Nachtleben, Frankfurt, 31.10.2018
SAINT AGNES? Wer zum Henker sind SAINT AGNES? Beim Stöbern im Programm des Frankfurter Nachtlebens sind mir ja nicht immer alle Musikanten bekannt, doch Name sowie Optik weckten erstmal besonderes Interesse. Ist das eine Hardrock-, gar Metal-Band – okkult und doomy, so wie JEX THOTH oder BLOOD CEREMONY? Nein, leider nicht. Zumindest nicht musikalisch. Wobei zwischen Front“hexe“ (so nennt sie sich selbst) Kitty Arabella Austen (links) und den Leadladies der oben genannten Formationen eine gewisse Geistesverwandtschaft nicht von der Hand zu weisen ist. Bei SAINT AGNES wird ein anderer Retro-Laden geplündert – der Sound im Vintage-Look fußt metertief im Blues, streift Psychedelic und inhaliert die Sechziger, mit dem Schwerpunkt auf räudigen Garagentönen, die später zum Punk mutieren. Ungefähre Vorstellung?
Gut, denn viel Material zum Nachprüfen gibt es leider nicht. Spotify listet ganze sieben Tracks des Quartetts aus London, drei Singles und eine EP (bei Bandcamp gibt es ein wenig mehr), deren Titel auch Arabellas College-Jacke ziert, die sie am Anfang des gestrigen Auftrittes in dem Kellerclub noch trug. War etwas kühl da unten erstmal, zugegeben. Kein Wunder, wenn die Körperwärme im Auditorium fehlt.
Kitty Arabella spielt noch bei LOLA COLT, einem Sextett, welches sich aus ähnlichen musikalischen Quellen speist, aber mit etwas weniger Dampf agiert. Dampf, Qualm, Sex, Bier, Ekstase – das gab es alles zu späterer Stunde, fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es ist eine Schande.
Auch der semilokale Opener füllte die Hütte nur zum winzigen Teil mit Kumpels auf der Gästeliste. ATRIO aus Gießen (Lars Gugler, Gitarre und Gian-Luca Paris am Bass) sowie Frankfurt (Sascha von Struve, Drums) starrten fast eine Stunde lang zwischen Cluböffnung und Konzertbeginn ins Leere, zieht man anwesende Musikanten und mich ab. Und diese eine Lady, die wohl zur Band gehörte. Und diesen Herrn, der ebensowenig Plan hatte wie ich und dessen Interesse durch den Flyer geweckt wurde. Props dafür, in dem Alter bekommen die wenigsten noch ihren Hintern auf die Straße, um neue Klänge zu entdecken. Die meisten jammern lieber im Netz rum, dass es keine interessante Musik mehr gibt von jungen Leuten. Das ist ebenfalls eine Schande.
Die halbe Stunde „Riff Rock“ der Vorband (Eigenbeschreibung, durchaus zutreffend) schließlich passte nach meiner Einschätzung nicht wirklich zum Headliner, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Jimi Hendrix verehren wohl beide Gruppen, die Umsetzung solcher Inspiration erfolgte jedoch auf höchst unterschiedliche Weise. Das als klassisches Power-Trio agierende Hessenkonglomerat präsentierte knackige Songs mit viel Platz für die Leadgitarre – so weit, so angenehm.
Hoch anzurechnen war den drei Herren, dass sie ihre anfängliche Irritation über diese eine, riesige Lücke vor ihnen während des Auftritts zu vergessen schienen und wahrlich das Beste draus machten – immer lockerer und gelöster wirkten sie, der Spaß am Spiel war ansteckend. Sehr schön. Am 22. November 2018 eröffnen ATRIO für DAN BAIRD & HOMEMADE SIN im Frankfurter Club „Das Bett“ – da wird es definitiv voller, und da passt die Combo stilistisch auch besser hin. Oder gleich vor die RIVAL SONS, deren Publikum müsste ATRIO lieben. Wer die Hessen jedoch online verfolgen will, braucht einen langen Atem: Auf die Idee, ihr Trio ATRIO zu nennen, kamen weltweit gefühlt noch weitere 1000 Musiker.
Wenn man es gewohnt ist, in England ausverkaufte Clubs zum Kochen zu bringen, musste der Blick auf das anderweitig wohl stark beschäftigte Frankfurt ziemlich frustrierend sein – doch auch SAINT AGNES ließen einen etwaigen Frust nicht die Stimmung dominieren. Zuerst lief „Death Rides a Black Horse“ vom Band – auf Tonträger ein schräg gespieltes Ennio Morricone-Tribut, als Intro klang das für mich wie ein bekannter Original-Morricone, doch welcher, vermag ich nicht zu sagen. Nicht das plattgedudelte METALLICA-Intro aus „The Good, The Bad & The Ugly“ jedenfalls.
Austen trug wie gesagt noch die College-Jacke während des distanzierten Showbeginns, legte sie aber baldigst ab, um im transzendenten Kleidchen weiter über die Bühne zu huschen. Eingerahmt vom Gitarristen, Sänger und Harmonikaspieler Jon Tufnell sowie dem Bassisten, Fuzzpedalbauer und Webdesigner Ben Chernett wechselte sie zwischen Gesang, Gitarre- oder Keyboardspiel hin und her und fing an, nicht nur die wenigen Gäste zu bezaubern, sondern ebenso ihre Mitmusikanten. Alle, auch Schlagzeuger Andy Head, schienen erst für sich und irgendwann nur noch für sie zu spielen, die Performance wurde immer schwitziger, hemmungsloser und ekstatischer.
Vor allem zwischen Tufnell und Austen (es würde mich sehr wundern, wenn die beiden kein Paar wären) sprühten die Funken. Es war wohl komplett egal, ob überhaupt jemand außer dem Quartett anwesend war, das sich in einen Rausch aus räudiger Rock’n’Roll-Ursuppe mit Psych-Touch zu spielen schien, welcher sich komplett selbst genügte. Und damit die Anwesenden, etwa 15 sollten es zum Ende hin gewesen sein, um den Finger wickelte. Naja, ob das für die wacker ausharrenden ATRIO und ihrer Posse auch galt, weiß ich nicht, beim Plattenkauf schlugen die nach dem Konzert nicht mehr auf.
Am Ende der Show hob Austen komplett ab und stand auf dem Schlagzeug, während der Nebel ihre Schuhe verdeckte und der Eindruck entstand, sie schwebe unter dem Kellerdach. Sollte die wahre Nachfolgerin von COVENs Jinx Dawson etwa nicht Jessica Toth, sondern Kitty Arabella Austen heißen? Am End‘ sind es halt zwei. Auf jeden Fall hat der Zirkel der heiligen Agnes jetzt mit mir sowie dem anderen Herren zwei Jünger mehr. Ich verneige mich nach diesem großartigen Auftritt.
Links: https://www.facebook.com/atrio/, http://wearesaintagnes.com/, https://www.facebook.com/wearesaintagnes, https://saintagnes.bandcamp.com/, https://www.last.fm/de/music/Saint+Agnes
Text, Fotos & Clips: Micha
Alle Bilder: