensgleichen, genialen Acid-Jazzern aus London) auftreten. Rechtzeitig angekommen stelle ich fest, dass noch die vorher auf dem Billing stehende Band KITCHEN SOUND spielt. Es gab bei deren Auftritt wohl anfangs Tonprobleme, sodass sich der Beginn erheblich verzögerte.
Kitchen Sound am Blauen Steg
„Egal, wir ziehen das jetzt durch!“ ruft die gut gelaunte Sängerin und vertröstet die nachfolgende Truppe um eine gute halbe Stunde. Die drei weiteren Bandmitglieder steuern erlesene Klänge für ein bunt durchmischtes Programm aus Funk, Rock und Jazz bei. Kaum zu glauben, dass es die Formation, wie im Netz zu erfahren ist, erst seit 14 Monaten geben soll.
Weit über 150 Menschen stehen auf dem Weg oder sitzen/liegen auf der Wiese vor der „Bühne“. Die gute Resonanz erhält die Combo völlig zu Recht, wie sich im Verlauf des Gigs immer mehr herausstellt. Hier sind Könner am Werk, und die Dame am Mikrofon nimmt durch ihre fröhliche Art das Publikum für sich und ihre Band ein. „Ich bin Lehrerin und freue mich, dass meine Schüler hier sind!“ lässt sie begeistert verlauten. „So eine Lehrerin hätte ich auch gern gehabt“, flüstert ein neben mir sitzender Freund in mein Ohr. Ich bin sicher, er ist nicht der Einzige, der in diesem Moment so denkt.
Mit einiger Verspätung darf dann auch CORDUROY ran. Auf dem Programmflyer steht, was zu erwarten ist: „Lieblingslieder im akustischen Gewand“. Wessen Lieblingslieder? Die der Band, des Publikums oder gar meine? Das möchte ich nun herausfinden. Das Quintett agiert mit diversen Saiteninstrumenten, darunter Gitarre, Banjo und Bass, sowie weiteren, nicht unbedingt alltäglichen Arbeitsgeräten wie Cajon und Melodica; den Gesang übernehmen verschiedene Mitglieder der Formation. Knallbunter Blickfang ist die schöne Gitarre mit original Woodstock-Motiven.
Corduroy am Blauen Steg
Und tatsächlich haben die Künstler, deren Alter ich auf etwa Mitte Fünfzig schätzen würde, einen ähnlichen Musikgeschmack und die gleiche Sozialisation im Alternative Rock & Pop der Achtziger und Neunziger durchlaufen wie ich. Glück gehabt. Zu Gehör gebracht werden Coverversionen eher heimeliger Songs wie „Under the Milky Way Tonight“ (THE CHURCH) und „There is a Light That Never Goes Out“ (THE SMITHS) über Tanzflächenfüller wie „A Forest“ von THE CURE bis hin zu härteren Nummern wie „Waiting Room“ der amerikanischen Hardcore-Straight Edger FUGAZI. In derartiger Vertonung habe ich letzteres Stück noch nicht gehört. Die gesamte Darbietung der sympathischen Combo wird vom nach wie vor zahlreich vertretenen, im Gras chillenden Publikum mit verdientem und anhaltendem Applaus quittiert.
„The show must go on!“ – als nächstes ist das FULL LOVE EXPERIMENT dran. Doch ich muss weiter. Zum guten Schluss steht mein mutmaßliches Highlight des Tages an: Die Rock-Band GOSOLOW, die mir von einem Auftritt 2022 als Support der US-Formation KING BUFFALO im Schlachthof Wiesbaden in guter Erinnerung geblieben ist, lädt um 20 Uhr zu ihrem Gig in den Solmspark ein.
Gosolow im Solmspark
Das Power-Trio spielt auf einer Wiese hinter einem von den Zuschauern gesäumten Weg, als „Bühnen“-Deko dienen eine angeknipste Wohnzimmerlampe im Retro-Style und eine auf einem edlen Röhrenverstärker stehende Nachttischleuchte. So simpel, so schön, so stimmungsvoll.
Frei nach dem Motto „Gute Songs müssen auch leise funktionieren, wir gehen dieses Risiko meistens nicht ein.“ (GOSOLOW auf Bandcamp) rocken die Jungs pünktlich los. Es dauert nicht lang, da springen ein halbes Dutzend Kinder wie angestochen vor den drei ausschließlich instrumental spielenden Musikern hin und her, die Erwachsenen wippen – vorerst nur – mit ihren Füßen und Köpfen. Hier und da sieht man eine Luftgitarre. Der Sound ist trotz der beschränkten Mittel eines improvisierten Open Air-Konzerts im Park großartig. Und ebenso großartig ist das knapp 90-minütige Konzert. Ich halte die Jungs für einen der vielversprechendsten Acts der Stadt und darüber hinaus. Es würde mich nicht wundern, wenn es auf der Karriereleiter noch weit aufwärts gehen wird.
Das sehen wohl auch einige der geschätzt 150 Personen so, die von Lied zu Lied mehr auftauen, sich in den Bann des mal melodiösen, mal brachialen Sounds begeben und schließlich entrückt den Kindern beim Abzappeln Konkurrenz machen. Die Koffer mit den Effektpedalen des Gitarristen und des Bassisten liegen während der Show auf dem vom Regen des Vortags aufgeweichten, halb durchmatschten Boden. Doch wen scherts. So geht Rock‘n‘Roll. Auf Nachfrage erfahre ich nach dem Gig, dass das im Sommer 2022 veröffentlichte und lange nur über Bandcamp erhältliche Album „Muto Rumore“ inzwischen auch auf MC zu haben ist. Ich hoffe noch auf Vinyl oder wenigstens CD. Und auf ein baldiges Wiedersehen beim nächsten Auftritt im Rhein/Main-Gebiet. Denn diese Truppe ist live einfach Premium.
Mit einbrechender Dämmerung geht die Rödelheimer Musiknacht 2024 zuende. Sie war aufgrund der schönen Atmosphäre, der musikalischen Vielfalt von Jazz bis Rock und der Qualität des Gebotenen einmal mehr ein voller Erfolg. Diesen können sich all diejenigen ans Revers heften, die das Event mit viel Arbeit und Herzblut möglich gemacht haben. Dafür kann man sich nur herzlich bedanken. Wir sehen uns wieder im Mai 2025!
Links: http://roedelheimer-musiknacht.de/, https://soundcloud.com/jackcorrigall, https://www.instagram.com/corrigalljack/, https://corduroy.rocks/, https://www.facebook.com/corduroyrocks, https://www.gosolow.de/, https://www.facebook.com/Gosolow/, https://soundcloud.com/gosolow, https://gosolow.bandcamp.com/
Text & Fotos: Stefan
Alle Bilder: