Batschkapp, Frankfurt, 4.03.2020
Schon oft wurde über das Ende des Rock’n’Roll spekuliert – wenn die alten Helden, liebgewonnene Protagonisten dieser Kunstform – hinwegsterben, ihre Bands sich auflösen oder sie wegen überflüssiger Machwerke oder lausiger Nachlassverwaltung versinken in der Bedeutungslosigkeit. Passiert. Ständig. Bei den Australiern von ROSE TATTOO, gegründet 1976 (also zeitgleich mit dem Punk), spielt anno 2020 nur noch ein Mitglied vergangener Tage mit – Sänger Gary „Angry“ Anderson, bereits stolze 72 Jahre alt. Ein Mann, der nicht einmal zur Ur-Besetzung der dreckigen Blues-Combo gehört. Ob und wie ROSE TATTOO 44 Jahre nach ihrer Gründung in der Frankfurter Batschkapp noch für Ekstase sorgen konnten, wird Marcus später beschreiben. Über einen von vielen Beweisen, dass Rock’n’Roll beziehungsweise dreckiger Hardrock nach all den güldenen Dekaden nach wie vor here to stay ist, berichtet vorher Micha anhand des Openers THUNDERMOTHER aus Schweden.
Über THUNDERMOTHER berichteten wir bereits hier 2016. Seitdem hat sich einiges bei dem Stockholmer Quartett verändert: Von der damaligen Besetzung ist nur noch Gründerin, Gitarren-Derwisch und Bandboss Filippa Nässil am Start; der Rest des ehemaligen Quintetts verließ Nässil nebst Band 2017, kurz vor einer Tour mit Stopps in karrieretechnisch nicht unwichtigen Schauplätzen wie beispielsweise dem Wacken Open Air. Was war denn da bloß vorgefallen? In den sogenannten sozialen Medien wünschten sich die Hinterbliebene und die Weiterreisenden gegenseitig alles Gute – lediglich die zweite Gitarristin Giorgia Carteri sprach Tacheles, erwähnte „Dictatorship“ und „Abuse“ (Missbrauch) anstelle von „Respect“ und „Trust“ (Vertrauen), mehr dazu findet Ihr hier.
Wir wissen nicht, was da passierte, aber: Props für Nässil, dass sie innerhalb kürzester Zeit eine Ersatz-Formation an den Start brachte, welche die Lücken mehr als passabel ausfüllt. THUNDERMOTHER vor 2017 hatte mit Clare Cunningham eine saucoole Sängerin, THUNDERMOTHER nach 2017 mit Guernica Mancini eine, die ebenso großartig singt und annähernd auch performt. Einen aktuellen Tonträger gibt es auch (der dritte insgesamt); wie ein Debüt schlicht „Thundermother“ betitelt und damit auf die Reset-Taste drückend. Klappt das? Live auf jeden Fall.
Neben vier Stücken von „Thundermother“ fand auch einiges von den ersten beiden Platten Einzug in den 45-minütigen Vortrag – darunter die MOTÖRHEAD-Hommage „Deal With the Devil“, vor der Nässil anmerkte, dass natürlich ROSE TATTOO bei der Gründung von THUNDERMOTHER „ein großer Einfluss“ gewesen sei – der größte jedoch sei der von Lemmy Kilmisters Formation. Was überdeutlich am dominanten Basslauf des Songs zu hören ist. Sehr, sehr geil war das – die Ansage wie das Stück. Auch die Interaktionen mit Sängerin Mancini, Sara Pettersson am Bass sowie Emelie Johansson am Schlagzeug strotzten vor (Spiel-)Freude und guter Laune.
Getoppt wurde das Ganze durch Nässils Gitarrensolo beim Gang durch das Publikum – anno 2016 im Nachtleben geschah dies (naturgemäß durch die niedrige Decke) noch auf eigenen Füßen; in der Batschkapp durfte ein Mitarbeiter die Musikerin auf seinen breiten Schultern durch den Pulk der Fans tragen. Eindruck machte das, genau wie die gesamte Performance des Quartetts, das AIRBOURNE’s Joel O’Keffe als einziges neben seiner Band sowie BULLET als „großartig“ durchgehen lässt. Rock’n’Roll vom Allerfeinsten, im Herbst auf Headlinertour. Trefft mich dort zwischen Bühne und Tresen hin und her rennend.
Wie schnell doch die Zeit vergeht. ROSE TATTOO hatte ich zuletzt 2001 in der Offenbacher Hafenbahn gesehen, lange ist‘s her. Den Club gibt es längst nicht mehr, ROSE TATTOO sind immer noch aktiv. Noch länger, genau 42 Jahre, liegen zurück, seit das selbstbetitelte Debüt der Australier erschien. Das lieferte – ähnlich wie die frühen Werke von AC/DC – eine Mischung aus dreckigem Blues und aggressivem Hardrock, die von der markanten Stimme von Shouter Angry Anderson dominiert wurde. Tatsächlich war die Platte in den frühen 1980er Jahren eine der ersten in meiner damals gerade mal ein Dutzend Scheiben umfassenden Sammlung.
Zu meiner Teenagerzeit waren die Jungs die ideale Combo, um mit ihnen die Eltern zu provozieren: Alle Mitglieder waren schwer tätowiert – was damals noch eine Seltenheit war – und der Frontmann ein Skinhead. Als mein Vater die Musiker als „ekelhafte Subjekte“ titulierte, nachdem er einen Blick auf die Cover der Folgealben „Assault & Battery“ (1981) und „Scarred for Life“ (1982) geworfen hatte, dauerte es nicht lang, bis ein ROSE TATTOO-Aufnäher meine Jeansjacke zierte. Die ersten drei Scheiben markieren zugleich den Kern des Schaffens der in Sydney beheimateten Formation und sind Werke, die in jeder Plattensammlung – heute sagt man dazu wohl Spotify-Playlist – eines Rock‘n‘Roll-Jüngers vorhanden sein sollten.
In den Folgejahren, ab 1983, ging es dann erstmal bergab für ROSE TATTOO. Gründungsmitglieder wie Gitarrist Pete Wells und Drummer Dallas „Digger“ Royall stiegen aus und mit „Southern Stars“ (1984) und „Beats From a Single Drum“ folgten Platten, die eher im Rock (erstere) oder gar im Pop-Rock (letztere) angesiedelt waren. Ein echtes Comeback gab es erst 2002 (wieder mit Pete Wells an der Gitarre) mit dem Album „Pain“, dem 2007 das bis dato letzte Werk „Blood Brothers“ (wieder ohne Pete Wells, da dieser 2006 starb) folgte. Beide Tonträger besannen sich auf die Wurzeln der Band, lieferten eine treibende Mischung aus Blues- und Hardrock, wobei besonders „Pain“ einige Highlights (z. B. „Kisses and Hugs“) zu bieten hat, die durchaus an die Songs der frühen Jahre anknüpfen konnten.
Warum ich dennoch das Interesse an ROSE TATTOO verlor, möchte ich in einem kurzen Exkurs darlegen: Mein Unmut gründet sich dabei zum einen auf diverse politische Äußerungen von Angry Anderson, in denen er sich deutlich gegen muslimische Einwanderer in seine australische Heimat richtete, zum anderen auf seine Nähe zu rechtskonservativen Parteien wie der National Party oder – schlimmer noch – der Australian Liberty Alliance, die durchaus mit der hiesigen AfD vergleichbar ist. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Australien etwa 20 mal so groß wie Deutschland ist, dabei aber über weniger als ein Drittel der Einwohner Deutschlands verfügt. Die Bevölkerungsdichte in Australien liegt somit bei drei (!) Bewohnern pro Quadratkilometer, in Deutschland sind es 230. Wie man sich in Kenntnis dieser Tatsachen der Aufnahme von Hilfe suchenden Menschen verweigern kann und darüber hinaus befürchtet, dass diese die Kultur des Landes (welche eigentlich?) verwässern könnten, ist mir schleierhaft.
Doch Australien ist auch das Land der obskuren Fernsehshows – wie zum Beispiel „Dschungelcamp“ – und bietet tatsächlich just zu diesem Thema eine illustre Sendung an. In „Go Back to Where You Came From“ (kein Witz!) werden prominente Australier – Gegner und Befürworter der Flüchtlingsthematik – in ebenjene Gebiete gebracht, aus denen Menschen fliehen, um in Australien Asyl zu suchen. Angry Anderson war 2012 Teilnehmer der zweiten Staffel (Trailer dazu hier) und verbrachte drei
Wochen in Kabul und Mogadischu, um zu ergründen, warum Menschen von diesen Orten flüchten. Nach dieser Erfahrung schlug Anderson, der während seiner Reise ob des Elends und der Zustände vor Ort mehrfach in Tränen ausbrach, andere Töne an, zeigte sich geläutert und sah ein, dass man Hilfesuchenden durchaus die Hand reichen müsse. Merke: Reisen bildet. Mir ist natürlich bewusst, dass vermutlich vielen Konzertbesuchern und Musikfans die politische Meinung einzelner Künstler, die sich hinter einer Band
verbergen, am Arsch vorbei geht. Ich für meinen Teil sehe generell nicht ein, Musiker zu unterstützen, die ich für Arschlöcher halte.
Im Fall von Anderson ist das Ganze ein zweischneidiges Schwert, denn seine politischen Ansichten spiegeln sich, soweit ich das beurteilen kann, nicht in den Texten von ROSE TATTOO wieder, sodass – ähnlich wie bei H.P. Lovecraft – das künstlerische Werk durchaus von seinen persönlichen Ansichten zu trennen ist. Mir haben die Geschehnisse jedenfalls einige Zeit die Lust auf ein ROSE TATTOO-Konzert genommen. Aus nostalgischen Gründen und ob der Tatsache, dass Anderson mittlerweile 72 ist und man ihn wohl nicht mehr allzu oft auf der Bühne sehen wird, beschloss ich dennoch, mir die Australier noch einmal anzuschauen.
