SEPULTURA, JINJER, OBITUARY, JESUS PIECE

Stadthalle, Offenbach, 31.10.2024

SepulturaVon allen Metalbands, die seit den 80er Jahren in Brasilien entstanden und weltweit auf Tournee gegangen sind, hat keine so ein hervorragendes Renommee wie SEPULTURA. Gegründet 1984 von den Brüdern Max (Gesang & Gitarre) und Igor Cavalera (Drums), erspielte sich die Formation durch anfänglich kultigen Death Metal-Rumpelkrach über Thrash Metal-Meilensteine und die Hinzunahme lokaler, folkloristischer oder moderner, industrieller Sounds sowie einer starken Affinität zum Hardcore einen solitären Ruf und wurde zur Blaupause für viele New Metal- oder Metalcore-Acts. Kaum ein Fan von SEPULTURA erträgt die komplette Diskographie, was darüber hinaus von den diversen Besetzungswechseln unterstützt wird, die die Gruppe zu verkraften hatte. Mit den Cavaleras konstant im kommerziellen Aufwind, implodierte das SepulturaFlaggschiff nach privaten wie geschäftlichen Streitereien zwischen Max und Gitarrist Andreas Kisser (rechts, seit 1987 an Bord) sowie deren Ehefrauen nach der Veröffentlichung ihres Klassikers „Roots“ (1986) bzw. der anschließenden Tour. Die Folge: Seit 1998 spielen SEPULTURA ihre Platten mit dem Sänger Derrick Green ein. Zudem sind die Hallen, in denen SEPULTURA seitdem auftreten – zumindest in Europa – merklich kleiner geworden.

Green ist inzwischen weit länger bei SEPULTURA als Max Cavalera, der seitdem vor allem bei SOULFLY seine musikalischen Visionen auslebt; mit seinem Bruder Igor jedoch auch als CAVALERA bzw. CAVALERA CONSPIRACY Nachlassverwaltung betreibt. Neun Studioalben hat Green mit SEPULTURA inzwischen eingesungen. Live konnte man die Band in unseren Breiten häufig in SepulturaClubs wie dem Frankfurter Zoom, dem Wiesbadener Schlachthof, dem Colos-Saal in Aschaffenburg oder gar der Centralstation in Darmstadt begutachten – die Offenbacher Stadthalle füllte sie zuletzt mit Max 1993.

Bei Festivals war ihr Status immer noch gut genug, um nach Bands wie EXODUS oder MARDUK zu headlinen, was an der nach wie vor vorhandenen Live-Klasse der Combo lag (siehe unsere Review von 2017 hier). Und nun, 2024? Zu ihrem 40-jährigen Bestehen rief die Formation bereits im vergangenen Jahr eine Welttournee aus, die nicht nur das Jubiläum feiert, sondern auch ihren Abschied ankündigt. Seit den SCORPIONS, deren Abschiedstour ich 2010 beiwohnte und die noch nach 60 Jahren Betrieb genauso fleißig touren wie ebenso STATUS QUO (Abschiedstour: 1984!), erlaube ich mir diesbezüglich berechtigte Zweifel.

SepulturaDie Offenbacher Stadthalle wird dadurch jedoch nach 31 Jahren mal wieder als Hauptattraktion gefüllt. Andere Stationen wie das Palladium in Köln oder fast alle Stationen in Großbritannien sind sogar ausverkauft. SEPULTURA haben dabei drei Vorbands im Gepäck, deren Zusammensetzung in Metal-Foren zwischen Traditionalisten und offen gebliebenen Hörern zu vielen Diskussionen führte. Diskussionen, die ebenso die über das Gesamtwerk der brasilianischen Band dominieren.

Ein spannender Abend stand also bevor, der mit dem Quintett JESUS PIECE aus Philadelphia (USA) schon um 17.50 Uhr begann. Noch vor spärlich vorhandener Kulisse zockte der Vierer um den bewegungsfreudigen Schreihals Aaron Heard Jesus Piece(der außerdem bis 2022 Bass bei der noisigen Shoegaze-Band NOTHING spielte), eine halbe Stunde ihren breaklastigen Hardcore mit starkem Metaleinschlag, der eben kein Metalcore ist, wie oft behauptet wird. Für die Ü40-Generation im Saal war das unhörbarer Mist ohne erkennbare Songstrukturen, für jüngere oder offenere Menschen eine Einladung zum Slammen und zum Mitgrölen. Die meisten tranken dabei eh erstmal ein paar Bier oder studierten die happigen Merch-Preise. Für einige der Konzertbesucher, darunter auch mich, öffnete die Formation allerdings die „Interessant“-Schublade: Mit der Combo sollte man sich weiter beschäftigen.

