THE CASSANDRA COMPLEX

Nachtleben, Frankfurt, 24.05.2024

The Cassandra ComplexVerdammt lange her, mein letztes Zusammentreffen mit THE CASSANDRA COMPLEX – dieser Electro-Punk-Industrial-Combo aus ursprünglich Leeds. Erstmals erlebte ich sie wohl auf dem ersten Bizarre Festival 1987 – daran habe ich aber heute keine Erinnerung mehr, vielleicht habe ich sie sogar verpasst weil ich erst später kam, keine Ahnung. Sie hatten auf jeden Fall einen sehr frühen Slot dort. 1990 wurden sie mir dann praktisch aufgedrängt. Ich arbeitete seit kurzem nebenbei für ein inzwischen nicht mehr existierendes Frankfurter Stadtmagazin. Ein paar Plattenkritiken dafür hatte ich bereits zu verantworten, sowie ein unfassbar dämlich formuliertes Porträt einer lokalen Band, auf die eigentlich ein Kumpel von mir stand. Dass meine damalige Chefin überhaupt an mir als Autoren festhielt, lässt mich im Nachhinein exzessiv meinen kahler gewordenen Kopf kratzen.

Doch sie tat es, und nicht nur das: Sie drückte mir 1990 das Album „Cyberpunx“ besagter CASSANDRA COMPLEX in die Hände, jedoch nicht für eine Review. Die Band betourte diese Scheibe später im Jahr und kam nach Mainz, das gäbe doch einen feinen Musikaufmacher (sprich: zwei Seiten) – Mainz sei ja sowieso unterrepräsentiert im Heft, sprach sie. Sie gab mir also das Album (natürlich The Cassandra ComplexVinyl, noch war das der Standard), den Waschzettel der Plattenfirma sowie eine Telefonnummer, um ein Interview zu vereinbaren.

Ein Interview. So was hatte ich erst einmal gemacht, mit oben erwähnter lokalen Combo – und nun auch noch auf Englisch. Eine Widerrede wurde nicht geduldet, Sabine (die Chefin) schubste mich ins kalte Wasser und ich gab mein Bestes: Hörte das Album wieder und wieder (zum Glück gefiel es mir sehr) und ich versuchte Fragen zu formulieren zu den Themen, die ich kaum verstand. William Gibsons SF-Klassiker „Neuromancer“, der das Genre aufmischte und damit den Cyber-Punk erfand, hatte ich mal angefangen zu lesen, jedoch nicht kapiert und abgebrochen. Mit „Jihad Girl“ hatte ich das erste Mal in meinem Leben diesen Begriff gehört, der nach dem 11. September 2001 inflationär in unser aller The Cassandra ComplexWortschatz einzog. Bei „Nightfall (Over EC)“ tauchte der Begriff noch einmal auf, dieses Mal jedoch mit fast schon prophetischer Ansage:

„Jihad is coming,
jihad is coming

The Third World War
is coming home

Night falls over
Western Europe“

Der Verfasser dieser Zeilen nennt sich Rodney Orpheus, einziges ständiges Mitglied der Formation, die er mit dem Keyboarder Paul Dillon 1985 gründete. Dieser Rodney Orpheus begab sich also ein paar Monate, bevor seine Band das KUZ in Mainz live aufmischte, auf eine sogenannte Promo-Tour: Er sowie jemand von der Promotion-Firma klapperten die Republik ab und besuchten alle interessierten Menschen, die in Presse, Radio oder TV eine Band bekannter machen konnten. Ich schreibe das so detailliert für Euch auf, The Cassandra Complexliebe Generation Z, falls Ihr das hier überhaupt lest. Heutzutage ist ein derartiger Aufwand in keinster Weise mehr vorstellbar.

Mangels besserer Räumlichkeiten empfing ich Orpheus im Büro der Kita, in der ich zu dieser Zeit arbeitete. Er war beredt und dabei höflich genug, mir meine absolute Unkenntnis über so gut wie alles, worüber wir sprachen, nicht zum Vorwurf zu machen. Ich zimmerte anschließend einen Musikaufmacher auf Grundlage dieses Gesprächs, was mir durch den Umstand nicht gerade erleichtert wurde, dass ich in meiner grenzenlosen Nervosität nicht daran gedacht hatte, das bereit liegende Mitschneidegerät zu starten.