ROSE TATTOO anno 2020 bestehen in der Tat aus keinem Gründungsmitglied der Original-Formation mehr, wobei zu sagen ist, dass der ursprüngliche Sänger Tony Lake nur wenige Monate in der Band war, bevor er 1976 durch Anderson ersetzt wurde. Dieser war an nahezu allen Songs als Komponist beteiligt, was durchaus rechtfertigt, dass er unter dem Namen ROSE TATTOO tourt. Um sich herum hat er altgediente Recken der australischen Musikszene geschart: Bassist Mark Evans beispielsweise war von 1975 bis 77 Mitglied von AC/DC und ist auf deren Alben „TNT“, „High Voltage“, „Dirty Deeds“ und „Let there be Rock“ zu hören, Gitarrist Bob Spencer hat in den 1970er Jahren bei den SKYHOOKS und in den 80ern bei THE ANGELS gespielt und Gitarrist Dai Pritchard, der 2006 Pete Wells an der Slide Guitar ersetzte, hat schon mit Billy Thorpe, Glenn Shorrock (LITTLE RIVER BAND) und dem bekannten australischen Rocksänger Jimmy Barnes musiziert. Hinter der Schießbude sitzt seit 2018 der Sohn von Jimmy Barnes, der allerdings bei der aktuellen Tour nicht mit von der Partie ist und von Justin Ngariki ersetzt wurde, dessen Blues-Combo JUSTIN NGARIKI
& THE DASTARDLY BASTARDS (Justin spielt hier Gitarre und singt) ebenfalls hörenswert ist. Soll heißen, die Besetzung konnte sich sehen lassen, wobei nahezu alle Musiker auf Blues- und weniger auf Hardrock-Wurzeln zurückblicken, was sich auch in der Performance widerspiegeln sollte.
Die Setlist des gestrigen Abends wusste zu gefallen: Geboten wurden zwölf Songs der ersten drei LPs und drei vom „Blood Brothers“-Release – leider kein Track vom „Pain“-Album. Neben Klassikern wie „Scarred for Life“, der den Opener markierte, „Rock‘n‘Roll Outlaw“, „The Butcher and Fast Eddie“ und „Nice Boys“ wurden Fan-Favorites wie „Juice on the Loose“, „Rock‘n‘Roll is King“ und „Sidewalk Sally“ dargeboten, als Zugabe gab‘s mit dem Dampfhammer „Astra Valley“ einen meiner persönlichen Lieblingssongs. All dies wurde äußerst routiniert präsentiert, der Sound war gut, die Stimmung unter den schätzungsweise 900 Besuchern ebenfalls.
Dennoch war‘s anders als früher: Die ersten drei Platten von ROSE TATTOO bieten für mich aggressiven Hardrock, den ich fast schon in der Nähe zum Oi und zu Bands wie COCK SPARRER verorten würde. Das Ganze war dreckig, gefährlich und – wie eingangs erwähnt – bestens geeignet, um die Eltern zu verstören. Die aktuelle Performance allerdings war eher die einer routinierten Blues-Combo, wie ich sie bis vor einigen Jahren noch zuhauf im Frankfurter Club Spritzehaus erleben durfte. Dies ist keineswegs abwertend gemeint, denn unterm Strich hat mir der Gig gefallen. Ich hatte die Australier jedoch etwas rasanter und aggressiver in Erinnerung.
Immerhin gab‘s mit „Nice Boys“ und „Astra Valley“ zwei Uptempo-Nummern. Einige mehr wie beispielsweise „Remedy“, „Manzil Madness“, „Magnum Maid“ und „Kisses and Hugs“ hätten der Show sicherlich gut getan, aber schließlich ist Angry Anderson nicht mehr der Jüngste und vermutlich auch schon lange nicht mehr so „angry“ wie er es einst in seiner Jugend war. In wenigen Tagen erscheint mit „Outlaws“ ein „neues“ Album von ROSE TATTOO, für das die Songs des Debüts (plus ein paar weitere alte Werke) in neuen Versionen eingespielt wurden. „Outlaws“ vermittelt somit einen guten Eindruck dessen, wie die Klassiker am gestrigen Abend klangen und könnte in der Tat einen zweiten Frühling für ROSE TATTOO einleiten – als Bluesband.
Links: http://www.thundermother.com/, https://www.facebook.com/thundermother/, https://thundermother.bandcamp.com/, http://www.last.fm/de/music/Thundermother, http://www.rosetattoo.com.au/, https://www.facebook.com/RoseTattoo/, https://www.reverbnation.com/rosetattoo, https://www.last.fm/music/Rose+Tattoo
Text (TM) & Fotos: Micha / Text (RT): Marcus
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