Voller wurde es bei OBITUARY – die Death Metal-Legende aus Florida hat genauso viel Dienstjahre auf dem Buckel wie SEPULTURA (allerdings mit einer Auszeit zwischen 1998 und 2004 sowie einem Intro unter anderem Namen bis 1988), blieb dabei allerdings von Veränderungen im Sound weitestgehend Obituaryverschont. Nach dem Intro „Snortin‘ Whiskey, Drinkin‘ Cocaine“ der PAT TRAVERS BAND enterten die vier Instrumentalisten Trevor Peres (Gitarre), Donald Tardy (Drums), Terry Butler (Ex-DEATH, Bass) und Kenny Andrews (Gitarre) die Bühne im giftgrünen Nebel zum Instrumental „Redneck Stomp“, um Grundlage zu schaffen für den Auftritt von Sänger John Tardy, der mit „Back From The Dead“ für einen ersten Höhepunkt des Konzertabends sorgte. Zumindest für die Boomer im Saal. 45 Minuten lang klassischer, gut gelaunter und ohne Chichi vorgetragener Florida-Death Metal; est. Mitte der 80er und ohne den Einfluss von CELTIC FROST nicht denkbar. Feine Sache.

ObituaryIm Gegensatz zu den Platten von DEATH oder MORBID ANGEL rotieren die Alben von OBITUARY auf meinen Tellern allerdings schon ewig nicht mehr; Headliner-Gigs werden von mir seit vielen Jahren subjektiv als relativ uninteressant betrachtet und gemieden. Ein Sandwich-Auftritt wie dieser machte allerdings sogar mir Spaß – die Lässigkeit, mit der John Tardy auf die Bühne schlurft, 45 Minuten lang abröhrt und nach „Slowly We Rot“ vom Debüt unprätentiös wieder von der Bühne verschwindet („Zugabe“-Rufe dabei ignorierend), das hatte schon was. Kollege Marcus kann allerdings mehr mit der Combo anfangen als ich und hatte 2014 Relevanteres zu erzählen (mehr dazu hier).

Über die Ukrainer JINJER wurde im Vorfeld im besonderen Maße gemeckert. Wieso die denn überhaupt nach OBITUARY spielen dürfen? Sind Fans von denen überhaupt noch Metaller oder bloßes „Event-Publikum“? Wieso dürfen die überhaupt aus der Ukraine im Vergleich zu anderen Bands raus? Funfact: In der Encyclopedia Metallum, den Metal Archives, tauchen JINJER noch nicht Jinjermal auf. Artverwandte Acts wie ARCH ENEMY allerdings schon.

JINJER spielen Metalcore mit progressiven Ausreißern in diverse andere Gefilde. Sie verkaufen so viele Tonträger, dass sie seit einigen Jahren regelmäßig vordere Chartplätze ergattern. Sie nicht zu mögen ist das Eine – ihnen jedoch die Existenzberechtigung abzusprechen, ist widerliches Gatekeeping und gelebte Intoleranz. Ohne JINJER als dritte von vier Bands bei diesem Billing würden SEPULTURA – Abschied hin oder her – nicht so große Hallen füllen. Punkt. Und überhaupt: Sind SEPULTURA nicht selber eine grenzüberschreitende Formation ohne Berührungsängste mit anderen Genres? Wieso ist eine Combo, die das auf andere Weise ebenso tut, dann nicht kompatibel? Gestrige sollen leiser heulen – was JINJER in Offenbach fabriziert haben, war ein fünfzigminütiger Totalabriss. Und ich mag Metalcore noch nicht mal besonders.

Jinjer

Außerdem ist es bei längeren Konzertabenden sehr erholsam eine oder zwei Gruppen im Billing zu haben, bei denen man mal aufs Klo gehen oder Getränke holen kann. Bei JINJER hätte ich kein Bier holen wollen, so gebannt starrte ich (wie die meisten Anwesenden) auf den ober-agilen wie biegsamen Derwisch JinjerTatiana Shmailyuk. Was sich auf den Platten anhört wie ein Gesangsduo, kommt komplett aus ihrer Kehle – also gleichermaßen der Klargesang wie abartige Growls. Mühelos hin und her switchend, auch innerhalb eines Songs. Ihre Jungs – Roman Ibramchalilow (Gitarre), Eugene Abdukhanov (Bass) und Vlad Ulasevich (Drums) – rollen dabei einen Teppich aus, der mit Tempowechseln und Brachialriffs klotzt und ab und an mit Artfremdem spielt. Man möchte hüpfen, aber dank Tatiana eben auch gleichzeitig glotzen, um nichts zu verpassen. Touren dürfen JINJER übrigens, weil sie als Kulturbotschafter der Ukraine fungieren. Danke dafür. Nächstes Jahr bei Rock am Ring zu bestaunen, danach wird man sie nie wieder von so Nahem sehen können.

Kurz vor 21 Uhr waren schließlich die Intros zu hören, die das baldige Kommen der Headliner versprachen: „War Pigs“ von BLACK SABBATH sowie „Polícia“ von der brasilianischen Band TITAS. Man vergleiche diese Wahl bitte mit der von OBITUARY, dann wird vielleicht deutlich, warum SEPULTURA nach all den SepulturaJahren relevanter sind. Der nun folgende Tripleschlag von „Chaos A.D.“ (1993), bestehend aus „Refuse/Resist“, „Territory“ sowie „Slave New World“, war eine Ansage. Drei gesellschaftskritische Songs aus der Max-Ära, von einem der drei populärsten Alben: Nicht nur das Publikum ging sofort steil, auch Kisser kniete sich rein und genoss die Aufmerksamkeit sowie die Stimmung im Saal. Im Gegensatz zu dem einen oder anderen Klassiker, der noch folgen sollte und Greens Stimmlage an seine Grenzen brachte, lieferte der Sänger dabei amtlich ab. Der brandneue Schlagzeuger Greyson Nekrutman, mit gerade mal 22 Jahren ein Küken im Vergleich zu den meisten Anwesenden und doch mit einem Talent und einer Vita gesegnet, die diverse Jazz-Big Bands bis hin zu den kalifornischen SepulturaSkate-Thrashern SUICIDAL TENDENCIES umfasst, peitschte die Akteure dabei gnadenlos nach vorn. Der Einzige, der hin und wieder etwas verunsichert wirkte, war Bassist Paulo Xisto jr., der zwar das dienstälteste Mitglied von SEPULTURA darstellt, sich seine Fähigkeiten am Instrument allerdings erst sehr lange nach Bandgründung aneignete. Dafür spielt er inzwischen jedoch noch bei CULTURA TRES aus Venezuela, die letztes Jahr fast das Frankfurter Nachtleben beehrt hätten.

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Zum Konzept der Tour gehört es, so ziemlich jedes Album in der Diskografie von SEPULTURA zu bedenken. Das machte die Setlist nicht ganz stinkerfrei, weil einige Werke der Green-Ära den Test of Time schon kurz nach Erscheinen nicht bestanden haben. Einige allerdings schon, wie zum Beispiel die superbe letzte SepulturaPlatte „Quadra“ von 2020. Kommerziell ist die Scheibe sogar erfolgreicher als der Klassiker „Roots“. Daher schafften es folgerichtig drei Songs davon auf die Bühne der Stadthalle, während andere Alben der Green-Ära wie „Against“ oder „Kairos“ mit einem Song vorlieb nehmen mussten. Bierpausen mussten halt auch mal sein.

Stimmungstechnisch richtig erlesen wurde es jedoch mit den Stücken, die vor dem Durchbruch mit „Arise“ (1991) veröffentlicht wurden: „Troops Of Doom“ vom Debüt „Morbid Visions“ (1986) sowie das anschließende „Inner Self“ von „Beneath The Remains“ (1989) kurz vor dem Finale; oder das nach den Bierpausen gebrachte „Escape To The Void“ von „Schizophrenia“ (1987). Mit vier Stücken wurde das Album „Roots“ bedacht, Sepulturawelches durch seine Tribal-Jams anno 1996 die frühen Fans zur Verzweiflung brachte. Green animierte auf Deutsch mit „Wie geht’s Dir? Alles gut?“ und dankte später besonders den deutschen Fans, bevor der Pit bei „Escape To The Void“ zu rasen anfing und die Crowdsurfer sich um die Wette rausziehen ließen, um unmittelbar danach wieder in die Menge einzutauchen.

Spätestens jetzt mutierte der Abend zum „kleinen Freitag“, bei dem einige Alkoholisierte an ihre Grenzen kamen, den Seitenbereich aufsuchten oder bereits ganz das Gelände verließen. Den Percussion-Jam mit Gästen (bei denen ich nicht mitbekam, wo genau die herkamen) konnte man verzichtbar finden, ebenso Greens Versicherung, in Offenbach das „beste Deutschland-Konzert der SepulturaTour“ erlebt zu haben. Kein Kunststück, beim ersten. „Arise“ vor der Zugabe kratzte darüber hinaus etwas an der Unhörbarkeit; Green wirkte, als würde auch er langsam eine Pause brauchen. „Danke für Alles“ schmetterte er auf Deutsch, um in der Zugabe nach dem Drum-Solo und einem angespielten „Ratamahatta“ beim energetischen „Roots“ nochmal zu glänzen.

Zwei Stunden Spielzeit, wie im Metal Hammer von Kisser versprochen, wurden es dann doch nicht. Ein spielfreudiger Abend, der außer für chronische Stänkerer für alle Beteiligten eine fette Party darstellte, war es dennoch. Sollten sich SEPULTURA wirklich mit dieser Tour verabschieden, dann machen sie es auf allerhöchstem Niveau. Vielleicht tun sie uns ja den Gefallen und lassen sich wie die SCORPIONS noch ein wenig länger feiern – ich hätte Bock auf eine zweite Runde.

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Links: https://www.jesuspiece.band/, https://www.facebook.com/JesusPieceHC/, https://jesuspiecesl.bandcamp.com/, https://www.obituary.cc/, https://www.facebook.com/ObituaryBand, https://www.last.fm/de/music/Obituary, http://www.jinjer-metal.com/, https://www.facebook.com/JinjerOfficial/, https://www.last.fm/de/music/Jinjer, http://www.sepultura.com.br/, https://www.facebook.com/sepultura/, https://www.last.fm/music/Sepultura

Text & Fotos: Micha

Alle Bilder:

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