The Cassandra ComplexWundersamerweise schreibe ich immer noch über Musik – und ebenso wundersamerweise kamen CASSANDRA COMPLEX und ich nach weiteren tollen Konzerten 1991 und 1993 in der Frankfurter Batschkapp sowie einer Begegnung 1996 am Rande des Auftritts der SISTERS OF MERCY im Vorprogramm der SEX PISTOLS in Offenbach (Ich: „Hi, Mr. Orpheus“. Er: „Hi, Mr. Whoeveryouare“) nun gestern noch einmal im Frankfurter Nachtleben zusammen.

Nachdem die Band lange ruhte und darüber hinaus diverse Besetzungswechsel zu vermelden hatte, wurde die Tour am 9. Februar 2024 auf der Homepage mit den Worten „This tour lineup will feature the original founders of the band: Rodney Orpheus (vocals, synths, drum machines), Paul Dillon (electronics), and Andy Booth (guitar), plus guest keyboardist Brent Heinze from US synth act Probe 7“ angekündigt. Das war insofern bemerkenswert, da Dillon ja bereits 1985 CASSANDRA COMPLEX verließ.

Noch bemerkenswerter war, dass auf der Bühne im zur Einlasszeit noch spärlich besuchten Nachtleben nur ein Türmchen mit Tastenkram in der Ecke stand, sowie ein Mikroständer in der Mitte. Keine Halterungen für Saiteninstrumente oder Ähnliches. 90 Minuten später erschienen dann unter dem Jubel der inzwischen fast jeden Zentimeter des Nachtlebens ausfüllenden Fans in der Tat nur Orpheus und Dillon, welcher die bei CASSANDRA COMPLEX ja nicht gerade wenig vorhandenen Gitarrenparts komplett aus seinem Kasten schoss.

Ebenfalls am 9. Februar vermeldeten CC auf ihrer Homepage, dass mit „Death & Sex“ ein „neuer“ Tonträger betourt werde – die Konzertreise 1993 war dagegen die „Sex & Death“- Tour. Ich hege die Vermutung, dass sie sich mit der Neu-The Cassandra ComplexVeröffentlichung die Rechte an ihren Stücken zurückholen wollen – soundtechnisch bietet die Neueinspielung (zumindest in meinen Ohren) keinen Mehrwert gegenüber dem Original. Auf die großartige Coverversion von SUICIDE’s „Frankie Teardrop“ muss man beim Neukauf verzichten. „Death & Sex“ sowie „The Plague“, eine CD mit neuen Songs aus dem Jahr 2022, waren am Merchtisch vor Ort die einzigen zu erstehenden Tonträger.

Aus diesen speiste sich dann auch das Gros der Setlist, die sich zum Ende hin wohl von Konzert zu Konzert änderte. Mindestens genauso spannend wie dieses Best-of-Programm einer über 40-jährigen Band-Historie waren jedoch die The Cassandra ComplexSpoken-Word-Einlagen von Rodney Orpheus: Da gab es jede Menge Fanboy-Erlebnisse, als er sein Idol Alan Vega kennen lernte („I stole everything from him“), Lou Reed begegnete oder sich mit Freund/Freundin Genesis P-Orridge (PSYCHIC TV, THROBBING GRISTLE) traf; Phil Lynott (THIN LIZZY) oder der SF-Autor Philip K. Dick wurden gepriesen sowie die slowenische Elektroband BORGHESIA bewundert und deren Stück „N.U.D.“ gecovert.

„Death, Sex and Politics – You get everything with THE CASSANDRA COMPLEX“ scherzte der vielseitig interessierte Orpheus, der sich nebenbei professionell Computerspielen, Tontechnik oder sexualmagischen Praktiken widmet. Selbstverständlich sind CC auch gegen Nazis, wie man auf einem Sticker lesen kann, der allerdings bereits ausverkauft war auf dieser Tour. Um das zu The Cassandra Complexillustrieren ließen CC bei dem Song „In The Dead Of Night“ im Hintergrund drastische Szenen aus dem Film „Birth Of A Nation“ (mehr dazu hier) laufen. In dem Lied heißt es:

„We hide among the few trees
Left alone
We hide among the animals
Left alone
And watch
As they burn our homеs.“

Das würde ja alles auch von meiner Seite, ebenso wie das folgende Trump-Gebashe, durchaus zu wohlwollendem Applaus einladen – wenn Orpheus nicht beim Track vorher von einem Foto aus Gaza erzählt hätte, auf dem ein israelischer Soldat ein Kind erschießt. „We are not on the side who kill children.“ bemerkte er dazu, dem er ein rhetorisches „Which side are you on?“ vorauseilen ließ. Wie gegenwärtig so viele, sich als „progressiv“ verstehende Künstler*innen aus den The Cassandra ComplexUSA oder den britischen Inseln, verbreitet er damit das antisemitische Klischee vom „Kindermörder Israel“, welches seit dem 7. Oktober 2023 auch zunehmend auf deutschen Straßen und vor Universitäten zu hören ist. Dabei ist das Beklagen solch einer Tat, wie sie auf dem erwähnten Foto zu sehen zu sein scheint, nicht das Problem. Das Problem ist das systematische Ignorieren des blutigen Überfalls der Hamas, bei dem am 7. Oktober weit über 1000 Menschen in Israel getötet, verstümmelt und vergewaltigt wurden, darunter viele Kinder und sogar The Cassandra ComplexSäuglinge. Der folgende Song „We Defend Ourselves“ mit den Textzeilen

„Pregnant woman in a burqa
On her way to the bazaar
Two shots hit her from a distance
Hope they’ll take down the resistance
Your uniform makes you so brave
But we’ll no longer be your slaves“

verdeutlichte seine Sicht der Dinge noch um einiges mehr.

Mich macht es wütend, dass ein Intellektueller wie Rodney Orpheus nicht in der Lage ist, die u. a. extrem frauenfeindliche Gewalt der klerikal-faschistischen Hamas zu sehen und zu benennen, unter der nicht nur die Israelis am 7. Oktober litten und die verschleppten Geiseln noch immer leiden, sondern ebenso die eigene palästinensische Zivilbevölkerung. Eine legitime Kritik am Vorgehen des The Cassandra Complexisraelischen Militärs in Gaza sollte möglich sein, ohne antisemitische Klischees zu verwenden. Orpheus‘ durch den Folgesong „In The Dead Of Night“ formulierte Abscheu vor dem Ku-Klux-Klan wirkte, zumindest für mich, deswegen wenig nachhaltig.

Hätte ich mich nicht verpflichtet über dieses Konzert zu berichten, wäre ich nach dieser Szene gegangen und hätte einiges verpasst. Zum Beispiel das „Frankie Teardrop“-Cover, welches am Ende der zweistündigen Show genauso inbrünstig vorgetragen wurde wie am Ende von „Sex & Death“. Oder ein wie immer fulminantes „Moscow Idaho“. Aber ich denke, ich hätte das Konzert verlassen sollen. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, alle wären gegangen und hätten Orpheus und Dillon alleine im Kellerclub an der Konsti gelassen.

The Cassandra Complex

Für mich war das wahrscheinlich die letzte Begegnung mit THE CASSANDRA COMPLEX, was ein bisschen schade ist bei unserer „gemeinsamen“ Geschichte. Nur, dass die meisten Anwesenden anscheinend gar kein Problem mit der Attitüde dieser Künstler gehabt zu haben schienen, lässt mich noch ein wenig mehr verzweifeln.

Links: http://cassandracomplex.co.uk/, https://www.facebook.com/thecassandracomplex/, https://thecassandracomplex.bandcamp.com/, https://www.instagram.com/rodneyorpheus/, https://www.last.fm/de/music/The+Cassandra+Complex

Text & Fotos (8): Micha
Fotos (12): Kai

Alle Bilder:

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Kommentare deaktiviert für THE CASSANDRA COMPLEX

Filed under 2024, Konzerte

Comments are closed.